W&F 2000/1

Für ein ziviles Europa

von Johannes M. Becker

Während des akuten Bombens im laufenden Jugoslawienkrieg erhielt der französische Kommandant eines Flughafens an der albanischen Grenze von einem US-amerikanischen Kollegen ein Fax mit etwa folgendem militärischen Wortlaut: „Ankomme mit Apache-Helikoptern Montag 20.15 Uhr. Flughafen ist zu räumen.“
Der französische Kommandant gab seinem Stab zum einen zu bedenken, dass der Räumungsbefehl zu kurzfristig sei. Zum anderen fand er, und auch hier stimmten ihm seine Offiziere zu, den Ton seines US-Kollegen wenig kollegial. (Schließlich bleibe nicht unerwähnt, dass die Übergabe während der Zeit des Dinners stattfinden sollte…).
Nun. Die US-amerikanischen Truppen kamen am Montag um 20.15 Uhr. Sie bauten ihre Helikopter zusammen und ließen sie kurze Zeit später über den Gefechtszelten (ein moderner Krieg wird wesentlich von Zelten aus geführt) der französischen Flughafenkommandantur fliegen. Die Folgen waren desaströs. Demütigungen unter Bündnispartnern zeugen nicht von guter Politik.

Vielfältig waren und sind die Kränkungen der westeuropäischen NATO-Partner der USA im Jugoslawienkrieg durch die dominierende nordamerikanische Militärmacht. Das begann mit der erpresserischen Politik der Clinton/Albright-Administration um die Verhandlungen von Rambouillet, das fand seine Fortsetzung in der von der US-Technologie abhängigen NATO-Informationspolitik während der akuten Kampfhandlungen selbst, das betraf letztlich die gesamte Anlage des Krieges: Das französische Verteidigungsministerium analysierte Mitte November 1999, dass die USA über weite Bereiche hin einen neben dem der NATO eigenen, US-amerikanischen, parallelen Krieg geführt hätten. US-Präsident Clinton indes drückte sich klar aus, als er anlässlich des 10. Jahrestages des Falls der Berliner Mauer sagte: „Wir müssen den Willen beibehalten, die Führung zu übernehmen.“ (FR v. 10.11.99)

Konkret werden vornehmlich zwei Dinge seit dem Ende des Bombardements gegen Jugoslawien in den westeuropäischen Hauptstädten diskutiert:

  1. Zum einen die militärische Abhängigkeit der europäischen NATO-Partner von den USA – hier in erster Linie in den essenziellen Fragen der Verlagerung von Truppen und Material sowie die Informationspolitik betreffend.
  2. Zum anderen die politische Lage mit unübersehbar divergierenden sicherheitspolitischen Interessen der westeuropäischen Regierungen, denen eine US-Regierung gegenüberstand, die in ihrem Vorgehen offensichtlich von wenig Zweifeln geplagt war.

Nun haben sich – gleichsam als Konsequenz aus der aufgezeigten Kalamität – die EU-Aussen- und -Verteidigungsminister daran gemacht, die Militarisierung Europas voranzutreiben. »Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik« (GASP) heißt das Zauberwort. Das Treffen der Aussen- und Verteidigungsminister der WEU (Westeuropäischen Union) Ende November 1999 in Luxemburg legte fest, dass die Organisation deren Statut „kollektive Selbstverteidigung mit gegenseitiger Beistandspflicht“ vorsieht, die derzeit aber weder über integrierte Truppen, noch über eine militärische Organisation verfügt, gerade in diesen beiden Punkten tätig werden müsse. Zwischen 50.000 und 100.000 Soldaten will man nun operationabel, d.h. schnell einsetzbar machen, 300 bis 500 Flugzeuge (davon etwa die Hälfte Kampf-Jets) und 15 große Kampfschiffe sollen von den beteiligten Nationen zur Verfügung gestellt und zu einer homogenen Truppe zusammengefasst werden.

