Gaza als Trittleiter
Beobachtungen zur Rehabilitation des syrischen Regimes
von Mustafa Karahamad und Regine Schwab
Das syrische Regime nutzt den Krieg gegen den Gazastreifen für seine innenpolitische Stabilisierung und regionale Rehabilitation. Es fällt auf, dass das syrische Regime auf den Krieg im Gazastreifen bislang eher symbolisch als handlungsorientiert reagiert hat. Für ein Kernmitglied der sogenannten »Achse des Widerstands« ist dies überraschend, da sich sein Verhalten stark von dem der anderen Mitglieder unterscheidet. Es ist jedoch von entscheidender Bedeutung, Syrien in dieser Frage zu untersuchen, da es nicht nur ein zentraler Akteur der Achse, sondern auch Schauplatz eines indirekten Krieges zwischen Israel und Iran ist, der jederzeit zu einem direkten Krieg werden könnte.
Die Analyse der Rhetorik und der Handlungen des syrischen Regimes seit dem 7. Oktober 2023 zeigt, dass es sich von der »Achse des Widerstands« distanziert und sich seinen arabischen Nachbarn annähert. Auf den ersten Blick dient dies dazu, nicht in einen offenen Konflikt zwischen Iran und seinen nichtstaatlichen Verbündeten – vor allem der Hezbollah – einerseits und Israel andererseits hineingezogen zu werden. Wichtiger für diesen Artikel ist jedoch die These, dass der sogenannte »Nahostkonflikt« eine wesentliche Rolle für die Versuche des syrischen Regimes spielt, seinen innen- und außenpolitischen Status wiederherzustellen. Wie wir im Folgenden zeigen werden, zielt es darauf ab, durch Lippenbekenntnisse zur palästinensischen Sache seine innenpolitische Position zu stabilisieren und seine Rehabilitation in der Region und möglicherweise in der Welt voranzubringen, während es gleichzeitig in Worten und Taten eine auffällige Distanz zur Achse wahrt.
Die aktuelle Lage in Syrien
Der Krieg gegen den Gazastreifen seit 2023 findet zu einer Zeit statt, in der das syrische Regime zwar die Oberhand über die Opposition gewonnen hat, aber durch 13 Jahre Krieg im eigenen Land geschwächt ist. In Syrien lassen sich vier Gebiete ausmachen, die jeweils von unterschiedlichen Akteuren kontrolliert werden. Erstens Idlib im Nordwesten Syriens, das von der sunnitisch-islamistischen und ehemaligen Al-Qaida-Tochter Hayat Tahrir al-Sham kontrolliert wird. Zweitens Nordostsyrien, das von den mehrheitlich kurdischen Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) kontrolliert und von den Vereinigten Staaten unterstützt wird. Drittens hat die Türkei in Nordsyrien Gebiete besetzt und unterstützt die sogenannte Syrische Nationale Armee und mit ihr verbündete Gruppierungen, die mehrfach gegen die SDF gekämpft haben. Viertens wird der größte Teil des Landes, mittlerweile wieder mehr als 60 % des syrischen Territoriums, vom Assad-Regime in Damaskus kontrolliert. Mit Hilfe Russlands und Irans hat das syrische Regime seit Ende 2016 große Teile des Landes zurückerobert. Doch auch diese Gebiete sind alles andere als stabil. Seit August 2023 kommt es beispielsweise im Gouvernement As-Suwayda immer wieder zu Demonstrationen, die einen politischen Wandel fordern. Darüber hinaus sind die vom Regime kontrollierten Gebiete infolge der Sanktionen und des Krieges von einer schweren Wirtschaftskrise betroffen, was zu einer wachsenden Unzufriedenheit in der Bevölkerung führt. Die politische Zukunft des Regimes von Präsident Assad ist also keineswegs garantiert, weshalb sich derzeit erkennbar seine Bemühungen darauf richten, diese zu sichern.
