W&F 2025/1

Für kritische Friedensforschung

Die »Wannsee-Erklärung« erneut gelesen

Vor etwas mehr als 50 Jahren wurde auf der Tagung »Zum Stand kritischer Friedensforschung« eine gemeinsame Erklärung der dort versammelten Wissenschaftler*innen verabschiedet – die sogenannte »Wannsee-Erklärung«. Dies geschah aus dem Bedürfnis und der Notwendigkeit heraus, ein neu entstehendes Forschungsfeld selbstbewusst zu umreißen und zu positionieren. Ein Jahr später wurde die programmatische Erklärung im wegweisenden Band »Kritische Friedensforschung« veröffentlicht. Insbesondere Michael Berndt setzte sich zuletzt dafür ein, sie nicht nur weiter im disziplinären Gedächtnis zu behalten, sondern sie für den wissenschaftlichen Umgang mit aktuellen Herausforderungen zu mobilisieren. Für ihn und mit ihm gehen wir den Fragen nach: Welche Impulse können wir für den Auftrag einer heutigen kritischen Friedensforschung daraus mitnehmen? Welche Leerstellen müssten behoben werden? Was vermag noch heute zu inspirieren, was wirkt überholt? Ein Sonderschwerpunkt in und für turbulente Zeiten.
In Erinnerung an Michael Berndt.

Michael Berndt, die Wannsee-Erklärung und die kritische Friedensforschung

von Sabine Jaberg und David Scheuing

Back to the roots! Ein aktualisierter Rückgriff auf Ansprüche und Ansätze der kritischen Friedensforschung aus den 1970er Jahren eröffnet neue Perspektiven«, davon zeigte sich Michael Berndt stets überzeugt (Berndt 2023). Zu diesem Fundus zählte er auch die sogenannte Wannsee-Erklärung der Kritischen Friedensforschung, für deren Neurezeption er sich immer wieder einsetzte – zuletzt bei einer Sitzung, die der Arbeitskreis »Herrschaftskritische Friedensforschung« der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK) kurz vor seinem Tod im Juli des letzten Jahres durchführte.1

Wo lag für Michael Berndt die Bedeutung dieser Erklärung? Offenkundig fand er hier ein Gesamtprofil von Friedensforschung umrissen, das er in den letzten Jahren bei einem Großteil der Disziplin vermisste: So erblickte er in den jüngsten friedenswissenschaftlichen Plädoyers für die Unterstützung bestimmter Verteidigungskriege (wie jenen der Ukraine gegen Russland) einen Rückschritt in eine „traditionelle[.] Friedensforschung“, der die kritische Friedensforschung ursprünglich „eine emanzipatorische Perspektive entgegenzusetzen“ trachtete (Berndt 2023). Eine solche Perspektive brauche es auch heute, „um sich aktuellen Entwicklungen stellen zu können, ohne vor ihnen zu kapitulieren“, andernfalls drohe Friedensforschung „wieder zur ggf. gewaltlegitimierenden Befriedungsforschung zu werden“ (Berndt 2023).

In der Wannsee-Erklärung fügten sich für Michael Berndt vier Charakteristika zu einem attraktiven disziplinären Gesamtprofil: Dazu zählte er erstens die dortige Definition der Friedensforschung als Wissenschaft, die eben nicht „eine am Status quo orientierte Befriedungsforschung“ sein, sondern „emanzipatorische Lernprozesse in Gang […] setzen“ wolle (Berndt 2023). Zweitens betonte er das in der Erklärung formulierte Selbstverständnis kritischer Friedensforscher*innen als „wissenschaftliche Parteigänger […] von Ausgebeuteten, von sozial Diskriminierten und von unmittelbar in ihrer physischen Existenz Bedrohten“ (Berndt 2023). Drittens verwies er auf den thematischen Fokus des Dokuments, nämlich die „Forschung über Ursachen und Bedingungen von Gewaltanwendung“ mit dem Ziel der Verminderung organisierter Gewaltpotentiale“ (Berndt 2023). Und viertens hob er die in der Erklärung erwähnten Methoden nicht nur der „Ideologiekritik“, sondern auch und insbesondere der „Kritik politischer Ökonomie“ hervor, welche er übrigens sogar in der Praxis kritischer Friedensforschung im Nachgang zur Erklärung „seltsam unterbelichtet“ wähnte (Berndt 2023).

So sehr Michael Berndt für eine Rekapitulation der Wannsee-Erklärung plädierte, wusste er doch um deren Ergänzungsbedürftigkeit durch aktuelle Ansätze. Dieses Erfordernis ergab sich für ihn nicht zuletzt aus einer späten Einsicht Ekkehart Krippendorffs, dessen Schriften Michael Berndt intensiv studiert hatte (Berndt 2021). Ursprünglich erblickte der frühe Pionier einer polit-ökonomisch unterfütterten Friedensforschung die Aufgabe der Disziplin auch darin, emanzipatorische Gewalt zu legitimieren. Erfahrungen mit fast allen erfolgreichen Befreiungsbewegungen hätten ihn nach eigenem Bekunden aber eines Besseren belehrt „‚Kein guter Zweck wird‘“ – so der zitierte Krippendorff – „‚durch die schlechten Mittel (Gewalt, Krieg) geheiligt, er wird vielmehr deren erstes Opfer‘“ (Berndt und Mühlbauer 2024, S. 8). Konsequent plädierte Michael Berndt für einen Frieden, den er ähnlich wie Johan Galtung sowohl als Abwesenheit physischer wie struktureller Gewalt“ begriff – und zwar „ohne die eine gegen die andere auszuspielen“ (Berndt 2024). Die Beendigung struktureller Gewalt durch personale Gewalt schied für ihn also ebenso aus wie die Akzeptanz struktureller Gewalt zur Unterdrückung personaler Gewalt.

Laut Michael Berndt müsste für Friedensforschung also Gewalt- und Herrschaftskritik im Zentrum stehen […] – und zwar jeder Gewalt und jeder Herrschaft!“ (Berndt und Mühlbauer 2024, S. 8; eigene Herv.). Zwar blieben „Herrschaftskritik und die Unterstützung der Underdogs […] weiter zentral“, aber Friedensforschung dürfe sich nicht „zum Büttel jeglicher Opposition von unten“ machen (Berndt 2024; eigene Herv.). Mündlich bekräftigte er in der bereits erwähnten Arbeitskreis-Sitzung: „Keine Herrschaft, keine Gewalt (auch nicht die der Marginalisierten) steht außerhalb der Kritik“. Damit reagierte er offenkundig auf den Sachverhalt, dass auch in Bewegungen, die eine jeweils bestimmte Herrschaft abschütteln wollen, kritikwürdige oder gar kritikpflichtige Gewaltausübung und Herrschaftsansprüche zumindest angelegt sein können, wie das aktuelle Beispiel der Hamas in besonders drastischer Weise belegt.

Diese Einsicht impliziert nolens volens Auswirkungen auf das Selbstverständnis der Disziplin. Diese dürfte eben nicht – wie teilweise in der dekolonialen Forschung in Anlehnung an Boaventura de Sousa Santos gefordert – bloß wissenschaftliche Nachhut sein, welche Positionen und Methoden der bislang Unterdrückten gleichsam unbesehen zu übernehmen bzw. zu rechtfertigen hätte. Vielmehr bliebe die Disziplin zur eigenen Urteilsbildung aufgefordert. In der Konsequenz müsste Friedensforschung immer und überall ganz genau hinschauen, um herauszufinden, ob und inwieweit der angestrebte Frieden sich in den entsprechenden Bewegungen spiegelt oder dort konterkariert wird.

Mit dem in der Dimension des Strukturellen erkennbaren Fokus auf »Gesellschaftsveränderung« verortet Michael Berndt die Friedensforschung ausdrücklich in der Tradition Max Horkheimers, demzufolge es kritischer Theorie um die „‚Idee einer künftigen Gesellschaft als Gemeinschaft freier Menschen‘“ gegangen sei, zumindest so weit, „‚wie sie bei den vorhandenen technischen Mitteln möglich ist‘“ (Berndt 2024). Zudem fand er in seiner wissenschaftlichen Praxis Anschluss an eine andere prägende Denkfigur der sogenannten Frankfurter Schule, nämlich jene des herrschaftsfreien Diskurses. Michael Berndt mag für seine Vorstellung kritischer Friedensforschung noch so engagiert geworben haben: Nie begriff er seine Position als der Weisheit letzter Schluss. Vielmehr schwang bei ihm stets eine Frage an andere mit: „Wie seht Ihr das?“ Und er war neugierig auf die Antworten. Gleichsam als Fortsetzung dieses – durch seinen Tod abrupt beendeten – Dialogs haben wir eine Reihe von Friedensforscher*innen gebeten, sich in seinem Sinne mit ausgewählten Aspekten der Erklärung auseinanderzusetzen und ihre Re-Lektüre mit uns zu teilen. Michael Berndt hätte sich darüber gefreut.

Anmerkung

1) Wir danken Sonja und Clara Miel sehr für die Zusendung unveröffentlichter Manuskripte aus dem Nachlass von Michael Berndt.

Literatur

Berndt, M. (2021): Der polit-ökonomische Ansatz der Kritischen Friedensforschung von Ekkehart Krippendorff. Die Friedens-Warte 94(1-2), S. 30-44.

Berndt, M. (2023): Back to the roots! Ein aktualisierter Rückgriff auf Ansprüche und Ansätze der kritischen Friedensforschung aus den 1970er Jahre eröffnet neue Perspektiven. Blogbeitrag, CPD Policy Blog, 26.6.2023.

Berndt, M. (2024): AKHerrKrit 3.7. Input Wannsee-Erklärung (unv. Ms.).

Berndt, M.; Mühlbauer, J. (2024): Frieden durch Gewalt!? Konturen einer Disziplin in Zeiten von Krise und Krieg. Forum Wissenschaft 41(1), S. 4-8.

