Fundamentale Differenz
Ist die NATO ein Verteidigungsbündnis oder ein »System gegenseitiger kollektiver Sicherheit«?
von Dieter Deiseroth
Galt die NATO jahrzehntelang unbestritten als Militärbündnis, so finden sich in jüngerer Zeit sowohl in der öffentlichen wie in der juristischen Diskussion zunehmend Positionen, die der NATO - ähnlich wie den Vereinten Nationen - den Charakter eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit zuschreiben wollen. Wie der folgende Beitrag zeigt, handelt es sich dabei um eine rechtshistorisch unhaltbare und politisch bedenkliche Interpretation.
Die Sicht des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG)
Abweichend von seiner früheren Rechtsprechung1 hat das BVerfG erstmals in seiner so genannten Out-of-Area-Entscheidung vom 12.7.1994 die Auffassung vertreten, die NATO sei nicht nur ein Verteidigungsbündnis, sondern auch ein »System gegenseitiger kollektiver Sicherheit« im Sinne von Art. 24 Abs. 2 Grundgesetz (GG).2 Diese Verfassungsnorm hat folgenden Wortlaut: „Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern.“ Im Fachschrifttum ist diese Rechtsprechung, die sich auch in zahlreichen späteren Entscheidungen des BVerfG – ohne weitere Begründung – fortgesetzt hat, zwar auf Widerspruch gestoßen. Im »mainstream« ist sie jedoch sowohl politisch als auch im Fachschrifttum überwiegend zustimmend rezipiert worden, entsprach und entspricht sie doch augenscheinlich der aktuellen vermeintlichen »Staatsräson«. Erleichtert wurde die von ihr erfahrene relativ hohe Akzeptanz dadurch, dass sie zugleich ein wichtiges »Trostpflaster« mit großer Befriedungsfunktion (Jutta Limbach) bereit hielt: den künftigen – im Text des GG so gar nicht vorgesehenen – konstitutiven Parlamentsvorbehalt für jeden militärischen Einsatz der Bundeswehr.
Wegen der weittragenden Folgen dieser nach dem Ende des Kalten Krieges erfolgten revolutionären konzeptionellen Umorientierung der verfassungsrechtlichen Grundlagen deutscher Außen- und Sicherheitspolitik sollen in diesem Beitrag ihre Fundamente und tragenden Pfeiler noch einmal näher in den Blick genommen werden.
Begründungsstruktur
Was sind die zentralen Gründe, die das BVerfG für die verfassungsrechtliche Gleichsetzung eines Verteidigungsbündnisses (»System kollektiver Verteidigung«) wie der NATO mit den in Art. 24 Abs. 2 GG normierten »Systemen kollektiver Sicherheit« heranzieht?
Nach Auffassung des BVerfG ist es „unerheblich“, ob das von Art. 24 Abs. 2 GG gemeinte »System gegenseitiger kollektiver Sicherheit« „ausschließlich oder vornehmlich unter den Mitgliedsstaaten Frieden garantieren oder bei Angriffen von außen zum kollektiven Beistand verpflichten soll“. Entscheidend sei vielmehr, dass zum Einen das System „durch ein friedenssicherndes Regelwerk und den Aufbau einer eigenen Organisation für jedes Mitglied einen Status völkerrechtlicher Gebundenheit“ begründet und dass zum anderen dieser Status der völkerrechtlichen Gebundenheit „wechselseitig zur Wahrung des Friedens verpflichtet“ und „Sicherheit gewährt“. Beides sei bei der NATO der Fall.
Meine These ist: Diese Argumentation des BVerfG geht an Normstruktur und Norminhalt des Art. 24 Abs. 2 GG vorbei und legitimiert so eine von dieser Verfassungsnorm abweichende sicherheitspolitische Grundkonzeption.