Innenpolitisch: Stabilisierung des Regimes
Die Reaktionen des syrischen Regimes auf den Krieg in Gaza beschränkten sich auf Erklärungen voller müder Symbolik, jedoch ohne die üblichen deutlichen Hinweise auf die »Achse des Widerstands«. Am Tag des Angriffs vom 7. Oktober 2023 veröffentlichte das syrische Außenministerium eine Erklärung, in der es bekräftigte, dass „die Widerstandsgruppen im besetzten Palästina neue Fortschritte auf dem Weg zur Verwirklichung der unveräußerlichen palästinensischen Rechte gemacht haben“ (SANA 2023). In den folgenden Wochen rief die syrische Führung führende Militärs nach Damaskus, um sie bei der Durchführung ihrer militärischen Missionen zu unterstützen. Das Regime setzte auch die Gewährung von Urlauben aus, um erhöhte Einsatzbereitschaft zu signalisieren. Darüber hinaus veröffentlichte das syrische Präsidialamt auf seiner offiziellen Facebook-Seite ein Bild, das eine Karte Palästinas mit der Al-Aqsa-Moschee im Hintergrund zeigt (Syrian Presidency 2023). In ähnlicher Weise und als Reaktion auf den israelischen Bombenangriff auf das Baptistenkrankenhaus in Gaza im Oktober 2023, bei dem Berichten zufolge zahlreiche Menschen ums Leben kamen, veröffentlichte das Präsidialamt der Arabischen Republik Syrien eine Erklärung: „Was die verbrecherischen zionistischen Kräfte bei ihrer Aggression gegen das Baptistenkrankenhaus im Gazastreifen verübt haben, ist eines der schrecklichsten und blutigsten Massaker gegen die Menschheit in der modernen Ära“ (al-Allouni und al-Jazaeri 2023).
Die erste Solidaritätsdemonstration mit dem Gazastreifen nach dem Beginn der israelischen Militäroperationen, am 10. Oktober 2023 im Zentrum von Damaskus, zeigte, wie die Öffentlichkeit auf den Angriff reagierte. Als die Sprechchöre lauter und die Demonstrant*innen enthusiastischer wurden, eilten prompt Sicherheitskräfte herbei, um sie zu vertreiben, und Bilder von Präsident Assad und Sprechchöre für ihn ersetzten bald pro-palästinensische Slogans. Später erklärte die Aktionsgruppe für Palästinenser in Syrien (2023), dass die Anweisungen für die Sicherheitskräfte im Umgang mit den Pro-Gaza-Demonstrationen in Damaskus auf sicherheitspolitischen Erwägungen des Regimes beruhten, wonach solche Proteste den Zorn Israels und der Vereinigten Staaten hervorrufen könnten. Die Gruppe wies auch darauf hin, dass die Genehmigung von Demonstrationen durch die Sicherheitsbehörden Wochen dauere und höchstwahrscheinlich zu einer Ablehnung führen würde.
Daher gab es in syrischen Städten keine anhaltenden Proteste gegen den Krieg, ganz im Gegensatz zu der Welle pro-palästinensischer Proteste, die durch westliche Städte und viele arabische Hauptstädte wie beispielsweise Amman rollte. Durch die strenge Kontrolle des öffentlichen Raums und gleichzeitige Wiederholung abgedroschener Phrasen versuchte das syrische Regime, seine immer noch fragile innenpolitische Position zu stabilisieren.
Gleichzeitig scheint das Regime die zunehmenden israelischen Angriffe auf das Territorium Syriens zu ignorieren und sich aus Spannungen herauszuhalten. Das lässt sich an mehreren Beispielen illustrieren:
- Obwohl Israel bereits vor dem 7. Oktober 2023 regelmäßig Ziele in Syrien angegriffen hatte, die mit Iran und der Hezbollah in Verbindung gebracht werden, eskalierten diese Angriffe seither deutlich, vor allem durch den Angriff auf das iranische Konsulat in Damaskus. Am 1. April 2024 machte ein israelischer Luftangriff ein Gebäude neben dem Teheraner Konsulat in Damaskus dem Erdboden gleich und tötete sieben Kommandeure des Korps der Islamischen Revolutionsgarden Irans, darunter zwei Generäle (vgl. Fabian 2024a).
- Die amtliche syrische Nachrichtenagentur (SANA) hatte zuvor zwar verkündet, dass israelische Angriffe über Syrien abgefangen worden seien, ignorierte jedoch in ihren Mitteilungen den israelischen Angriff im April gänzlich.
- Auf dem Höhepunkt der Spannungen zwischen Iran und Israel erschien Präsident Assad eine Woche nach dem Angriff mit seiner Frau zum Ramadan-Iftar-Essen in Tartus. Nach einigen Tagen trat er erneut in einem Restaurant in Damaskus in der Öffentlichkeit auf, ohne sich zu den israelischen Angriffen auf Damaskus oder eventuell geplanten Gegenreaktionen zu äußern.
- Am 10. April nahm er am Eid al-Fitr-Gebet in der Hauptstadt Damaskus teil und hörte sich dort eine Predigt an, die von politischer Rhetorik geprägt war, wonach Syrien den „islamistischen Extremismus“ und den „Neoliberalismus“ bekämpfe, in der aber Palästina, Iran oder Israel nicht erwähnt wurden (Enab Baladi 2024a).