Sabine Jaberg ist Ko-Sprecherin des AK Herrschaftskritische Friedensforschung bei der AFK sowie Mitglied der AG Friedenslogik bei der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung (PZKB).
David Scheuing ist verantwortender Redakteur von W&F.

Erklärung zur Friedensforschung

Werdegang der kritischen Friedensforschung

Die Friedensforschung in der BRD hat, noch bevor sie ihr Selbstverständnis ausformuliert hatte, die offizielle Förderung des Staatsoberhauptes und der Regierung erfahren. Einerseits erwartet der Bundespräsident von ihr »Wege zu neuen Ordnungen und neuen Gewohnheiten, neuen Spielregeln und neuen Verhaltensweisen«, und andererseits versucht der Verteidigungsminister, sie auf die traditionellen strategischen Studien festzulegen.

In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg sah die Friedensforschung ihre vornehmliche Aufgabe darin, die Folgen eines Dritten Weltkrieges und insbesondere des Einsatzes nuklearer Waffen darzustellen sowie Wege zum Abbau internationaler Spannungen und zur Steuerung offener Krisen zu finden.

Unter dem Eindruck der steigenden sozialen Kosten wechselseitiger Abschreckungspolitik, der sich verschärfenden Konfrontation zwischen »unterentwickelten« und »entwickelten« Ländern und der Eskalation sozialer Konflikte in Industrienationen bildete sich in der Friedensforschung bald eine kritische Richtung heraus, die die Harmonie- , Symmetrie- und Neutralitätsprämissen der Konfliktkon­troll-Forschung genauso in Frage zu stellen begann wie deren Hoffnung auf eine Selbstverwandlung von crisis management in eine positive Friedensstrategie. Von politischen Erfahrungen in den vergangenen Jahren bestärkt, erkannte diese Kritik die zentrale Bedeutung von sozio-ökonomischen Konfliktfaktoren für eine politisch relevante Friedensforschung.

Kritische Friedensforscher lehnen eine am Status quo orientierte Befriedungsforschung ab. Indem sie helfen, politische Apathie zu überwinden, die Fixierung auf Freund-Feind-Bilder abzubauen sowie verdeckte oder ideologisch verschleierte gesellschaftliche Konflikte bewußt zu machen, tragen sie dazu bei, emanzipatorische Lernprozesse in Gang zu setzen und eine nicht manipulierbare, politisch handlungsfähige Öffentlichkeit herzustellen.

Kritische Friedensforscher begreifen sich als wissenschaftliche Parteigänger von Menschen, die durch die ungleiche Verteilung sozialer und ökonomischer Lebenschancen in und zwischen Nationen (d.h. durch strukturelle Gewalt) betroffen sind: von Ausgebeuteten, von sozial Diskriminierten und von unmittelbar in ihrer physischen Existenz Bedrohten.

Erkenntnisinteresse

Friedensforschung ist Forschung über Ursachen und Bedingungen von Gewaltanwendung. Sie fragt nach den Möglichkeiten und Grenzen friedfertigen Konfliktverhaltens. Ihre Forschungsstrategie, die die strukturelle Dimension kollektiver Gewalt berücksichtigen muß, ist auf die Verminderung organisierter Gewaltpotentiale sowie kollektiver und individueller Gewaltanwendung gerichtet.

In der Diskussion über geeignete Methoden zur Überwindung von Gewaltsituationen wurde in der kritischen Friedensforschung eine grundsätzliche Problematik sichtbar. Eine Konzeption geht von der Hypothese aus, daß sich personale und strukturelle Gewalt überwinden läßt, indem durch gewaltfreie Aktionen Macht von unten entwickelt wird. Die andere Konzeption lehnt eine instrumentell verstandene Gegengewalt nicht grundsätzlich ab; sie geht von der Hypothese aus, dass unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen politische Systeme es sozial diskriminierten Gruppen unmöglich machen, anders als in gewaltsamer Selbstäußerung ihre Interessen zu artikulieren und politisch durchzusetzen.

Kriterien für Forschungsprogramme

Zu den vorrangigen Forschungsaufgaben der kommenden Jahre gehört die Analyse von Rüstungsdynamik, von Imperialismus und von Aggressionspotentialen auf Grund systemspezifischer Arbeits- und Sozialisationsbedingungen sowie die Entwicklung von Praxeologien. Zu diesen wären vor allem praktische Handlungsprogramme zu zählen, die systemüberwindende Lernprozesse, gleichviel auf welchen Ebenen, in Gang setzen sollen. Der politischen Bildungsarbeit und dem Lernen in politischer Aktion kommt hier eine besondere Bedeutung zu.

Für den Erfolg solcher analytischen und praxeologischen Forschungsprogramme ist entscheidend, daß die genannten zentralen Problembereiche mit Hilfe von Ideologiekritik und Kritik politischer Ökonomie analysiert werden und daß hieran anschließend langfristige Handlungskonzepte entwickelt werden, die ihrerseits in kurzfristige, auch auf spezifisch tagespolitische Erfordernisse abzielende Handlungsprogramme übersetzbar sind.

Umsetzung von Ergebnissen kritischer Friedensforschung

Friedensforschung muß, um politisch relevant zu werden, einen praktischen Bezug und soziale Träger finden. Diese Aufgabe besteht vor allem darin, Forschungsstrategie und Handlungsprogramme in kontinuierlicher Vermittlung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der sie sich entfalten, zu bestimmen. Für Friedensforschung und soziale Träger ist es wichtig, Herrschaftsverhältnisse zu berücksichtigen, um gegen den Widerstand von Herrschenden praktische Programme durchsetzen zu können.

Soll verhindert werden, daß Friedensforschung als eine akademische Disziplin sich abkapselt, muß die enge Wechselwirkung zwischen Theorie und Praxis, vermittelt über gemeinsame Lernprozesse von Wissenschaft und sozialen Trägern, ständig kritisch reflektiert werden. In diesem Zusammenhang ist darauf zu bestehen, daß vor allem auch solche Projekte der Friedensforschung gefördert werden, die derartige Vermittlungsprozesse untersuchen und ihre praktische Durchführung vorantreiben.

Der Erfolg einer kritischen Friedensforschung in der BRD wird von ihrer Kooperation mit gleichartigen Ansätzen und Bewegungen im internationalen Bereich abhängen. Auf nationaler Ebene wird entscheidend sein, daß die wissenschaftsorganisatorischen Voraussetzungen für eine Schwerpunktbildung im Sinne kritischer Friedensforschung an den Universitäten – auch unter dem Gesichtspunkt der Integration des gesamten Bildungsbereiches – geschaffen werden.

(zitiert nach: Senghaas, D. (1972): Kritische Friedensforschung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 416-419)

Rückblick und Ausblick auf die Wannsee-Erklärung von 1971

von Dieter Senghaas

Als friedenspolitisch engagierte Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sich 1971 in Wannsee trafen, waren Fragen wie die folgenden zu diskutieren: Was sind die friedenspolitisch relevanten Problemlagen, die eine in Gründung und institutionellem Aufbau befindliche Friedens- und Konfliktforschung in der BRD (Westdeutschland/West Berlin) vordringlich zu erforschen haben? Wie ist diese Forschung jeweils problemorientiert spezifisch zu gestalten? Was ist auf der Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse friedenspolitisch zu tun? Welches allgemeine Verständnis von Frieden und Friedensgestaltung ergibt sich aus einer erfahrungswissenschaftlich organisierten Friedens- und Konfliktforschung? In den späten 1960er und frühen 1970er Jahren waren dies auch die Fragen, die in den im Aufbau befindlichen Forschungsinstituten jeweils vor Ort zu beantworten waren.

Die allererste Problematik: Die Welt befand sich immer noch im Ost-West-Konflikt, oft auch als Kalter Krieg zwischen USA/NATO-Staaten und der Sowjetunion/Warschauer Pakt-Staaten bezeichnet – ein ordnungspolitischer Konflikt zwischen liberal-demokratisch und autokratisch-kommunistisch organisierten Gesellschaften. Es handelte sich nicht nur um einen Konflikt auf ordnungspolitisch-ideologischer Ebene; es drohte trotz wechselseitiger nuklearer Abschreckung der Nuklearkrieg, wenn nicht unbedingt beabsichtigt-gezielt, so eventuell doch aus Versehen! MAD: »Mutually Assured Destruction« – das war die Orientierung der Abschreckungsstrategie mit der Folge einer »overkill capacity« auf beiden Seiten. Mit der Erweiterung der MAD-Strategie zur sogenannten »Counter Force«-Strategie kam es zu der Planung, in konkreten Auseinandersetzungen taktische Nuklearwaffen wie konventionelle Waffen einzusetzen – und zwar selektiv-punktuell, also »maßgeschneidert« (tailored). Das war ein weiterer Impuls für die Rüstungsdynamik. Aus Perspektive der Friedensforschung wurde eine erfahrungswissenschaftlich fundierte Kritik der Abschreckungsstrategie unerlässlich, mithin auch eine Kritik am Rüstungswettlauf, der sich auf beiden Seiten als ein »Rüstungswettlauf mit sich selbst« erwies, jeweils mit dem Ziel einer Perfektionierung der Abschreckungspotenziale gegenüber der anderen Seite. Dieses lange Zeit vernachlässigte Thema ist in den letzten Jahren in dramatischer Weise wieder relevant geworden.

Ein weiterer Problembereich zeichnete sich in den Beziehungen zwischen den Industriegesellschaften und den damals sogenannten Entwicklungsländern ab: Seit dem Kolonialismus bestand eine dramatische Asymmetrie zwischen rohstoffexportierenden Südländern und den Industriegüter exportierenden Nordländern — eine Analyse, die von lateinamerikanischen Forscher*innen seit den 1960er Jahren in der dependencia-Literatur im Detail historisch und aktuell bearbeitet wurde. Diese Forschung galt es aufzugreifen und die gängige Entwicklungspolitik (Fertigwaren gegen Rohstoffe) zu kritisieren, denn letztere verhinderte und verhindert bis heute vielerorts noch immer eine eigenständige Entwicklung der sogenannten Dritten Welt. Kritisch zu hinterfragen war die politische Dogmatik: Freihandel unter allen Umständen. Auch frühe europäische Industriestaaten hatten sich nicht gemäß dieser Dogmatik entwickelt, wie Friedrich List schon Mitte des 19. Jahrhunderts nachgewiesen hatte.