Entstehungsgeschichte
Erhellend für die Problemidentifizierung ist zunächst die Entstehungsgeschichte der maßgeblichen GG-Norm. Carlo Schmid, der geistige und politische Vater des Art. 24 Abs. 2 GG, hat dazu 1948/49 bei der Ausarbeitung des GG in den Debatten des Parlamentarischen Rates ausgeführt3: „Der Begriff der ‚kollektiven Sicherheit’ ist ein Terminus technicus, unter welchem etwas ganz Bestimmtes verstanden wird. … Unter ‚kollektiver Sicherheit’ ist etwas ganz Präzises zu verstehen, eine Institution aus dem großen Gebiet des Kriegsverhütungsrechts, das in den modernen Lehrbüchern als besonderer Abschnitt des Systems des positiven Völkerrechts behandelt zu werden pflegt. … ‚Kollektive Sicherheit’ ist ein genau so klar umrissener Terminus wie im bürgerlichen Recht der Ausdruck ‚ungerechtfertigte Bereicherung’.“4 Trotz verschiedener Abänderungsanträge blieb es auf der Basis dieser Argumentation Carlo Schmids (SPD), dem als Vorsitzendem des Hauptausschusses gerade in völkerrechtlichen Fragen vor allem aufgrund seiner herausragenden einschlägigen Vorbildung und Erfahrung eine große Sachautorität von seinen Abgeordneten-Kollegen zugebilligt wurde, bei dieser Textfassung des Art. 24 Abs. 2 GG. Sie ist bis heute unverändert im GG verankert.
Zu konstatieren ist allerdings, dass weder Carlo Schmid noch andere Abgeordnete des Parlamentarischen Rates eine präzise Definition des von ihnen als „festen juristischen Begriff“ bzw. als „Terminus technicus“ bezeichneten »System(s) gegenseitiger kollektiver Sicherheit« gegeben hatten. Das sollte sich in der Folgezeit als schwerer Fehler erweisen. Sicher ist aber zugleich, dass in den Debatten des Parlamentarischen Rates zu Art. 24 Abs. 2 GG kein eigenständiger verfassungsrechtlicher Begriff der »kollektiven Sicherheit« geprägt wurde, sondern dass man die vorgefundene einschlägige Begrifflichkeit aus dem Völkerrecht der Verfassungsgebung zugrunde legte.
Kollektive Sicherheit im Völkerrecht
Das BVerfG hat in seiner bereits erwähnten Entscheidung von 1994 behauptet, auch im Völkerrecht sei der Begriff der »kollektiven Sicherheit« – entgegen der geäußerten Auffassung des Abg. Schmid – keineswegs eindeutig.5 Es hat sich zum Beleg dafür auf den damaligen Bonner und späteren Berliner Völkerrechtslehrer Christian Tomuschat berufen.
Tomuschat hatte in seiner im Jahre 1985 im »Bonner Kommentar« publizierten Erläuterung des Art. 24 Abs. 2 GG ausgeführt, anders als Carlo Schmid und andere Abgeordnete im Parlamentarischen Rat behauptet hätten, hätten „während der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen erhebliche Zweifel (bestanden), wie der Begriff der kollektiven Sicherheit sachgerecht zu definieren sei.“6 „Auch in späterer Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg“ habe „sich das Begriffsverständnis nicht zu konturenscharfer Eindeutigkeit entwickelt.“7 „Angesichts dieser Unsicherheiten bei der Grenzziehung“ – schlussfolgerte Tomuschat – „muss es als fraglich bezeichnet werden, ob der Verfassungsgeber sich im Jahre 1949 bewusst zu einem engen Verständnis der kollektiven Sicherheit im idealistischen Sinne der gemeinsamen Verteidigung vorrangig gegen Angriffe aus den eigenen Reihen bekannt hat“. Es treffe deshalb – so Tomuschat – „nicht zu, wenn (u.a. von Däubler, Rojahn, Walz und Knut Ipsen) behauptet“ werde, „aus der Entstehungsgeschichte lasse sich eindeutig entnehmen, dass jedes Paktsystem, welches sich primär gegen einen Angreifer von außen richte, aus dem Anwendungsbereich des Art. 24 Abs. 2 GG herausfalle“. Als gemeinsamer Nenner ergebe sich – so Tomuschat – „lediglich ein Minimalkonsens dahin, dass Bündnisse mit aggressiver Zielsetzung und auch solche, die von vornherein auf einen klar definierten Gegner ausgerichtet sind, nicht die Qualifikation als System der kollektiven Sicherheit verdienen“.
Tomuschats Darstellung in der Zweitbearbeitung des »Bonner Kommentars« von 1985 – übrigens im Gegensatz zu der Erstbearbeitung (des Art. 24 Abs. 2 GG) durch Eberhard Menzel aus dem Jahre 1951 – verkürzt und simplifiziert die Entwicklung des völkerrechtlichen Begriffs der »kollektiven Sicherheit« und ist deshalb im Ergebnis ebenso wie die ihr folgende Auffassung des BVerfG nicht überzeugend. Das liegt insbesondere daran, dass sie nur unzureichend den historischen Hintergrund und die fundamentale Neuorientierung des Friedenssicherungsrechts nach dem I. Weltkrieg in die Analyse einbezieht.