Insbesondere die Minister Frankreichs und Deutschlands, Richard und Scharping, favorisierten in Luxemburg eine zentrale Rolle des bereits bestehenden Eurokorps (bestehend aus ca. 55.000 Soldaten Deutschlands, Frankreichs, Spaniens, Belgiens und Luxemburgs). Eine alternative bereits bestehende Truppe würde die EUROFOR-Truppe mit Kräften aus Spanien, Frankreich, Italien und Portugal darstellen; auch die ca. 55.000 Soldaten des deutsch-niederländischen Korps sind als Nukleus einer »schnellen europäischen Eingreiftruppe« denkbar. Es geht hier nicht um die Aufstellung neuer Truppen: Die Herstellung der raschen Einsetzbarkeit und der operativen Koordination bereits bestehender Truppen ist das Ziel der herrschenden Politik.

Einige Hindernisse stellen sich den GASP-Planern bei einer reibungslosen Ausrüstung der EU mit militärischen Mitteln noch in den Weg. Hier seien nur die wichtigsten genannt:

  • Nach wie vor besteht keine Einigkeit innerhalb der EU-Staaten über die grundsätzliche militärpolitische Logik, der die GASP folgen soll: Unabhängig von den Luxemburger Absichtserklärungen stehen sich unverändert die Interessen vor allem der BRD und Großbritanniens nach einer »Europäisierung« der NATO, d.h. einem Fortbestehen eines starken US-Einflusses auf Westeuropas sicherheitspolitische Identität, und vor allem Frankreichs Wunsch nach weitgehend eigenständigen Euro-Strukturen gegenüber – hier böte sich die von den USA unabhängige WEU mit den unterstellten Truppen des Eurokorps in der Tat am ehesten an. Frankreichs Position wird derzeit gestärkt von Italien und Griechenland – beides Anrainerstaaten des Jugoslawienkrieges mit direkten Erfahrungen bei den eingangs geschilderten Kalamitäten für die EU-Staaten.
  • Gänzlich unklar ist bei der Projektion GASP die zukünftige Rolle der britischen und französischen Atomwaffen, hinzu kommt die Rolle von Frankreichs beträchtlichen Überseebesitzungen und Kolonien (Neukaledonien, Französisch-Polynesien, Gouadeloupe, Martinique, Französisch Guayana, um nur einige zu nennen). Derzeit dürfte sich in beiden Ländern keine politische Mehrheit finden, die Nuklearwaffen bzw. erdumspannende militärische Präsenz ohne wesentliche Gegenleistungen (nur denkbar betreffend politischen Einfluss) der übrigen EU-Staaten in die GASP einzubringen.
  • Zum Dritten sind da unter den 15 EU-Staaten mit Irland, Finnland, Schweden und Österreich vier neutrale Länder, die sich (nehmen wir nur einmal die 1.200 Kilometer lange gemeinsame Grenze Finnlands mit Russland oder die Animositäten Irlands gegen Großbritannien) eine Aufgabe dieses Sonderstatus lange überlegen werden. In Österreich sind die Stimmen, die eine Aufnahme in die NATO verlangten, nach dem März 1999 gänzlich in die Defensive gedrängt. Der NATO-Krieg »vor der eigenen Haustür« mit den bekannten »Kollateralschäden«, den neuen Flüchtlingsströmen, der Destabilisierung des Verhältnisses zu vielen Nachbarstaaten ganz allgemein hat das politische Klima rapide verändert.

Da aber die EU in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik bereits das ehedem geltende Prinzip der Einstimmigkeit (unanimité) durchbrochen hat, um zögernden Mitgliedsstaaten in Einzelfragen eine gewisse »Gesichtswahrung« zu ermöglichen, ist nicht unwahrscheinlich, dass die neugeschaffene Organisations-Struktur unter »Mister GASP« Javier Solana, ehemals NATO-Generalsekretär (was im übrigen nicht gerade für eine große perspektivische Unabhängigkeit der Euro-Strukturen der Sicherheitspolitik spricht), diese Widerstände überbrückt.