Analysebedürftig waren nicht zuletzt viele aktuelle und potentielle Konfliktlagen innerhalb der Industriegesellschaften selbst, also auch in der Bundesrepublik, um eine solide Grundlage für eine gesellschaftspolitisch angemessene und potentiell erfolgreiche Konfliktbearbeitung zu ermöglichen. Strukturelle Gewalt zu überwinden, wurde hier wie an vielen anderen Stellen der Welt als eine besondere friedenspolitische Herausforderung benannt.

Kommt der Wannsee-Erklärung noch heute eine aktuelle Relevanz zu? Kann die heutige kritische Friedensforschung etwas aus ihr lernen? Dem Dokument lag ein mehrdimensionales Friedenskonzept zugrunde: Es ging jeweils um den Schutz vor Gewalt, den Schutz der Freiheit, den Schutz vor Not und den Schutz kultureller Vielfalt – keine dieser Dimensionen ist heute ausreichend oder gar nachhaltig bearbeitet und in konkrete Friedenshandlungskonzepte überführt. Insofern verbleibt ein wesentlicher Teil der Erklärung auch heute noch relevant. Es hat zwar nicht nur analytische, sondern auch realpolitische Veränderungen gegeben, die offenkundig versuchten, Erkenntnisse der friedenswissenschaftlichen Forschung zu verankern – doch sind diese immer kleine Schritte geblieben. Eine große Stärke des Dokumentes ist die Reduktion auf die wesentlichen Fragen, ohne damit die individuellen oder standortbezogenen Spezialisierungen der Forschenden oder Forschungsinstitute zu beschneiden – damit bot die Erklärung eine Selbstorientierung, mit der Auftrag und Zielsetzung der Friedensforschung begründet werden konnten.

Was noch nicht im Fokus stand und heute längst überfällig ist: Das ist der Schutz der Natur als eine zentrale Dimension der Friedensproblematik, derzeit in allen Teilen der Welt und somit auch eine intellektuelle und auch politische Herausforderung für eine zeitgemäße Friedens- und Konfliktforschung. Hier gilt es auch von Erfahrungen des Globalen Südens zu lernen.

Dieter Senghaas ist emeritierter Professor für Friedens-, Konflikt- und Entwicklungsforschung an der Universität Bremen und Herausgeber des wegweisenden Bandes »Kritische Friedensforschung« (1972).

Worüber forschen Friedensforscher:innen?

Konsequenzen für die Kontroverse um instrumentelle Gewalt und Gewaltfreiheit

von Hanne-Margret Birckenbach

Wenn Musik der Gegenstand der Musikwissenschaft und Geschichte der Gegenstand der Geschichtswissenschaft ist, dann geht es in der Friedensforschung um Frieden. Dass man Ursachen und Bedingungen von Gewalt untersuchen muss, sofern man sie vermindern oder gar überwinden will, steht außer Frage. Aber zur Friedensforschung werden solche Untersuchungen erst, indem sie im Kontext eines Begriffs von Frieden erfolgen. Wenn in den 1970er Jahren das Nachdenken über den konstituierenden Begriff oft auf ethische und pädagogische Diskurse abgeschoben wurde und Sozialwissenschaftler:innen sich auf die Kritik von Gewalt beschränkten, so gab es dafür einen forschungsimmanenten Grund: Eine Verständigung über den Inhalt des Begriffs schien damals unmöglich. Wie Georg Picht (1978) nahmen viele Kolleg:innen an, zum Wesen des Friedens gehöre es, dass er nicht definiert werden könne, weil jeder etwas anderes damit verbinde und nur seinen eigenen Frieden meine.

Dieser Grund ist entfallen. Vor allem Johan Galtung, Ernst-Otto Czempiel, Lothar Brock und Dieter Senghaas gelang es, die theoretische Lücke zu füllen. Sie begründeten einen komplexen Friedensbegriff. Er schützt vor politischer Vereinnahmung. Er eignet sich, um die Pluralität von Friedensvorstellungen in einen Zusammenhang zu bringen. Und er ermöglicht es, Gefährdungen wie Potenziale von Frieden empirisch zu erforschen. An diese Arbeiten anknüpfend schlage ich vor, das Erkenntnisinteresse heute etwa so zu formulieren: Friedensforscher:innen erforschen, wie soziale Beziehungen entstehen und gefördert werden können, die drei Merkmale aufweisen. (1) Direkte, strukturelle und kulturelle Gewalt im Sinne vermeidbarer Schädigung von Menschen und ihrer Lebensumstände nehmen ab. (2) Problemorientierte Zusammenarbeit nimmt im und trotz Konflikt zu. (3) Gesellschafts-politische Strukturen entstehen, die gewaltvermeidendes und kooperatives Handeln erfordern und fördern. Diese Bestimmung ermöglicht es, friedenshinderliche wie friedensfördernde Wirkungszusammenhänge zu beobachten sowie Handlungsprinzipien zu erkennen, die beachtet werden müssen, wenn Frieden die Folge sein soll (vgl. Birckenbach 2023).

Vor diesem theoretischen Hintergrund erscheinen die in der Wannsee-Erklärung referierten Hypothesen über die Legitimität und Erfolgsaussichten instrumenteller Gegengewalt einerseits und gewaltfreier Aktion andererseits in neuem Licht. Denn es geht nicht um irgendwelche Wirkungszusammenhänge. Es geht um Wirkungszusammenhänge in Friedensprozessen.

Die Wannsee-Erklärung benannte eine Kontroverse über die Bewertung direkter Gewalt angesichts der von Johan Galtung eingeführten Kategorie der strukturellen Gewalt. Heute ist belegt: Gewaltfreie Aktionen sind signifikant wirksamer als gewaltsame! Dieser Befund von Erica Chenoweth und Maria J. Stephan (2011 und 2019) wird vielfach zitiert. Er besagt allerdings auch, dass Gewalt erfolgreich sein kann. Mit diesem meist übersehenen Befund scheint die Hypothese derjenigen unterfüttert, die damals für eine »revolutionäre Friedensforschung« plädierten und einen gewaltsamem Kampf gegen strukturelle Gewalt als legitim ansahen. So argumentierte Lars Dencik (1972, S. 68), dass etablierte Machthaber gewöhnlich nicht willens sind, ihre Position kampflos aufzugeben; in gewissen Situationen könne daher eine offene Konfrontation der effektivste oder gar der einzige Weg sein, um eine Befreiung von struktureller Gewalt herbeizuführen. Ähnlich wie man zur Abwendung des größeren Schadens einer Pockeninfektion eine kleinere Schädigung durch Impfung klug nutze, könne auch „revolutionäre Gewalt“ ein geeignetes Mittel für diskriminierte Gruppen sein, ihre Interessen zu artikulieren und politisch durchzusetzen.

In der Friedensforschung ist nicht weiter untersucht worden, unter welchen Bedingungen dies der Fall sein könnte. Dieter Senghaas hatte bereits 1971 auf den Denkfehler hingewiesen, wenn erwartet wird, direkte Gewalt könne unter Bedingungen des 20. Jahrhunderts noch als Mittel im politischen Kampf präzise und mit kontrollierbaren Verlusten im Kampf für die gerechte Sache eingesetzt werden. Denn die Mittel der Gewalt sowie die ihr zugeordneten Ziele entwickeln eine Eigendynamik (Senghaas 1971, S. 74ff.). Wie diese Dynamik sich in Kreisläufen struktureller, direkter und kultureller Gewalt verfestigt, ist anhand von Bürgerkriegen heute vielfach nachgewiesen. Auch aufgrund dieser Erfahrungen gilt das Prinzip der Gewaltprävention in Verbindung mit dem Prinzip der Konflikttransformation heute als unerlässlich, wenn man Frieden fördern will. Man mag also weiterhin die ursprünglichen Intentionen der französischen und der russischen Revolution, des langen Marsches unter Mao Zedong sowie der Befreiungsbewegungen in Eritrea und anderswo als progressiv bezeichnen. Was immer der Maßstab für eine solche Bewertung ist, der Begriff des Friedens ist es jedenfalls nicht. Überall hinterließen diese Kämpfe unfassbares Leid. Mitnichten wirkten sie zum Vorteil der Unterdrückten. Als Friedensstrategie scheidet revolutionäre Gewalt aus.

Dennoch hält sich nicht nur unter aufständischen Gewaltakteuren der Glaube, Gegengewalt könne sich als Mittel zum guten Zweck eignen. Auch Staaten nutzen diese archaischen Gedankenspiele, wenn sie Oppositionsbewegungen zerschlagen, auf eine ultima ratio verweisen und die Welt mit immer neuen Waffensystemen versorgen. Die Wege zur Entwirrung dieser Verknotungen von Gewalt und Gegengewalt besser zu verstehen, ist daher Aufgabe kritischer Friedensforschung heute.

Anders als die Idee der revolutionären Gewalt ist die Frage, wie soziale Gruppen mit gewaltfreien Aktionen Wirkungsmacht entfalten können, mittlerweile zu einem lebendigen Forschungsfeld geworden. Fallstudien konzentrieren sich auf Konzepte und Praktiken der sozialen Verteidigung sowie des zivilen Auf- und Widerstands. Gut dokumentiert sind zum Beispiel Vorgehensweisen und Zielveränderungen der »singenden Revolutionen« in den baltischen Staaten, der Friedensbewegung in der DDR, sowie des Widerstands gegen die Endlagerung von radioaktiven Abfällen in Gorleben. Auch konnten Wirkungsfaktoren identifiziert werden, die gewaltfreie Kampfformen stärken oder schwächen.