Erstmals wurde die politische Konzeption der »kollektiven Sicherheit« nach der Katastrophe des I. Weltkrieges in der 14 Punkte-Erklärung des damaligen US-Präsidenten Woodrow Wilson entwickelt. Sie setzte sich auf der Grundlage einer Analyse der Vorgeschichte und Ursachen dieser Weltkatastrophe, die ca. 15 Millionen Menschen das Leben gekostet hatte, dezidiert von den bisherigen Militärallianzen ab. Für sie war der I. Weltkrieg das Ergebnis einer Machtpolitik rivalisierender verbündeter Staaten, aufgrund derer die Großmächte in Europa – das Vereinigte Königreich, Frankreich, Russland, Deutschland sowie Österreich-Ungarn – jeden Machtzugewinn des anderen als Bedrohung auffassten, der sie ihrerseits mit weiteren eigenen Machtanstrengungen und immer neuen Auf- und Nachrüstungen begegneten, die wiederum als Bedrohung aufgefasst wurden. Diese Spirale wechselseitiger Bedrohung(en) mündete schließlich im Krieg.
US-Präsident Woodrow Wilson, selbst Politikwissenschaftler, zog daraus die Schlussfolgerung, dass die Politik des »Gleichgewichts der Mächte« im Ergebnis ganz wesentlich für die Katastrophe mitverantwortlich war. Sie musste in seinen Augen durch den neuen Ansatz einer spezifischen Friedenspolitik ersetzt werden. Die Konzeption Wilsons setzte der alten Machtpolitik der Staaten die Vorstellung einer Gemeinschaft der Völker entgegen, die zum einen den Krieg als Mittel der Politik ächtet und zum zweiten den Frieden durch ein System kollektiver Sicherheit gewährleistet.
Wilsons Konzeption gründete sich ideengeschichtlich8 u.a. auf Rousseau, Kant, Bentham und Mill. Politisch stützte sie sich auf Vorarbeiten eines von der britischen Regierung durch Lord Balfour eingesetzten Sachverständigenausschusses (»Phillimorebericht«)9 sowie auf Vorschläge verschiedener US-amerikanischer und britischer Nichtregierungsorganisationen (u.a. League to Enforce Peace; League of Nations Society).10 Kernidee war, dass das Prinzip der auf die nationale Souveränität gestützten Machtkonkurrenz der Staaten durch das Prinzip der kollektiven Sicherheit überlagert und möglichst ersetzt werden sollte. Präsident Wilson wies dementsprechend immer wieder in aller Deutlichkeit auf den konzeptionellen Widerspruch hin, der zwischen einem System kollektiver Sicherheit einerseits und Militärbündnissen andererseits besteht. Schon unter Punkt 3 der Erklärung von Woodrow Wilson vom 27.9.1918 hieß es insoweit unmissverständlich: „Es kann in der allseitigen und gemeinschaftlichen Familie des Völkerbundes keine Bündnisse oder Allianzen oder gesonderte Verpflichtungen und Abmachungen geben.“11
Das Konzept der »kollektiven Sicherheit« fand in der Völkerrechtspraxis zunächst seinen Niederschlag in der Satzung des Völkerbundes. Allerdings geschah dies nur sehr rudimentär. Das lag vor allem an den starken Widerständen, mit denen Wilson zu kämpfen hatte und die u.a. im US-Kongress dazu führten, dass er keine Mehrheit für die Ratifizierung der ausgehandelten Verträge fand. Das Wilson’sche Konzept wurde dennoch fortentwickelt und konkretisiert und zwar vor allem durch Vorschläge des französischen Außenministers Aristide Briand, die u.a. im Briand-Kellogg-Pakt über die Kriegsächtung von 1928 sowie in seinem dem Völkerbund 1930 vorgelegten großen Friedensplan Ausdruck fanden.12 Eine Zwischenbilanz dieses neuen Politikansatzes »kollektiver Sicherheit« wurde im Frühjahr 1933 auf einer internationalen Tagung des dem Völkerbund unterstehenden »Institut International de Coopération