- Am 12. April, als die Welt angesichts der potentiellen Eskalation zu einem offenen Krieg zwischen Iran und Israel den Atem anhielt, erschien Präsident Assad mit seiner Frau und seinen Kindern in den Straßen der Altstadt von Damaskus und vermittelte eine gleichgültige Haltung gegenüber der drohenden Eskalation auf syrischem Boden (vgl. Enab Baladi 2024b).
- Nach den ersten direkten Raketen- und Drohnenangriffen Irans gegen Israel vom 13. auf den 14. April (vgl. Fabian 2024b), äußerten sich syrische offizielle Stellen nicht, ganz im Gegensatz zu den üblichen Unterstützungsbekundungen nach größeren Angriffen.
- Ebenso strahlten die syrischen Medien die letzten beiden Reden des mittlerweile getöteten Hezbollah-Führers Nasrallahs nicht aus, auch hier im Gegensatz zu früheren Verfahrensweisen (vgl. The Syrian Observer 2024).
- Das syrische Fernsehen sendete nach israelischen Angriffen im Libanon weiterhin Lieder und reguläre Programme, auch nach der Tötung führender Hezbollah-Führer. In der Zwischenzeit konzentrierten sich die mit dem syrischen Präsidenten verbundenen Social-Media-Kanäle auf innenpolitische Themen wie eine Regierungsumbildung und eine Generalamnestie (vgl. Hassan 2024).
- Erst nach der Bombardierung der mehrheitlich von Drusen bewohnten Stadt Majdal Shams in den von Israel besetzten Golanhöhen im Juli verurteilte das syrische Außenministerium die Bombardierung und beschuldigte Israel, sie durchgeführt zu haben. Abgesehen von dieser Verurteilung reagierte das syrische Regime auf die anhaltenden israelischen Übergriffe auffallend zurückhaltend.
Die öffentlichen Reaktionen des syrischen Regimes auf den Gazakrieg waren bisher also minimal und ohne die übliche starke Rhetorik der Unterstützung der »Achse des Widerstands«. Dies steht in krassem Gegensatz zu allen anderen Achsenmitgliedern (vgl. Pfeifer in dieser Ausgabe, S. 17). Auch die öffentliche Reaktion war kontrolliert und beschränkte sich auf die Billigung einiger weniger Proteste im Oktober 2023. Dieses Verhalten dient ganz offenbar dazu, eine offene Konfrontation zwischen Iran und Israel auf syrischem Gebiet zu vermeiden. Nicht zu vernachlässigen ist, dass es auch darauf abzielt, die immer noch fragile innenpolitische Position des syrischen Regimes zu stabilisieren, das durch den jahrelangen Krieg und eine schwere Wirtschaftskrise geschwächt ist.
Regional: Vollendung der Rehabilitation
Seit dem brutalen Vorgehen gegen seine Bevölkerung im Jahr 2011 wird Syrien regional und international als Pariastaat betrachtet, den es zu ächten gilt. Doch das syrische Regime erhielt während des Bürgerkrieges umfangreiche Unterstützung von Iran und der Hezbollah, was auf seine zentrale Stellung innerhalb der »Achse des Widerstands« hindeutet. Bemerkbar ist, dass das syrische Regime (auch durch Mithilfe seines russischen Verbündeten) seit 2018 zunächst an der regionalen und später an der globalen Rehabilitation Syriens arbeitet. Widersprüchlich zu seinen früheren Positionen nutzt das syrische Regime nun den Krieg gegen Gaza, um sich von der Achse zu distanzieren und seine regionale und globale Rehabilitierung voranzutreiben.
Auch hier lassen sich einige Beobachtungen anstellen:
- Präsident Assad hat sich nicht zum Jerusalem-Tag am 5. April geäußert, was in starkem Gegensatz zu den übrigen politischen und geistlichen Führern der Achse steht, die an diesem Tag starke anti-israelische Botschaften verkündeten.
- Ganz allgemein hat es seit Beginn des Gazakrieges keine offizielle Kommunikation zwischen dem syrischen Regime und politischen Vertretern der Achse gegeben und das syrische Regime wird in den offiziellen und angeschlossenen Medien nicht erwähnt. Ebenso war es bei den letzten Treffen mit den Parteien der Achse auffällig abwesend.