Diffus sind jedoch auch in diesen Forschungen die Kriterien geblieben, an denen Wirkungsmacht beurteilt wird. Friedenslogisch reicht es nicht zu prüfen, ob deklarierte Ziele erreicht werden. Denn nicht jedes auf gewaltfreie Weise erreichbare Ziel dient per se der Entwicklung von Frieden. Zu prüfen bleibt daher: Durch welche ethischen und global geltenden Normen sind Interessen von Auf- und Widerständigen legitimiert? Inwiefern kann es gewaltfreien Bewegungen gelingen, aus dem Kampfmodus der Gegnerschaft auszusteigen und kooperative Konfliktbearbeitung einzuleiten? Und wie kann gewaltfreie Interessenvertretung in politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen so verankert werden, dass das Zusammenleben von Gruppen und Staaten in einer von Mehrfachkrisen erschütterten Welt friedensfähiger wird?

Insgesamt brauchen wir viel mehr empirisch fundiertes Wissen darüber, wie legitime Interessen trotz ungleicher Machtverhältnisse friedensverträglicher und friedensfördernder erfolgreich vertreten werden können.

Literatur

Birckenbach, H. (2023): Friedenslogik verstehen. Frankfurt a.M.: Wochenschau.

Dencik, L. (1972): Plädoyer für eine revolutionäre Konfliktforschung. In: Senghaas, D. (Hrsg.): Kritische Friedensforschung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 247-270.

Picht, G. (1978): Zum Begriff des Friedens. In: Funke, M. (Hrsg.): Friedensforschung, Entscheidungshilfe gegen Gewalt. Bonn: bpb, S. 24-30.

Senghaas, D. (1971): Aggressivität und kollektive Gewalt. Stuttgart: Kohlhammer.

Hanne-Margret Birckenbach ist Professorin i.R. an der Universität Gießen und lebt in Hamburg. Sie hat das Konzept der »Friedenslogik« wesentlich vorangetrieben.

Friedensforschung für Systemveränderungen

Forschen an der Seite von Befreiungsbewegungen

von Mechthild Exo

Der schwedische Friedensforscher Herman Schmid schrieb schon 1968 im Journal of Peace Research, dass Friedensforschung „ihre Forschungsprobleme solcherart formulieren [solle], (…) dass sie für unterdrückte und ausgebeutete Gruppen und Nationen bedeutsam [seien]“ (Schmid 1968, S. 219). Das bedeute, nach Erklärungen zu suchen, wie latente Konflikte Sichtbarkeit erhalten können und „wie Konflikte bis zu dem Grad polarisiert werden könnten, an dem das derzeitige internationale System ernsthaft infrage gestellt oder zerschlagen“ werde (ebd.). Solche Theorien der Polarisierung seien wenig entwickelt, konstatierte Schmid, doch einige Revolutionstheorien kämen dem nahe.

Die Wannsee-Erklärung von 1971 argumentiert in einem ähnlichen Sinne und positioniert kritische Friedensforschung als Beitrag zur Systemüberwindung. Eine solche Friedensforschung erfordere Parteilichkeit als wissenschaftliche Haltung. Friedensforschende werden daher beschrieben als „wissenschaftliche Parteigänger von Menschen, die durch (…) strukturelle Gewalt (…) betroffen sind: von Ausgebeuteten, von sozial Diskriminierten und von unmittelbar in ihrer physischen Existenz Bedrohten“ (WE, S. 417). Ähnlich wie es Herman Schmid vertritt, wird als Aufgabe einer kritischen Friedensforschung benannt, „verdeckte oder ideologisch verschleierte gesellschaftliche Konflikte bewußt zu machen“ (ebd.). An der Seite der Unterdrückten sollte kritische Friedensforschung demnach „in einer engen Wechselwirkung“ (WE, S. 419) ihre Analysen mit systemverändernder Praxis verbinden. Dies sei die Voraussetzung, um das Ziel des erkenntnisleitenden Interesses, „an der Schaffung der gesellschaftlichen Bedingungen des Friedens mitzuarbeiten“ (WE, S. 418), zu erreichen.

Die enge Analyse-Praxis-Verbindung für Veränderungen hin zu Bedingungen für eine internationale Friedensordnung brauche „soziale Träger“ und die Zusammenarbeit „mit gleichartigen Ansätzen und Bewegungen im internationalen Bereich“ (WE, S. 419). Es werden zwar keine konkreten sozialen Akteure oder Bewegungen benannt. Doch kann davon ausgegangen werden, dass die damals nicht nur in Europa sehr starken basisgesellschaftlichen Bewegungen gegen Autoritarismus, Kapitalismus, Imperialismus und Patriarchat wie auch die antikolonialen Befreiungsbewegungen im Trikont – Afrika, Asien, Lateinamerika – gemeint sind. Diese wurden meist breit gesellschaftlich getragen und oft auch durch bewaffnet kämpfende Organisationen begleitet. Die Erklärung spricht jedenfalls die damit verbundene kontroverse Diskussion über friedenswissenschaftlich angemessene Methoden tiefgreifender Veränderungen an: Das Konzept der Entwicklung einer Macht von unten durch gewaltfreie Aktionen stand einer Haltung gegenüber, die den Einsatz instrumenteller Gegengewalt als legitim erachtete.

Für die heutige Friedensforschung wäre dieses Ideal offener, kontrovers geführter Debatten, die Vorschläge für tiefgreifende Umgestaltungen bestehender Weltverhältnisse einbeziehen, die durch soziale Bewegungen an vielen Orten global vorgebracht werden, aus meiner Sicht von höchster Bedeutung. Die zunehmende Verengung dessen, was als wissenschaftliche und praktische Probleme der Friedens- und Konfliktforschung Berechtigung und Anerkennung erfährt, wie auch die Diskreditierung von Positionierungen jenseits des politischen Mainstreams, der auf »Kriegstüchtigkeit« und militärische Lösungen setzt, sind erschreckend. Heute wie vor 54 Jahren ist die Schaffung der Voraussetzungen für gesellschaftliche Bedingungen des Friedens nicht im Rahmen bestehender Macht- und Herrschaftsverhältnisse möglich.

Verglichen mit den Texten aus 1968 und 1971 erscheint mir die Kritik kritischer Friedensforschung heute sehr gehemmt, politisch übervorsichtig und wenig weitreichend. Zwar beziehen wir uns als kritische Friedensforschende auf feministische, ökologische, dekoloniale, gelegentlich auch auf kapitalismuskritische sowie anti-etatistische Ansätze und berücksichtigen weitere Diskriminierungsverhältnisse. Anteile dieser Kritik haben sogar Eingang in den Mainstream der Friedens- und Konfliktforschung gefunden. Dennoch müssen wir uns fragen, warum unsere friedenswissenschaftliche Bearbeitung von wissenschaftlichen und praktischen Problemen der Systemveränderung, die sich als Konsequenz aus den kritischen Analysen ableitet, so schwach entwickelt ist, wir uns nicht wirksamer an die Seite jener sozialen Gruppen und Bewegungen stellen, die gegen ihre Entrechtung, Verelendung und Bombardierung sowie die Vernichtung unserer natürlichen Lebensgrundlagen kämpfen.

Dabei hat die Notwendigkeit tiefreichender Veränderung des Ordnungssystems nicht an Dringlichkeit eingebüßt. Im Gegenteil: Soziale Ungleichheit, Armut, Hunger und Verelendung eskalieren. Wachstumsideologie und Extraktivismus werden trotz Klimakatastrophen, Artensterben und der Vernichtung von Lebensräumen weiter fortgesetzt. Machtpolitische Kämpfe um globale Neuaufteilungen werden in immer größerem Ausmaß mit allen Formen von Gewalt und Kriegen geführt, begleitet von autoritären und patriarchal-misogynen Bewegungen, Regierungen und Mechanismen der Gewalt. Mehr als jedes sechste Kind weltweit – das sind 473 Millionen – leidet unter Kriegsbedingungen, ist von Tod und Verletzung bedroht und meist mangelernährt (UNICEF 2024). Gehört es weiterhin zu unserem Selbstverständnis, diese Missstände überwinden zu wollen, also unsere wissenschaftliche Arbeit konsequent in den Dienst dekolonialer, anti-patriarchaler, ökologischer, demokratisierender (Kämpfe für) Veränderungen der Welt zu stellen?

Für eine solche Rückbesinnung plädiert zumindest der Direktor des »National Centre for Peace and Conflict Studies« in Neuseeland, Richard Jackson (2015). Er empfiehlt in Anlehnung an Herman Schmid darüber zu forschen, wie Konflikte geschärft werden, um ungerechte, Gewalt erzeugende Systemstrukturen zu verändern: „Konflikt [zu führen] ist eine notwendige Voraussetzung für die Art revolutionären systemischen Wandels, den es bedarf, um strukturelle und kulturelle Gewalt zu beseitigen“ (Jackson 2015, S. 23). Dabei bietet »revolutionärer Pazifismus« für Jackson das Potential, die gewalttätige Ordnung zu einer Zukunft zu transformieren, die stärker an einem positiven Frieden orientiert und sozial gerecht gestaltet ist.

Die zentralen politisch-philosophischen Ideen etwa der zapatistischen und der kurdischen Befreiungsbewegungen könnten hier Orientierung bieten. Sie verfolgen diese Hoffnung und einen entsprechenden Einklang von Mitteln und Zielen: Logiken von Macht und Krieg werden als patriarchal und unterdrückend zurückgewiesen. Es wird danach gestrebt, diese in den eigenen Verteidigungspraktiken nicht zu reproduzieren und Friedensabkommen auszuhandeln, die einen Raum für tiefgreifende Demokratisierungen und Dezentralisierungen für regionale Selbstorganisierung absichern. Beide Bewegungen haben jeweils selbstverwaltete Gebiete und umfassende, basisdemokratische Selbstorganisationsstrukturen aufgebaut und sehen in der Staatsmachtübernahme weder Weg noch Ziel revolutionärer Kämpfe – anders als noch die Bewegungen zur Zeit der Wannsee-Erklärung.