Intellectuelle« gezogen, dem Vorläufer der UNESCO. Dazu trugen maßgeblich auch Expertisen zahlreicher wohlbekannter Völkerrechtler der Zwischenkriegszeit bei, insbesondere des englischen Gelehrten McNair13, des Genfer Völkerrechtlers Maurice Bourquin14 und des österr. Völkerrechtlers Alfred Verdross15, worauf sich insbesondere Carlo Schmid im Parlamentarischen Rat ausdrücklich bezog. Bourquin stellte in seinem »Rapport Final« als Generalberichterstatter der vorerwähnten Völkerbundstagung zusammenfassend fest, der Begriff der »kollektiven Sicherheit« impliziere eine Konzeption, die sich grundlegend von der Sicherheit unterscheide, die in militärischen Allianzen angestrebt werde. Verschieden sei zunächst die Zielsetzung; denn es gehe nicht um die Sicherheit einzelner Staaten, sondern um die Sicherheit aller. Der Krieg werde dementsprechend als gemeinsame Gefahr für alle aufgefasst, der die Interessen der gesamten Gemeinschaft berühre. Kollektiv sei auch die Methode. Kollektive Sicherheit betreffe nicht mehr allein das Verhältnis zwischen den Streitkräften eines Staates (und dessen Verbündeten) und denjenigen seines eventuellen Gegners. Vielmehr gehe es um die Etablierung einer internationalen Zusammenarbeit der Staaten im weitesten Sinne des Wortes, auch wenn in einem solchen System nicht alle Staaten die gleiche Rolle spielten, sondern sich je nach ihrer spezifischen Situation mit verschiedenen Beiträgen bei der Gewährleistung kollektiver Sicherheit engagierten.16
Carlo Schmid nahm dies nach dem II. Weltkrieg auf und reformulierte dieses Konzept 1948/49 in folgenden Worten: „Diese Vorstellung (eines internationalen Systems kollektiver Sicherheit) ist zum ersten Male aufgekommen zu der Zeit, als Briand französischer Außenminister war; eine sehr einfache Sache – nichts anderes als die Anwendung des Genossenschafts- und Versicherungsgedankens auf das politische Leben: Staaten schließen sich zusammen zu einem System gegenseitiger Verpflichtungen zu dem Zweck, dass, wenn einer von ihnen angegriffen ist, alle anderen diesen Angriff von ihm gemeinsam abwehren, und ein System, das gleichzeitig die Möglichkeit bietet, dass die Differenzen, die unter ihnen selber aufkommen könnten, auf friedlichem Wege in vernünftiger und kalkulierbarer Weise geschlichtet werden können. Damit aber wird das, was man bislang nationale Politik genannt hat, unter das kollektive Interesse gebeugt.“ Auch viele andere Völkerrechtler wie der Schweizer Rudolf Bindschedler17 sowie bedeutende Völkerrechtler aus allen Rechtskreisen dieser Welt, wie u.a. H. Kulski, Quincey Wright, C. de Vischer, M.A. Navarro, J.L.O. Kunz, L. Oppenheim und H. Lauterpacht, C. Rousseau, Manfred Lachs, Hans Kelsen, F. van Langenhove, Skubiszewski, Knut Ipsen, Otto Kimminich, Ulrich Beyerlin und Horst Fischer haben auf diesem Fundament bis heute – im Kern übereinstimmend – immer wieder darauf hingewiesen: „Kollektive Sicherheit und Bündnisse widersprechen sich grundsätzlich.“18
Fundamentale Differenz
Was sind nun diese fundamentalen Unterschiede zwischen einem »System kollektiver Verteidigung« (Verteidigungsbündnis) und einem »System kollektiver Sicherheit«, worin bestehen sie konkret?
(1) Keine Differenz zwischen ihnen besteht darin, dass ihre Mitgliedsstaaten dem völkerrechtlichen Gewaltverbot unterliegen. Dies ergibt sich unmittelbar aus Art. 2 Nr. 4 der UN-Charta und ist heute im Grundsatz19 unbestritten. Die NATO hat dies für sich in Art. 1 NATO-Vertrag ausdrücklich klargestellt.