So weit die Überlegungen der herrschenden politischen Klasse der EU-Länder und einige Hindernisse auf dem Weg zu einer reibungslosen Militarisierung der Europäischen Union. Wie könnte – auf der anderen, dem Frieden zugewandten Seite – eine entspannungsorientierte Politik aussehen, die den Anforderungen der Zukunft nahe kommt? Zunächst möchte ich zwei Ideen kritisch aufgreifen, die im aktuellen politischen Diskurs immer wieder eine Rolle spielen.

  • Da ist zunächst der Hinweis auf die Tatsache, dass von den 15 EU-Staaten derzeit 13 von der politischen Linken entweder regiert, zumindest aber mitregiert werden. Und meine DiskussionspartnerInnen fragen sich immer wieder irritiert, warum denn aus diesem Umstand nicht eine andere Politik als die in Jugoslawien zu konstatierende resultierte. Lassen wir die rosa-grüne Sonderproblematik der Bundesrepublik einmal außen vor, so muss zur Kenntnis genommen werden, dass in derzeit sozialdemokratisch bzw. sozialistisch regierten Staaten wie Frankreich oder Großbritannien die militärische Kultur traditionell interventionistisch geprägt ist. Selbst die Kommunistische Partei Frankreichs (KPF) bspw. fand in den vergangenen Auseinandersetzungen nicht den Mut, die Koalition der »pluralistischen Linken« infrage zu stellen; erst beim Eintritt Frankreichs in einen Bodenkrieg gegen die Republik Jugoslawien (ehedem ein enger Bündnispartner Frankreichs) wollte man die Koalitionsfrage stellen! Schließlich: Wenn die sozialdemokratisch regierten westeuropäischen Staaten ein Interesse an einer alternativen Regelung gehabt hätten, hätten sie Zeit und Gelegenheiten genug gehabt, die Eskalierungslogik der USA innerhalb der NATO zu durchkreuzen. Offenbar war dies nicht der Fall. Auch die »links« regierten EU-Staaten folgten der NATO-Politik der »Verteidigung der Menschenrechte«, der Bestrafung des »neuen Hitlers Milosevic«, der Verfolgung des »Genozids« am kosovarischen Volk. Insbesondere die rosa-grüne Regierung nutzte im Übrigen den Krieg dazu, eine sicherheitspolitische »Normalität«, d.h. das vielbeschworene »Ende der Nachkriegszeit«, einzuklagen und herzustellen, versuchte dabei gar in perfider Weise unter Hinweis auf die deutsche historische Schuld (»Auschwitz«) eine Notwendigkeit militärischer Intervention herbei zu argumentieren.
  • Zum Zweiten setzt ein Großteil der sozialdemokratischen politischen Klasse der EU-Länder auf die Hoffnung, durch den Aufbau einer Gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU könne man die derzeit die Welt unilateral beherrschenden USA eindämmen, gleichsam den politischen Zustand der Zeit des Kalten Krieges mit der Blockkonfrontation zwischen NATO und WVO (Warschauer Vertrags-Organisation) rekonstruieren – einen Zustand, der in Westeuropa bekanntlich immerhin über ein halbes Jahrhundert die Waffen hat schweigen lassen. Hierzu ist anzumerken, dass es sich bei USA und EU/GASP lediglich um – ideologisch im gleichen Boot befindliche – konkurrierende Militärmächte handelt, die beide der selben politischen und ökonomischen, der kapitalistischen Logik folgen. Es bestünde also die Gefahr, dass es zwischen den USA und der EU lediglich um eine Zementierung der derzeitigen bzw. um eine Neuaufteilung der weltpolitischen Einflüsse gehen würde (Denkt man an das regelmäßige Bombardieren der USA im Nordirak oder an deren Versuche, Frankreich in Afrika Terrain abzuwerben, werden heute bereits mögliche Konfliktherde zwischen den beiden dominanten Militärmächten der Zukunft deutlich.)