Gleichwohl verzichten sie gegenwärtig angesichts repressiv-gewaltvoller Angriffe nicht auf den Gebrauch von Waffen, um ihre Gesellschaften und die bereits praktizierten Neuentwürfe für gemeinschaftliches Leben ohne Dominanzverhältnisse zu verteidigen. Wären kritische Friedensforschung wie auch andere Akteure nicht zu schwach, um einen politischen Raum für die gemeinsame Suche zur Neuerfindung der sozialen Ordnung zu schaffen, könnten diese Bewegungen ohne bewaffnete Selbstverteidigung auskommen. Die Erfahrungen und Konzepte der Philosophien von Befreiungsbewegungen wie der kurdischen und zapatistischen könnten bedeutend zu den gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Debatten zu Friedensordnungen beitragen. Tagespolitisch-praktisch könnte diese Expertise in diplomatische Aushandlungen eingehen, wie aktuell für die Neugestaltung Syriens und für einen Friedensprozess in der Türkei. Friedensforschung braucht also Befreiungsbewegungen heute mehr als zuvor als Verbündete, um Analyse und Praxis für Systemveränderungen voranbringen zu können.

Literatur

Jackson, R. (2015): How resistance can save peace studies. Journal of Resistance Studies 1(1), S. 18-49.

Schmid, H. (1968): Peace Research and Politics. Journal of Peace Research 5(3), S. 217-232.

UNICEF (2024): 2024 war eines der schlimmsten Jahre für Kinder in Konfliktsituationen. Pressemitteilung, 28.12.2024.

Mechthild Exo ist internationalistische, feministisch-dekoloniale Friedensforscherin und Aktivistin.

Wannsee und die Lee(h)rstelle kolonialer Gewalt

Ein kritischer Kommentar zur Abwesenheit der Kategorie kolonialer Gewalt in der Friedensforschung

von Mahdis Azarmandi und María Cárdenas

Die Wannsee-Erklärung entstand nicht nur im Kontext des Kalten Kriegs, sondern auch in einer Welt, die sich aus den Fesseln des Kolonialismus und seinen Nachwirkungen zu befreien suchte. Diese Zeit war geprägt von Befreiungsbewegungen weltweit, die sich durchaus in der Wissenschaft, wie z.B. in der Befreiungspsychologie und -soziologie, widerspiegelten. Die deutsche Friedensforschung und die Wannsee-Erklärung waren hiervon beeinflusst. Dennoch waren beide von einem eurozentrischen Bild linearer Entwicklung geprägt, welches die Kontinuität kolonialbasierter Ausbeutung weitgehend ignorierte. Diese Leerstelle verhindert bis heute eine tiefgreifendere Auseinandersetzung mit der Kolonialität und ihrer Verstrickung sowohl mit Konflikten als auch den Versuchen ihrer Überwindung. Gleichzeitig mindert die fehlende Aufarbeitung des strukturellen Kolonialismus in der Wissensproduktion bis heute das transformatorische Potenzial der (kritischen) Friedensforschung, zu dieser Überwindung beizutragen.

Eurozentrismus und der enge Blickwinkel des Friedens

Weltweit waren die 1970er Jahre geprägt durch das Bestreben, sich von dem, was damals »interner Kolonialismus« (González Casanova 1965) genannt wurde, und was wir heute als »Kolonialität« (Quijano 2007) bezeichnen, zu befreien. Während in Afrika und Asien Länder unabhängig wurden, ging es auch in Ländern Lateinamerikas, die längst formell unabhängig waren, um die Frage, wie die de facto Abhängigkeit überwunden und die verbliebenen Spuren des Kolonialismus beseitigt werden könnten. Zur gleichen Zeit der Wannsee-Erklärung kritisierte der Soziologe und UN-Sonderberichterstatter Rodolfo Stavenhagen – ein gebürtiger Frankfurter, dessen jüdische Familie vor den Nazis nach Mexiko ins Exil geflohen war – die Verstrickung der Sozialwissenschaften mit Kolonialismus und Imperialismus. Daher appellierte er dafür, die Sozialwissenschaften zu »dekolonialisieren« – eine Forderung und Analyse, die bis heute an Aktualität nichts verloren hat (Stavenhagen 1971).

Wenngleich die Wannsee-Erklärung die „ungleiche Verteilung sozialer und ökonomischer Lebenschancen in und zwischen Nationen“ anprangerte, und verlangte, dass sich die kritische Friedensforschung in den Dienst der „Ausgebeuteten, von sozial Diskriminierten und von unmittelbar in ihrer physischen Existenz Bedrohten“ stellt, so fand die Verstrickung der Friedensforschung selbst mit den gewaltsamen Phänomenen des Imperialismus und Kolonialismus, anders als bei Stavenhagen, keine Erwähnung. Hierin spiegelt sich die eurozentrische Tendenz wider, sich selbst bei der Analyse von Gewaltphänomenen aus der Betrachtung auszuklammern, was der Philosoph Santiago Castro-Gómez als die »Hybris des Nullpunktes« bezeichnet hat (Castro-Gómez 2005).

Frieden als Abwesenheit von bewaffneter Gewalt zu verstehen und dabei die strukturelle und epistemische Gewalt zu ignorieren, die dem Kolonialismus zugrunde liegt, deutet auf eine konzeptionelle Lücke hin: Der Kolonialismus und seine Hinterlassenschaften wurden nicht in vollem Umfang als konstitutive Elemente globaler Machtstrukturen anerkannt, die Frieden unmöglich machen. Frantz Fanon theoretisierte dekoloniale Gewalt vor diesem Hintergrund als einen notwendigen Bruch, um die Bedingungen für einen gerechten Frieden schaffen zu können. Indem die Wannsee-Erklärung den Frieden als Gegensatz zur Herrschaft versteht, ohne dabei den Kolonialismus und Kolonialität als eines der beständigsten Herrschaftssysteme ausdrücklich zu benennen und anzuerkennen, versäumt sie es, die Ursachen von Gewalt in ihrer Komplexität zu verstehen und zu überwinden.

Dieser Eurozentrismus erstreckt sich auch auf das implizite Verständnis von Frieden in der Wannsee-Erklärung, hält sie doch die künstliche Trennung zwischen »innerem« und »internationalem« Frieden aufrecht, die sowohl analytisch als auch politisch kontraproduktiv ist. Diese Lee(h)rstelle macht deutlich, dass die Friedensforschung ihren konzeptionellen Horizont erweitern muss, und ruft dazu auf, einen vernetzten und dekolonialen Ansatz in der Friedensforschung zu verfolgen, der die globalen Dimensionen von Macht anerkennt und die Kämpfe marginalisierter Gruppen um Gerechtigkeit einbezieht.

Anforderungen an die Friedensforschung heute

Ungeachtet dessen ist die Wannsee-Erklärung auch fünfzig Jahre nach ihrer Verabschiedung ein wegweisendes Dokument, das die Friedensforschung dazu aufruft, Theorie und Praxis zu verbinden. Um den Geist der Erklärung zu ehren und gleichzeitig darüber hinauszuwachsen, muss die Friedensforschung ihre Schwachpunkte kritisch untersuchen und de- und antikoloniale Perspektiven einbeziehen, die die Stimmen und Erfahrungen derjenigen in den Vordergrund stellen, die historisch durch Kolonialität marginalisiert wurden. Vor diesem Hintergrund sind viele der anti- und dekolonialen Forderungen von damals auch weiterhin aktuell.

Das Fehlen der Kategorie kolonialer Gewalt zeigt die Grenzen einer eurozen­trischen Friedensforschung auf. Aus dekolonialer, antikolonialer und rassismuskritischer Perspektive geht es sowohl darum, die geopolitische Verortung von hegemonialer als auch von kritischer Friedensforschung sichtbar zu machen und zu »provinzialisieren« (Chakrabarty 2007). Bis heute bleiben diese Perspektiven jedoch weitgehend marginalisiert, obwohl bereits seit einem Jahrzehnt gefordert wird, Themen wie Rassifizierung, Ethnisierung und Kolonialität als zentrale Achsen der Gewalt in der Friedensforschung zu berücksichtigen, und die epistemischen und institutionellen Verflechtungen der Disziplin in koloniale Machtstrukturen aufzuarbeiten (Azarmandi 2016; Cárdenas 2016). Das bedeutet nicht nur, von anderen, marginalisierten, und peripheralisierten Perspektiven zu lernen und diese zu integrieren, sondern die eigene Komplizenschaft mit der multiplen Gewalt anzuerkennen. Es geht also im Sinne von Frantz Fanon um einen Wechsel des Blicks weg vom unterdrückten Subjekt hin zu den unterdrückenden Strukturen (Fanon 1952). Diese zeigen sich auch heute in der Friedensforschung in Form von epistemischer, institutioneller, diskursiver und nicht zuletzt ontologischer Gewalt.

Heute muss mehr denn je eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Verstricktheit von bewaffneter Gewalt und den multiplen Gewaltformen stattfinden, die durch Kolonialismus hervorgebracht wurden und werden, um einen dauerhaften Einsatz für Gerechtigkeit zu fördern. Die Wannsee-Erklärung heute erneut zu lesen ist eine Einladung, die Geschichte und Wirkung der deutschen Friedensforschung (selbst-)kritisch zu reflektieren und ihren Kanon durch marginalisierte Wissenshorizonte aus Deutschland und der Welt zu erweitern.

Literatur

Azarmandi, M. (2016): Colonial continuities. Peace Review 28(2), S. 158-164.