(2) Der wichtigste Unterschied zwischen einem »System kollektiver Verteidigung« (Verteidigungsbündnis) und einem »System kollektiver Sicherheit« ist, dass sie auf zwei entgegen gesetzten Grundkonzeptionen von Sicherheitspolitik beruhen. Das Grundkonzept von Verteidigungsbündnissen basiert auf Sicherheit durch eigene Stärke und die Stärke der eigenen Verbündeten. Es ist »partikulär-egoistisch«. Die Grundkonzeption kollektiver Sicherheit basiert hingegen auf der Sicherheit aller potenziellen Gegner durch die Reziprozität innerhalb einer internationalen Rechtsordnung. Es verankert die eigene Sicherheit also gerade nicht in der relativen Schwäche und Unterlegenheit des potenziellen Gegners, sondern in der gemeinsamen Sicherheit. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass die eigene Sicherheit zugleich auf der Sicherheit des potenziellen Gegners beruht. Das NATO-Bündnis (auf der Grundlage des NATO-Vertrages) gründet demgegenüber auf der Konzeption, dass die Abwehr einer Aggression von außen gegen ein Bündnismitglied – wie für ein Defensiv-Bündnis typisch – durch Selbstschutz (»Faustrecht«) des angegriffenen Staates und seiner Verbündeten erfolgt.
(3) Ein Verteidigungsbündnis ist – anders als ein »System kollektiver Sicherheit« – nicht auf prinzipielle Universalität im Sinne des Einschlusses möglichst aller potenziellen Aggressoren angelegt. Allerdings heißt dies keineswegs, dass ein System kollektiver Sicherheit nur auf globaler Ebene unter Einbeziehung aller Staaten bestehen kann. Es kann auch regionale Systeme kollektiver Sicherheit geben, sofern sie nur innerhalb der gesamten Region prinzipiell für alle betroffenen Staaten und damit für alle potenziellen Aggressoren der Region offen sind. Im Parlamentarischen Rat ist dies klar erkannt worden, in dem – innerhalb des globalen UN-Rahmens – ausdrücklich von einer künftigen Europäischen Union als Beispiel für ein regionales System kollektiver Sicherheit die Rede war.
Dieser fundamentale Unterschied zeigt sich sehr deutlich etwa bei der NATO. Sie steht eben, anders als die UNO, nicht jedem Beitrittswilligen offen, der die im NATO-Vertrag verankerten Ziele anerkennt. In der Zeit ihrer Gründung und während des Kalten Krieges war sie nach ihrem erklärten und unbezweifelten Selbstverständnis gegen eine potenzielle Aggression der Sowjetunion und deren Verbündeten gerichtet. Dementsprechend haben die NATO und ihre Mitgliedsstaaten in den Jahren 1954/55 auch das Begehren der früheren Sowjetunion auf Mitgliedschaft im NATO-Bündnis als unvereinbar mit dessen Zielrichtung abgelehnt. Nicht anders wurde auch mit dem Aufnahmegesuch Russlands im Zusammenhang mit den NATO-Osterweiterungen der letzten Jahre umgegangen, die durchweg darauf abzielten, die eigene Sicherheit gegen Russland und nicht gemeinsam mit Russland zu definieren und zu gestalten.
(4) Viertens – und dies ist ein weiterer gravierender Unterschied zu einem kollektiven Sicherheitssystem – enthält ein Verteidigungsbündnis für den Fall eines von einem eigenen Mitgliedsstaat begangenen Aggressionsaktes keine verbindlichen internen Konfliktregelungsmechanismen. Das ist auch beim NATO-Vertrag so. Eine NATO-interne Verpflichtung der übrigen NATO-Partner, einem NATO-Verbündeten, der gegen das Gewaltverbot verstößt, mit kollektiven NATO-Zwangsmaßnahmen entgegen zu treten, sieht er gerade nicht vor. Für die NATO-Staaten zeigte sich dies z.B. während des Vietnam-Krieges, bei den völkerrechtswidrigen US-Militäraktionen gegen Guatemala, Grenada, Panama und zahlreiche andere Staaten, zuletzt im Jahre 2003 beim US-Krieg gegen Irak. Dieses konzeptionelle und institutionelle Defizit der NATO ist typisch für ein »System kollektiver Verteidigung« (Verteidigungsbündnis), das ja gerade zur Verteidigung gegen einen potenziellen externen Aggressor, nicht aber zur Wahrung der Sicherheit gegen verbündete Mitglieder geschlossen wird.