Kann denn Europa, kann die EU gänzlich ohne ein sicherheitspolitisches Instrumentarium Politik betreiben? Wie könnte und sollte ein ziviles Europa aussehen? Die EU sollte auf den Aufbau eigenständiger militärischer Instrumentarien verzichten und sollte die bestehenden wie das Eurokorps (oder auch die Deutsch-Französische Brigade) abbauen. Einzig die OSZE in der bekanntlich über die 15 EU-Staaten, d.h. über Wirtschafts- und politische Blöcke hinaus alle derzeit 55 Staaten Europas vertreten sind und deren Politik-Grundanlage nicht-militärisch angelegt ist scheint geeignet, ohne imperialistische, d.h. politische wie ökonomische Interessen im Hintergrund auch sicherheitspolitische Funktionen zu übernehmen. Grundsätzlich freilich gilt für die (im Weltmaßstab) reiche EU, eine neue, andere Logik in die Konfliktbewältigung einzuführen: eine Logik der Konfliktprävention und der nichtmilitärischen Lösung einmal entstandener Konflikte. Hierzu sind Forschungsinstitutionen zu gründen bzw. bereits bestehende besser auszurüsten (wobei man darauf achten sollte, dass anders als derzeit in Berlin praktiziert, Gelder für einschlägige Projekte nicht in die Hände ehemaliger Offiziere gegeben werden). NGOs, die bereits seit Jahrzehnten mit Modellen der Konfliktprävention u.v.m. befasst sind, sind zu stärken und zu fördern.

Im Wissen darum, dass das Gros der militärischen Konflikte erdweit auf Verteilungsungerechtigkeit beruht, d.h. auf der ungleichen und ungerechten Verteilung von Reichtum und Armut auf der Erde (ökologische Problemlagen kommen als Konfliktursachen in zunehmendem Maße hinzu), sollte die EU an die schrittweise Beseitigung dieser Ungleichheiten herangehen, anstatt wie alltäglich praktiziert die »Terms of trade« für die ärmeren Länder der Erde immer noch ungünstiger zu gestalten. Mit einer derartigen Politikanlage würde die EU auch rasch weltpolitisch an Einfluss gewinnen.

Die Grenze zur »Dritten Welt«, d.h. die Grenze zwischen Arm und Reich, ist nicht mehr so weit von »Euro-Land« entfernt wie noch vor einem Jahrzehnt: Sie liegt heute nicht mehr jenseits des Mittelmeers oder des Atlantik, sondern sozialpolitisch gesehen an der Oder. Bedenkenswert indes, wie der Einfluss der OSZE, früher KSZE, eben nach dem Fall der Mauer zurückgegangen ist. Offenbar hat die Organisation mit dem erfolgreichen Einklagen der sogenannten »bürgerlichen Menschenrechte« (Meinungs-, Presse-, Reisefreiheit etc.) ihre Schuldigkeit getan. Nun aber muss im Sinne eines sozialen und gerechten Europas auch die Realisierung der sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechte wie des Rechts auf Arbeit, auf Wohnung, auf Bildung und Gesundheitsversorgung auf der europäischen Tagesordnung stehen.

Bei der Verfolgung einer neuen Politiklogik könnte die OSZE bei einem der derzeit flagrantesten Konflikte beginnen: Die Bundesrepublik Jugoslawien ist seit dem Juli 1992 von ihrer Mitgliedschaft suspendiert. Sie gehört rasch reintegriert und an den Verhandlungstisch der OSZE, nicht an den »Verhandlungs«-Tisch einer erpresserischen interventionsbereiten NATO à la Rambouillet. Das wäre der Weg zu einem zivilen Europa!

PD Dr. Johannes M. Becker ist Mitbegründer der Marburger Interdisziplinären Arbeitsgruppe Friedens- und Abrüstungsforschung (IAFA) und lehrt Politikwissenschaften an der dortigen Philipps-Universität

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2000/1 Der schwierige Weg zum Frieden, Seite