Cárdenas, M. (2016): Mainstreaming decolonialism? Zum Mehrwert einer dekolonialen FuK. W&F 1/2016, S. 20-23.

Castro-Gómez, S. (2005): Aufklärung als kolonialer Diskurs. Humanwissenschaften und kreolische Kultur in Neu Granada am Ende des 18. Jahrhunderts (Promotionsschrift). Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main.

Chakrabarty, D. (2007): Provincializing Europe: Postcolonial thought and historical difference. Princeton: Princeton University Press.

Fanon, F. (1952): Black skin, white masks. New York: Grove Press.

González Casanova, P. (1965): Internal colonialism and national development. Studies in Comparative International Development 1(4), S. 27-37.

Quijano, A. (2007): Coloniality and Modernity/Rationality. Cultural Studies 21(2-3), S. 168-178.

Stavenhagen, R. (1971): Decolonializing applied social sciences. Human Organization 30(4), S. 37-63.

Mahdis Azarmandi ist eine interdisziplinäre Wissenschaftlerin mit einem Fokus auf Friedensforschung, Antirassismus und Dekolonisierung. Sie hat einen PhD in Friedens- und Konfliktforschung und ist derzeit als Senior Lecturer an der University of Canterbury tätig.
María Cárdenas ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Goethe Universität Frankfurt. Ihre Doktorarbeit diskutiert die Leerstelle von nicht-eurozentrischem Wissen im Peacebuilding und zeigt die Relevanz von »ethnisierter« Expertise zum Verständnis von Gewalt und seiner Überwindung am Beispiel Kolumbiens auf.

Unbeliebt, unerwähnt, unerhört?

Zur gesellschaftlichen (Ir-)Relevanz einer prekarisierten (Friedens-)Wissenschaft

von Philipp Lottholz

Die Friedensforschung hat sich zweifelsohne als Forschungsfeld in den Wissenschaftsinstitutionen etabliert und entsprechende Möglichkeiten für eine langfristige, systematische und auch kritische Auseinandersetzung mit Fragen rund um Konflikt, Frieden und Gerechtigkeit geschaffen. Allerdings gilt das nur bedingt für die in der Wannsee-Erklärung gesteckte Aufgabe, „Forschungsstrategie und Handlungsprogramme in kontinuierlicher Vermittlung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit (…) zu bestimmen.“ (WE, S. 419) Betrachtet man gesellschaftliche Diskurse zu Fragen von Frieden, Konflikttransformation, Kriegen und Gewalt, so entsteht in der Tat der Eindruck, dass Friedens- und Konfliktforschung die schon in der Wannsee-Erklärung erwähnte Abkapselung als „akademische Disziplin“ (ebd.) nicht verhindern konnte – sie schlicht gesellschaftlich irrelevant ist. Dies betrifft auch die weiterhin marginalisierte kritische Friedensforschung. Den gesellschaftlichen Diskurs und die Mitbestimmung der Politik gestalten indes andere. Doch worin liegt das begründet und was kann dagegen getan werden?

Der Beitrag argumentiert, dass diese Irrelevanz und Möglichkeiten zu ihrer Überwindung sich erstens aus einer generationenspezifischen Problemlage speisen. Zweitens sind sie an einer fehlenden Auseinandersetzung der Friedens- und Konfliktforschung mit gesellschaftlichen Friedensdebatten festzumachen; und drittens an einer unzureichenden Kultur der Auseinandersetzung und Debatte innerhalb der Wissenschaft.

Zunächst zur generationenspezifischen Problemlage: Ein Ausdruck der fehlenden gesellschaftlichen Relevanz der Friedensforschung scheint zu sein, dass sich vor allem Nachwuchswissenschaftler:innen der Öffentlichkeit gegenüber nur selten als Friedensforscher:innen – geschweige denn als kritisch eingestellte – positionieren. Bezeichnungen anhand regionalwissenschaftlicher, anderer disziplinärer oder theoretischer Expertise (z.B. Nahost-Studien, Internationale Beziehungen, Feminismus) sowie der institutionellen Zugehörigkeit scheinen aktuellen gesellschaftlichen Vorstellungen von »Sprechfähigkeit« besser zu entsprechen. Diese Präsenz unter anderen »Labels« erklärt teilweise die Unsichtbarkeit (kritischer) Friedensforschung in der Öffentlichkeit.

Zudem »verliert« die Fachwissenschaft bei unzureichenden Weiterbeschäftigungskapazitäten in der Wissenschaft fortlaufend fähige Personen an den außerwissenschaftlichen Raum. Stellt dies einerseits eine mögliche Kooperationschance zwischen Wissenschaft und praktischer Friedensarbeit dar, führt es andererseits auch zu einer zahlenmäßigen Reduktion kritischer Wissenschaftler:innen. So produziert das Wissenschaftssystem eine Irrelevanz der Friedensforschung durch die eigenen Beförderungs- und Selektionsmechanismen, v.a. im Lichte der folgenden Entwicklungen.

Die zweite Tendenz der fehlenden Auseinandersetzung der Friedens- und Konfliktforschung mit gesellschaftlichen Friedensdebatten lässt sich konkret daran erkennen, dass mit wenigen Ausnahmen der »Wissenstransfer« vor allem in den Leitmedien stattfindet. Dort wird jedoch nur ein relativ enges Spektrum wissenschaftlicher Perspektiven abgebildet. Neuere Formate wie Policy-Papers und Blog-Posts ändern daran nichts wesentlich, da sie meist bildungsbürgerliche, wenn nicht wissenschaftliche Fähigkeiten und Kenntnisse voraussetzen. Auch Initiativen zur Überbrückung dieser Genregrenzen sind meist konzeptionell angelegt oder für relativ spezifische Praxisfelder gedacht, wie z.B. die Enzyklopädie »Rewriting peace and conflict« an der Universität Freiburg oder der »Fokus Frieden« Podcast der Friedensakademie Rheinland-Pfalz.1

Medienformate, die Fragen von Frieden und Konflikt in einfache Sprache übersetzen und an alltäglichen Perspektiven sowie an den Zweifeln und Gegenstandpunkten breiterer Bevölkerungsschichten ohne politische Bildung und entsprechenden Kompass anzuknüpfen versuchen, haben Exotenstatus und werden von etablierten Kolleg:innen oftmals mit Argwohn beäugt. Natürlich sind hierfür auch die in vielerlei Hinsicht problematischen Entwicklungen in der Friedensbewegung (soweit man von ihr noch im Singular sprechen kann) ein Faktor. Sich jedoch wenig bis gar nicht mit dem Spektrum von gesellschaftlichen Standpunkten auseinanderzusetzen, die Frieden und Verhandlung fordern und die signifikante Anteile in repräsentativen Bevölkerungsumfragen ausmach(t)en2, kann für die Friedens- und Konfliktforschung nicht praktikabel sein.

Das dritte Problem der fehlenden Auseinandersetzung und Debatte innerhalb der Wissenschaft offenbart sich in einer weit verbreiteten Kultur des Stillhaltens und der Konfliktvermeidung bei relativem Mangel an Räumen, Formaten und Praktiken für offenen Austausch. Anstatt etwa beim bereits angesprochenen Thema Medienarbeit gemeinsam Strategien für koordinierte und inhaltlich sowie konzeptionell ausgewogene Kommentierungen und Auftritte zu entwerfen oder gar gemeinsam Kontroversen aufzurufen oder medial auszuhandeln, wird oft eher in­stinktiv – und im guten Willen zum Dienst an der Öffentlichkeit sowie der eigenen Institution – versucht, Medienanfragen einfach so gut wie möglich individuell zu entsprechen. Dass die Konfliktanalysen und Fragestellungen der Medien einer tiefergehenden Diskussion bedürften, findet dabei selten Beachtung.

Besonders offensichtlich wurden die begrenzten Kapazitäten zur innerwissenschaftlichen Kontroverse im Kontext der Kriege in der Ukraine und in Gaza. Die fraglos existierenden Kolleg:innen, die sich auch mit ihnen unangenehmen Positionen auseinanderzusetzen bereit sind, schienen dabei eher die Ausnahme als die Mehrheit in der weiterhin meist staatstragenden Wissenschaft zu sein, auch in der Friedensforschung. Keine Frage: In Zeiten von Krieg und damit einhergehender gesellschaftlicher Polarisierung haben alle, auch die leitenden Kolleg:innen, ein Anrecht darauf, nicht auf jede Kontroverse eingehen zu müssen. Jedoch produziert die kumulative Inanspruchnahme dieses »Rechts« immer wieder Formen von Schweigen, Nicht-Äußerung und Nicht-Diskussion zu tagesaktuellen und auch fundamentaleren Problemlagen im gesellschaftlichen Diskurs. Der Raum für grundlegende Diskussionen – ganz zu schweigen von kollektiven Stellungnahmen– wird dabei allzu eng und muss immer wieder neu erkämpft werden.

Beweggründe für betont gemäßigte Außendarstellung oder Neutralität gibt es viele; nicht zuletzt angesichts der Fördergeldaffäre im BMBF schien sie für manche Projekte sogar eine potenziell existenz­erhaltende Funktion zu haben. Jedoch braucht es gerade in aktuellen Zeiten eine Kultur der Auseinandersetzung und Debatte zwischen politisch, weltanschaulich und auch geographisch-historisch bedingt kontroversen Standpunkten. Eine Vielfalt solcher Standpunkte ist nicht zuletzt aufgrund der gerne beanspruchten Internationalisierung bereits vorhanden. Eine Anerkennung und Auseinandersetzung mit diesem Meinungsspektrum würde auch die Vernetzung und Dialog einer (herrschaftskritischen) Friedensforschung mit gesellschaftlichen Standpunkten und Strömungen außerhalb der Wissenschaft und somit die 1971 anvisierte Entwicklung entsprechender „Forschungsstrategie und Handlungsprogramme“ ermöglichen.