(5) Ein Verteidigungsbündnis etabliert auch – ganz anders als ein »System kollektiver Sicherheit« – keine den Mitgliedsstaaten übergeordnete zwischenstaatliche oder supranationale Gewalt einer organisierten und rechtlich geordneten Macht nach dem Modell der Vereinten Nationen. Der Völkerrechtler Albrecht Randelzhofer hat dieses Charakteristikum einmal in die zutreffenden Worte gefasst: „Ein kollektives Sanktionssystem setzt daher ein internationales System von hoher Unparteilichkeit und Mobilität voraus. Jeder Staat muss jederzeit bereit sein, jeden Staat gegen jeden Angreifer zu verteidigen. Das Bewusstsein der allgemeinen Verbundenheit mit allen Staaten muss größer sein als die Verbundenheit mit engeren Gruppen von Staaten. Bündnisse sind unvereinbar mit diesem Grundgedanken eines kollektiven Sicherheitssystems, da sie notwendigerweise bewirken, dass anstelle der allgemeinen Verbundenheit das Denken und Empfinden in Gruppierungen herrscht. Man ist bereit, sich und verbündete Staaten gegen bestimmte andere zu verteidigen, nicht aber einen Staat, gegen den sich das Bündnis richtet, gegen den auch noch so offensichtlich unrechtmäßigen Angriff durch den verbündeten Staat.“20
Keine Revision durch die Grundgesetz-Änderungen von 1956 und 1968
An dieser fundamentalen Unterscheidung zwischen den in Art. 24 Abs. 2 GG in Bezug genommenen völkerrechtlichen »System(en) gegenseitiger kollektiver Sicherheit« einerseits und einem Verteidigungsbündnis nach Art. 51 UN-Charta anderseits, die im Parlamentarischen Rat von niemandem in Zweifel gezogen wurde, wurde weder im Zusammenhang mit der 1956 erfolgten Einfügung der »Wehrverfassung« noch mit der Inkorporierung der »Notstandsverfassung« im Jahre 1968 etwas geändert.
Es wurden zwar im Vorfeld der Grundgesetzänderung von 1956 – letztlich wohl wegen des anfänglich starken Widerstandes der Oppositionsparteien gegen die deutsche Wiederbewaffnung und des Fehlens einer für eine Grundgesetzänderung notwendigen Zweidrittelmehrheit im Parlament – vielfältige Versuche unternommen, Art. 24 Abs. 2 GG so zu interpretieren, dass eine Verfassungsänderung umgangen werden konnte. Stellvertretend dafür sei auf die vielfältigen Expertisen der völkerrechtlichen Berater der von Adenauer geführten Bundesregierung, vor allem die Beiträge des Freiburger Völkerrechtlers Wilhelm Grewe, hingewiesen.
Die von Grewe und anderen Anfang der 1950er Jahre gesehene Notwendigkeit, Art. 24 Abs. 2 GG heranzuziehen, um die deutsche Wiederbewaffnung im Rahmen eines Militärbündnisses (EVG oder NATO) ohne Verfassungsänderung realisieren zu können, entfiel nach der im Jahre 1956 erfolgten Einfügung des Art. 87a GG a.F. in das GG. Dadurch war nunmehr eine hinreichende Basis für die Aufstellung der Bundeswehr und die Eingliederung in das NATO-Verteidigungsbündnis geschaffen. Art. 24 Abs. 2 GG war damit aus der Diskussion.
Revision ohne Verfassungsrevision?
Das änderte sich erst Mitte der 1980er Jahre, als zunehmend die Forderung erhoben wurde, Deutschland müsse sich entsprechend seinen wirtschaftlichen und politischen Potenzen »out of area« stärker engagieren, vor allem auch militärisch. Jetzt wurden die Stimmen immer zahlreicher, die dafür plädierten, die NATO als »System kollektiver Sicherheit« im Sinne des Art. 24 Abs. 2 GG zu qualifizieren, um an Stelle der sehr engen Ermächtigungsgrundlage des Art. 87a GG („zur Verteidigung“) eine andere oder jedenfalls zusätzliche verfassungsrechtliche Basis für Militäreinsätze der Bundeswehr zu finden.
Nach dem Ende des Kalten Krieges, als es darum ging, für die NATO ohne Änderung des NATO-Vertrages und für die Bundeswehr ohne Änderung des Grundgesetzes ein »erweitertes Aufgabenspektrum« zu schaffen und zu legitimieren, brachen die Dämme. Nun mehrten sich die Veröffentlichungen – mit und ohne Gutachtenauftrag aus öffentlichen Kassen –, die im Interesse der neuen »Staatsräson« die Fesseln des Art. 87a GG zu sprengen suchten. Das geschah dann dadurch, dass Art. 24 Abs. 2 GG – unter Missachtung der Entscheidung des Verfassungsgebers und der systematisch-konzeptionellen Unterschiedlichkeit eines Verteidigungsbündnisses gegenüber einem »System kollektiver Sicherheit« – uminterpretiert wurde. Auch wenn das BVerfG diesem Weg gefolgt ist, sind die Auseinandersetzungen darüber nicht zu Ende.