Initiativen wie Pfeifers und Weipert-Fenners Beobachtungen zum deutschen Diskurs zum Israel-Gaza Krieg (2023), reflektierende Formate bei den AFK-Kolloquien oder auch die Kontroverse um Werner Rufs Beitrag »Die Friedensforschung und der Markt« in W&F (2023) beweisen die grundsätzliche Möglichkeit und Wichtigkeit eines solchen Unterfangens.

Anmerkungen

1) Siehe rewritingpeaceandconflict.net und podcast.de/podcast/1513467/fokus-frieden

2) Siehe z.B. Ipsos (2024): Hälfte der Deutschen gegen weitere Waffenlieferungen an die Ukraine, 13.9.2024.

Literatur

Pfeifer, H.; Weipert-Fenner, I. (2023): Israel – Gaza: Ein deutscher Kriegsdiskurs. PRIF Blog, 21.11.2023.

Ruf, W. (2023): Die Friedensforschung und der Markt. In: Albrecht, M. et al. (Hrsg.): Quo vadis, Friedensforschung? Dossier 96, W&F 1/2023, S. 3-6.

Philipp Lottholz ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter (Post-Doc) am Zentrum für Konfliktforschung, Philipps-Universität Marburg und am Sonderforschungsbereich/Transregio »Dynamiken der Sicherheit«.

Mut zum Konflikt: Fixierung auf Freund-Feind-Bilder abbauen

von Christoph Weller

Was kann denn so falsch daran sein, wachsende internationale Spannungen, eine Gesellschaft oder einen Konflikt zu befrieden? Doch die »Erklärung zur Friedensforschung« der wissenschaftlichen Tagung »Zum Stand kritischer Friedensforschung« im April 1971 formulierte ziemlich eindeutig: „Kritische Friedensforscher [und Friedensforscherinnen] lehnen eine am Status quo orientierte Befriedungsforschung ab“.1 Das ist deutlich, betrifft aber vielleicht nicht jede »Befriedungsforschung«, sondern nur jene, die sich an einem bestimmten Status quo orientiert. Dieser wurde 1971 aus Sicht der Friedensforschung dominiert vom damaligen Ost-West-Konflikt zwischen Warschauer Pakt und NATO, der damit verbundenen Rüstungsdynamik, einer kontinuierlichen beiderseitigen Aufrüstung aufgrund des Sicherheitsdilemmas, zudem von „Imperialismus“ des Nordens gegenüber dem Globalen Süden und von „Aggressionspotenzialen“ innerhalb einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung, weshalb diese drei Themen in der Erklärung als „vorrangige Forschungsaufgaben“ der Kritischen Friedensforschung benannt wurden. Dabei sollten mit den von dieser Forschung angeleiteten „systemüberwindenden Lernprozessen“ die genannten, kritisierten Strukturen auf keinen Fall stabilisiert, sondern die darin enthaltenen Gewaltverhältnisse erkennbar gemacht werden, um mit Forschung und den daraus entwickelten „Praxeologien“ relevante Beiträge zur „Verminderung organisierter Gewaltpotenziale sowie kollektiver und individueller Gewaltanwendung“ zu leisten. Auf diesem Wege wollten Kritische Friedensforscher*innen dazu beitragen, „emanzipatorische Lernprozesse in Gang zu setzen und eine nicht manipulierbare, politisch handlungsfähige Öffentlichkeit herzustellen“.

Liest man die Erklärung ein halbes Jahrhundert nach ihrer Verabschiedung als Auftragsbeschreibung für die Friedensforschung der 2020er Jahre, scheinen die Voraussetzungen für deren Umsetzung nicht einfacher geworden zu sein, als es damals der Fall war, als eine kritische Studierendenbewegung durch öffentliche Proteste die Verhältnisse merklich demokratisiert und die politische (Konflikt-)Kultur in der BRD spürbar verändert hatte. Außerdem war seit 1969 mit Willy Brandt zum ersten Mal ein sozialdemokratischer Bundeskanzler an der Macht, der gemeinsam mit dem späteren Direktor des IFSH, Egon Bahr, eine innovative Außenpolitik betrieb und jene Entspannungspolitik aufs Gleis setzte, mit der zwanzig Jahre später ein wesentlicher Teil des Status quo von 19712 – auf friedlichem Wege überwunden wurde.

Wenn wir 2025 nach einer etwas friedlicheren Zwischenphase in den 1990er Jahren in gewisser Weise wieder in eine dem Status quo von 1971 ähnliche Konstellation zurückgekehrt sind (s.o. Rüstungsdynamik, Imperialismus, innergesellschaftliche Aggressionspotenziale), können wir uns dann auch der Rezepte der damaligen Kritischen Friedensforschung bedienen? Während es in den 1970er Jahren kaum Möglichkeiten gab, an Hochschulen in Deutschland (kritische) Friedens- und Konfliktforschung zu studieren, werden in den inzwischen etablierten Studiengängen zweifellos vielfältige „emanzipatorische Lernprozesse in Gang“ gesetzt. Aber nutzen wir als Wissenschaftler*innen alle uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, auch eine „nicht manipulierbare, politisch handlungsfähige Öffentlichkeit herzustellen“? Es käme wohl einer enormen Überforderung gleich, in einer durch profitmaximierte Algorithmen strukturierten medialen Öffentlichkeit „verdeckte oder ideologisch verschleierte gesellschaftliche Konflikte bewusst zu machen“, aber in ihrem jeweils nächsten kommunikativen Umfeld könnten Kritische Friedensforscher*innen durchaus in der Lage sein, Differenzen in der Betrachtung und Deutung der Welt regelmäßig sichtbar zu machen, anzusprechen und sich um eine konstruktive Auseinandersetzung mit Anhänger*innen von Verschwörungsmythen, sogenannten „alternativen Fakten“ oder autoritären Denkrichtungen etc. zu bemühen und mithilfe ihrer entsprechenden Kompetenzen die Lasten dieser notwendigen Konfliktbearbeitung auf sich zu nehmen.

Weil sich die 2022 hierzulande ausgerufene sogenannte »Zeitenwende« jener „Fixierung auf Freund-Feind-Bilder“ bedient, die in der Friedensforschung 1971 bereits als bedeutendes Element der Eskalationsdynamik internationaler Konflikte beschrieben wurde, sind heute wieder vergrößerte Anstrengungen erforderlich, um die Schwarz-Weiß-Malerei bei der Beurteilung zwischenstaatlicher Beziehungen – und auch innenpolitischer Polarisierung – nicht mitzumachen und wo möglich abzubauen. Das ist jedoch viel leichter geschrieben als getan, denn die von der Kritischen Friedensforschung initiierte Feindbild-Forschung macht deutlich, dass die menschliche Neigung zu einfachen Weltsichten, in denen das Böse ganz klar vom Guten unterscheidbar ist – eben in Schwarz und Weiß, die anderen und wir – nicht abzuschalten ist, sondern ständig selbstkritisch kontrolliert werden sollte.

Und noch anstrengender ist es, in unseren sozialen Beziehungen Widerspruch zu artikulieren, wenn Kolleg*innen, Freund*innen, Sportkamerad*innen, Familienmitglieder oder Nachbar*innen ihre Meinung entlang solch einfacher Weltsichten äußern. Still zu bleiben, nichts zu sagen vermeidet einen Konflikt und erspart die Arbeit der Konfliktbearbeitung. Zudem begibt man sich auch nicht in die Gefahr, aufgrund einer vom Mainstream-Diskurs abweichenden – eben differenzierten, farbigen – Position zu den aktuellen Konflikten zur*m Außenseiter*in zu werden. Dazugehören kann wichtiger erscheinen als einen Beitrag dazu zu leisten, im eigenen sozialen Umfeld „die Fixierung auf Freund-Feind-Bilder abzubauen“. Andererseits wissen Friedens- und Konfliktforscher*innen auch um die integrative Wirkung sozialer Konflikte und ihrer konstruktiven Bearbeitung, die aber zweifellos nicht bei jeder Konfliktkonstellation garantiert ist.

Neben dem Mut zum Konflikt ist für den Abbau von Feindbildern auch das Handwerkszeug zum konstruktiven, deeskalativen Umgang mit Differenzen und Widerspruch gefragt, weshalb es folgerichtig erscheint, dass sich die Kritische Friedensforschung zur Friedens- und Konfliktforschung weiterentwickelt hat. Doch mit alledem lässt sich eine weit verbreitete „politische Apathie“ wahrscheinlich nicht „überwinden“, wohl aber ein kleiner Beitrag leisten gegen einseitige Gewissheiten auf allen Seiten: Wer nicht zur „Befriedungsforschung“ beitragen will, wird anhaltenden Mut zu sozialen Konflikten und Konfliktbearbeitungskompetenz benötigen, um die weiterhin erforderlichen „emanzipatorischen Lernprozesse“ nicht nur im eigenen intellektuellen System in Gang zu halten.

Anmerkungen

1) Alle Zitate in diesem Text sind der genannten Erklärung entnommen, veröffentlicht in: Senghaas, D. (Hrsg.) (1971): Kritische Friedensforschung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 416-419, insbesondere Seite 417.

2) Auf diesen Status quo wurde in der »Erklärung zur Friedensforschung« durch Verweis auf den damaligen Verteidigungsminister Helmut Schmidt Bezug genommen. Dem entsprechend ging es darum, was der damalige Verteidigungsminister wie folgt formulierte: „den Frieden durch ständiges Erneuern des Gleichgewichts zwischen möglichen Feinden zu bewahren“. Zu verstehen war dies als das sogenannte Gleichgewicht des Schreckens, bei dem die gegenseitige Vernichtungsdrohung alle Beteiligten von militärischen Maßnahmen gegeneinander abhalten sollte. Die westdeutsche Bevölkerung folgte dieser Theorieannahme der »traditionellen strategischen Studien« damals mehrheitlich.