Auch zukünftig muss deshalb bei jedem militärischen Außeneinsatz der Bundeswehr, der nicht nach Art. 87a GG „zur Verteidigung“21 Deutschlands oder eines seiner Bündnispartner erfolgt, die Frage gestellt und beantwortet werden, ob die deutschen Streitkräfte dabei tatsächlich im Rahmen eines »Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit« im Sinne des Art. 24 Abs. 2 GG tätig werden. Das ist bei Einsätzen im Rahmen eines formellen Mandats der UNO in aller Regel der Fall, sofern die Regeln der UN-Charta eingehalten werden.22 Problematisch wird es jedoch immer dann, wenn ein Einsatz der Bundeswehr ohne formelles UN-Mandat erfolgen soll – etwa im Rahmen einer »Selbstmandatierung« durch die NATO wie im »Kosovo-Krieg« 1999 oder bei der Mitwirkung an und Unterstützung von völkerrechtswidrigen Kriegshandlungen durch NATO-Bündnispartner wie im Irak-Krieg 2003.
Das in Art. 24 Abs. 2 GG verankerte Konzept einer »kollektiven Sicherheit« hat darüber hinaus noch eine wichtige Leitfunktion. Dies ist ein wertvoller »ungehobener Schatz«. Die so genannte Palme-Kommission, an der 19 bedeutende Politiker aus Ost und West, Nord und Süd, darunter Egon Bahr, mitgewirkt haben, hat dies noch in der Hochphase des Kalten Krieges in die weisen Worte gefasst: „In der heutigen Zeit kann Sicherheit nicht einseitig erlangt werden. Wir leben in einer Welt, deren ökonomische, politische, kulturelle und vor allem militärische Strukturen in zunehmendem Maße voneinander abhängig sind. Die Sicherheit der eigenen Nation lässt sich nicht auf Kosten anderer Nationen erkaufen.“23
Im nuklearen Zeitalter der gegenseitig gesicherten Zerstörung ist Sicherheit nicht mehr vor dem Gegner, sondern nur noch mit ihm zu erreichen.
Anmerkungen
1) Im sog. Pershing-Urteil vom 18.12.1984 (BVerfGE 68, 1, 95 f) hatte das BVerfG diese Frage ausdrücklich unbeantwortet gelassen.
2) BVerfGE 90, 286 (347ff, 349ff).
3) Er wandte sich damit gegen einen Antrag des SPD-Abg. Menzel, mit dem die Ersetzung des im Entwurf der Vorschrift (»Herrenchiemsee-Entwurf«) vorgesehenen Begriffs »gegenseitige kollektive Sicherheit« durch »gemeinsame Sicherheit« wegen der „politischen Belastung, die dieses Wort (»kollektive Sicherheit«) – ob zu Recht oder zu Unrecht, mag dahingestellt bleiben – in den letzten Jahren in der europäischen Politik bekommen hat“, verlangt wurde.
4) vgl. 6. Sitzung des Hauptausschusses vom 19.11.1948, Sten. Prot. S.71; JöR n.F. 1 (1951), S.227.
5) BVerfGE 90, 286 (347).
6) Tomuschat in: Bonner Kommentar (BK), Zweitbearbeitung 1985, Art. 24 Rn. 126.
7) ebd., Rn. 132.
8) Dem lag die Vorstellung zugrunde, dass es nicht die Völker sind, die Kriege verursachen, sondern lediglich Staaten, die sich über den Friedenswillen der Völker hinwegsetzen. Deshalb betrachtete diese Wilson’sche Konzeption neben der Gründung des Völkerbundes vor allem die Demokratisierung der Staaten als zentrale Friedensbedingung.
9) Vgl. dazu u.a. F.S. Northhedge (1986): The League of Nations, S.25 ff; Zangl/Zürn (2003): Frieden und Krieg, S.29 ff.
10) Vgl. Woodrow Wilson (1923): Memoiren und Dokumente über den Vertrag zu Versailles anno MCMXIX, Hrsg. von R. St. Baker (autorisierte deutsche Übersetzung von Curt Thesing), Bd. I, Leipzig, S.85 ff, 177 ff.