Christoph Weller forscht u.a. zu Deutungskämpfen, Feindbildern und Konzepten der Konfliktbearbeitung, er leitet den Augsburger Teil des »Bayerischen Zentrums für Friedens- und Konfliktforschung: Deutungskämpfe im Übergang«, hat das »Transferzentrum Frieden Augsburg« initiiert und lehrt Friedens- und Konfliktforschung an der Universität Augsburg.

Friedensbildung als Beitrag zur Überwindung des Gewaltsystems

von Angela Mickley

Friedenserziehung ist mehr als ein pädagogisches Konzept – eine Grundlage für nachhaltige Friedensarbeit und gesellschaftliche Transformation. Das hatte die Wannsee-Erklärung richtig erkannt, wenn sie „der politischen Bildungsarbeit und dem Lernen in politischer Aktion […] eine besondere Bedeutung“ für „systemüberwindende Lernprozesse“ beimaß. Entgegen der auch heute noch gängigen Vorstellung, wonach der Mensch dem Menschen letztlich ein Wolf sei, bestätigt die Forschung zunehmend unsere kooperativ angelegte bio- und neurologische Ausstattung. Allein auf sie zu vertrauen reicht aber nicht. Vielmehr braucht es Friedensbildung, damit dieses Potenzial optimiert wird und auch in Stresssituationen abrufbereit zur Verfügung steht.

Wissen und Können

Frieden ist ebenso Ziel wie Prozess. Kein politisches System, keine Gesellschaft – und seien sie noch so gut aufgestellt – ist je perfekt. Um das jeweilige (personale, strukturelle und kulturelle) Gewaltpotenzial minimieren und das (personale, strukturelle und kulturelle) Friedenspotenzial immer weiter optimieren zu können, ist die Kenntnis des eigenen Systems und der Vergleich mit Alternativen unverzichtbar. Das Mosaik der in der Friedensbildung vermittelten Kenntnisse und Fähigkeiten beinhaltet unter anderem Konfliktanalyse, Wirkung emotionaler wie mentaler Eskalationsdynamik, Verhandlungsführung, empathische Kommunikation auch im Konflikt, Perspektivwechsel, kulturelle Offenheit sowie Umgang mit Vergangenheitsbelastungen. Zwar bleibt Wissen über Elemente und Wirkmechanismen positiven Friedens auf unterschiedlichen Ebenen von Staat, Gesellschaft und Individuen unverzichtbar, allein für sich genommen ist es aber unzureichend.

Denn es sind gerade die eigenen Erfahrungen mit konstruktiven Methoden der Konfliktbewältigung, die den erforderlichen Transfer ins Spontanverhalten ermöglichen: Nur das, was wirklich verinnerlicht und eingeübt ist, kann in Stresssituationen abgerufen werden. Dazu trägt eine Kombination aus Wissenserwerb und angeleitetem Praxistraining bei. Auf ein solches Angebot haben sich hierzulande einzelne Studiengänge im Sozial- und Politikbereich und gesellschaftliche Akteure (z.B. Ziviler Friedensdienst, Kommunale Konfliktbearbeitung) spezialisiert. Konstruktive Streitkultur kann in allen Altersstufen gelernt und praktiziert werden und so die Grundlagen respektvoller Debatten verankern: Zuhören und verstehen, ohne einverstanden zu sein, kritisieren, ohne zu beleidigen. Je früher damit begonnen wird, desto besser. Schulen sind daher ein geeigneter Ort, um Wissen, Erfahrungen und Kompetenz in Friedensfähigkeit, nicht Kriegstüchtigkeit zu entwickeln: mit der Integration entsprechender Themen und Methoden in andere Fächer (z.B. Sprachen, Physik), dem Einüben entsprechender Verhaltensweisen, schulischer Debattenkultur und realen Beteiligungsverfahren, der Erfahrung von Veränder- und Gestaltbarkeit sozialer Verhältnisse sowie dem Blick auf schulische, gesamtgesellschaftliche und globale Rahmenbedingungen, die Gewalt begünstigen bzw. Frieden fördern helfen. Friedensfähigkeit lässt sich eben nicht mit militärischen Mitteln herstellen. Das kann nur Friedensbildung leisten.

Was hilft

In eskalierten Gewaltkonflikten, wo Grausamkeiten bestimmten Personen zugewiesen werden, scheint es ethisch-moralisch oder emotional oft unmöglich, gemeinsam mit Tätern nach konstruktiven Auswegen aus der Gewalt zu suchen. Ähnliches gilt erfahrungsgemäß auch für private Kon­stellationen, in denen eine Seite Vergehen begangen hat, die der anderen Seite unverzeihlich erscheinen. Hier muss bei aller Ablehnung der Tat die Persönlichkeit der Täter geachtet werden. Die Trennung von Tat und Täter erleichtert es dann, inakzeptable Verhaltensweisen zu verurteilen und mit den Beteiligten an einem Ausgleich, einer Wiedergutmachung oder Lösung zu arbeiten. Das zeigt exemplarisch das nordirische Beispiel.

Friedensbildung wirkt

Friedensbildung ist auch in gewaltbelasteten Kontexten möglich und wirksam, sie bietet Alternativen zur täglichen Gewalt und öffnet praktikable Wege in kooperative Gesellschaftsgestaltung. Wie dies bei Gewaltakteuren, betroffenen Bürgern sowie Kindern und Jugendlichen viel bewirken kann, zeigt folgendes Vorgehen.

  • Fallbeispiel Nordirland: Mitten im Gewaltgeschehen organisierte die 1976 nach einem spektakulären Mord entstandene Friedensbewegung Aktionen gegen die Gewalt aller Seiten, erkundete gegensätzliche wie gemeinsame Interessen und praktizierte konstruktiven Dialog. Das veränderte allmählich politische Debatten von zunächst feindseligen Anschuldigungen gegeneinander hin zu einem Interesse aneinander und kooperativer Lösungsbereitschaft und sicherte langfristig allseitige Verhandlungsbereitschaft. Gegensätzliche politische wie konfessionelle Einstellungen spielten erst nach Austausch über die schwierigen Lebensbedingungen eine Rolle. Dann hatte sich eine gemeinsame Basis der Leiderfahrung und Perspektiven gebildet und zukunftsfähige Gestaltung in Community und Provinz konnte beginnen – etwa mit gemeinsamer Nutzung von Schulen oder Schwimmbädern. Parallel zeigte solch überkonfessionelle Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, wie unterschiedliche Ansätze aussehen und einander ergänzen können: erlebnispädagogisch Kindern Erfahrungen ermöglichen, Vertrauen aufbauen und gewaltfrei miteinander umgehen; gezielt friedenspraktisch mit hundert Jugendlichen beider Seiten zwei Wochen in Norwegen gewaltfreies Handeln und Streiten lernen. Das Leben in Nordirlands getrennten Wohngebieten und Schulen ließ im Alltag solchen Kontakt kaum zu.

In dreiwöchiger – geheim gehaltener – Klausur auf einer Insel beleuchteten erwachsene Schlüsselakteure aus Politik, Friedensbewegung, Paramilitär und Presse den Konflikt aus ihren Perspektiven. Aktionen wie landesweiter Streik, Bombenlegen, Paralleljustiz und Friedensaktionen wurden von den Initiatoren geschildert und ihre Wirkung kritisch debattiert.

Die Anwesenheit der Familien, ein klarer Zeitrahmen und wechselnde Methodik unterstützten dynamische Abläufe: vormittags Referate und Diskussion, nachmittags freie Zeit für Bewegung und Begegnung, abends am Kamin Gespräche und Spiele – auf Kooperation angelegte »Serious games« (z.B. »Our Town«), in denen Kontroversen um konkrete Politik- und Ethikfragen in einem breiten Spektrum von konfessioneller Schulerziehung bis hin zu Gewalttaten engagiert ausgetragen wurden. Meine Forschung zu friedlicher katholischer Massenbewegung im Irland des 19. Jahrhunderts lieferte hier akut nutzbare Beispiele für den Erfolg gewaltfreien Kampfes.

Als zentrales Element nachhaltiger Friedenssicherung müssen Täter und Opfer mit ihren Erfahrungen in die Bearbeitung historischer Lasten einbezogen und in ihrem Bedarf nach Ausgleich, Bestrafung und Versöhnung anerkannt werden. Nur so kann die Integration in gemeinsames gesellschaftliches Leben gelingen. Wenn verfeindete Gruppen in Begegnungsräumen ins Gespräch kommen und gemeinsam neue Verhaltensmuster erlernen – etwa, wie man Kritik äußert, ohne zu beleidigen, oder Verantwortung übernimmt, ohne Schuld zuzuweisen.

Perspektiven für die Zukunft

„Jeder denkt daran, die Welt zu verändern, aber niemand denkt daran, sich selbst zu verändern.“ (Leo Tolstoi) Friedenserziehung setzt genau hier an – bei Einzelnen, die in die Gesellschaft wirken, bei allen, die in der Schule systematisch Friedenshandeln erlernt haben. Wenn Menschen friedlich zu handeln lernen, schaffen sie Grundlagen für nachhaltigen Frieden.

Die Erfahrungen im In- und Ausland zeigen, welch transformative Dynamik zur Überwindung von Gewaltsystemen die Friedensfähigkeit in Gesellschaften entwickeln kann – Voraussetzung für eine Welt, in der Konflikte nicht mit Gewalt eskaliert, sondern konstruktiv durch Dialog, Verständnis und Kooperation ausgetragen, geregelt oder gelöst werden. Daran gilt es, ganz im Sinne der Wannsee-Erklärung, immer wieder zu erinnern.

Angela Mickley war bis 2017 Professorin für Friedensethik, Konfliktbearbeitung, Ökologie an der FH Potsdam. Sie hat ausführlich zum Friedensprozess in Nordirland geforscht und über viele Jahre in der Gewaltpräventionsarbeit und Friedenserziehung gewirkt. Sie ist Mitglied in der AG Friedenslogik der PZKB.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2025/1 Wider das Vergessen, Seite 47–58