11) vgl. Deiseroth, Art. 24 GG, in: Umbach/Clemens (2001): GG, Art. 24 Rn. 191 ff.
12) vgl. P. Barandon (1948): Die Vereinten Nationen und der Völkerbund in ihrem rechtsgeschichtlichen Zusammenhang, S.124, 185 ff.
13) „On the one hand, war in breach of the Covenant is made illegal; on the other, force which is collectivized and placed at the service of the international community is made legal“, vgl. McNair (1936): Collective Security, in: The British Yearbook of International Law 17, S.150 >155, 158, 161>.
14) M. Bourquin (1934): Le Problème de la Sécurité internationale. In: Recueil des Cours de l´Académie de Droit Internationale 49 (1934 III)
15) Verdross (1937): Völkerrecht, 1. Aufl., S.24, 157, 345.
16) M. Bourquin (1936): La Sécurité Collective, S.458.
17) vgl. zu den Einzelnachweisen u.a. Deiseroth, GG, Art. 24 Abs. 2,Rn. 194 ff; ders., Die Friedenswarte, 2000, Heft 1, S.101ff.
18) Rudolf Bindschedler in: W.Schätzel/H.-J.Schlochauer (Hrsg.), Festschrift für Wehberg, 1956, S.67 f. m.w.N.
19) zu den Schwächen des Gewaltverbots vgl. u.a. Deiseroth, Vom Recht des Stärkeren zur Stärke des Rechts, in: Colneric u.a. (Hrsg.) (1994): Gewalt in Deutschland, Gewalt aus Deutschland, S.127 (136ff) m.w.N.
20) vgl. Randelzhofer in: Heilbronner/Ress/Stein (Hrsg.) (1989): Staat und Völkerrechtsordnung. Festschrift für K. Doehring, S.745 (762).
21) Was nach dem Grundgesetz unter einem Fall der »Verteidigung« zu verstehen ist, lässt sich zum einen der Regelung über den »Verteidigungsfall« in Art. 115a GG, insbesondere aus ihrem Wortlaut („Bundesgebiet (wird) mit Waffengewalt angegriffen“ oder „ein solcher Angriff (droht) unmittelbar“) und zum anderen ihrer Entstehungsgeschichte entnehmen. Da der Normtext des Art. 87a Abs. 1 und 2 GG von »Verteidigung« und damit – anders als eine im Gesetzgebungsverfahren zunächst vorgeschlagene Fassung – nicht von »Landesverteidigung« spricht und da zudem der verfassungsändernde Gesetzgeber bei Verabschiedung der Regelung im Jahr 1968 auch einen Einsatz im Rahmen eines NATO-Bündnisfalles unbestritten als verfassungsrechtlich zulässig ansah, ist davon auszugehen, dass »Verteidigung« alles das (abschließend) umfasst, was nach dem geltenden Völkerrecht zum individuellen und kollektiven Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 der UN-Charta zu rechnen ist, der die Bundesrepublik Deutschland 1973 wirksam beigetreten ist. Art. 51 UN-Charta gewährt nach seinem Wortlaut allein „im Falle eines bewaffneten Angriffs“ („if an armed attack occurs“) dem Angegriffenen das naturgegebene Recht („inherent right“) zur individuellen und zur kollektiven Selbstverteidigung; dies allerdings nur zeitlich begrenzt, nämlich bis der UN-Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat.
22) Auf das Sonderproblem eines Bundeswehreinsatzes im Rahmen der EU kann hier nicht näher eingegangen werden; dessen verfassungsrechtliche Zulässigkeit hängt vor allem von der Einhaltung der Voraussetzungen des sog. Europa-Artikels 23 GG in Verbindung mit den Regelungen des EU-Vertrages ab.
23) Der Palme-Bericht. Bericht der Unabhängigen Kommission für Abrüstung und Sicherheit. Dt. Ausgabe 1982. Mit Vorwort von Egon Bahr. Berlin 1982; vgl. ferner Egon Bahr in: Festschrift für C.F. von Weizsäcker zum 70. Geburtstag, München/Wien 1982, S.195 ff.
Dr. Dieter Deiseroth ist seit 2001 Richter am Bundesverwaltungsgericht; er hat zahlreiche Veröffentlichungen zum Verfassungs-, Verwaltungs- und Völkerrecht sowie zur Rechtsgeschichte verfasst.