Mit seiner Abwesenheit in diesen Netzwerken zeigt das syrische Regime, dass es sich von der Achse abwendet.
Drei weitere Entwicklungen vor und seit dem Ausbruch des Gazakrieges haben dem syrischen Regime maßgeblich in seinem Bestreben geholfen, seine regionale Rehabilitation voranzutreiben.
(1) Die Hamas und das syrische Regime haben eine schwierige Beziehung. Die Hamas ist die palästinensische Muslimbruderschaft, deren syrischer Zweig seit den 1980er Jahren verboten ist. Trotz dieses Verbots hatte das syrische Regime die Hamas-Führung jahrzehntelang in Damaskus willkommen geheißen. Die Beziehung zerbrach jedoch aufgrund der gewaltsamen Unterdrückung des Aufstands durch das Regime im Jahr 2011. Der syrische Bürgerkrieg stellte eine Herausforderung für die Hamas dar, da sie ideologisch mit der syrischen Muslimbruderschaft verbunden war und das Bild einer Gruppe verkörperte, die gegen Unterdrückung kämpft. Nach anfänglicher Zurückhaltung wurde die Hamas sowohl von Syrien als auch von Iran unter Druck gesetzt, das Assad-Regime zu unterstützen. Dies führte im Februar 2012 zum Bruch, als Ismail Haniyeh offiziell bestätigte, dass die Hamas Damaskus verlassen habe. Trotz einer erneuten Annäherung ab 2022 hat die Beziehung nie wieder das vorherige Niveau an Verbundenheit und politischer Solidarität erreicht. Dies ist unter anderem daran ersichtlich, dass trotz des Wunsches der Hamas ihre Büros in Damaskus bis heute geschlossen bleiben (vgl. Sarmini und Fares 2022). Der Gazakrieg zeigt in mehrfacher Hinsicht, wie tief die Meinungsverschiedenheiten zwischen dem syrischen Regime und der Hamas sind. Die regimetreuen Medien konzentrierten sich bei der Berichterstattung über den Gazakrieg auf die israelischen Aggressionen und ignorierten die Hamas völlig. Die erste Erwähnung der Hamas durch offizielle Stellen war die Verurteilung der Ermordung von Ismail Haniyeh in Iran, doch auch hier lag der Schwerpunkt der offiziellen Stellungnahme auf der Verurteilung der israelischen Verletzung der iranischen Souveränität. Durch diese Distanz zur Hamas gerät das syrische Regime derzeit weniger in Rechtfertigungszwang, als dies in der Vergangenheit bei einem ähnlichen Grad der Eskalation der Fall gewesen wäre.
(2) Weiter unterhält der wichtigste Verbündete des Regimes, Russland, enge diplomatische Beziehungen zu Israel und setzt sich für Stabilität im Süden Syriens ein, der an die von Israel besetzten Golanhöhen grenzt. Nach Beginn des Krieges in Gaza im vergangenen Oktober wurden von Syrien aus mehrere Raketen auf die Golanhöhen abgefeuert. In diesem Jahr wurde bekannt, dass Russland einen neuen Stützpunkt in Quneitra nahe der Grenze zum Golan errichtet hat, angeblich um zu verhindern, dass Iran oder mit ihm verbündete Milizen syrische Gebiete für Angriffe auf Israel nutzen (vgl. Nehme 2024). Darüber hinaus soll Putin bei einem Besuch in Moskau im Juli Assad gedrängt haben, seine Abhängigkeit von Iran zu verringern und sich seinen arabischen Nachbarn und der Türkei anzunähern (vgl. The Syrian Observer 2024b). Als Generalmajor Hossam Luka, Leiter des Allgemeinen Nachrichtendienstes des syrischen Regimes, Mitte August den Libanon besuchte, traf er sich nicht mit dem Generalsekretär der Hezbollah, Hassan Nasrallah, was ein Zeichen für einen solchen Politikwechsel sein könnte (vgl. The Syrian Observer 2024c).
(3) Nicht zuletzt ist Syrien in den letzten Jahren in den »arabischen Schoß« zurückgekehrt und bemüht sich um bessere Beziehungen zu den wohlhabenden Golfstaaten, in der Hoffnung, dass diese den Wiederaufbau des zerstörten Landes finanzieren können. Im Jahr 2018 haben die Vereinigten Arabischen Emirate wieder diplomatische Beziehungen zu Syrien aufgenommen und sind führend bei seiner Wiedereingliederung in die arabische Welt. Saudi-Arabien verfolgt seit dem verheerenden Erdbeben von 2023, das Syrien und die Türkei erschütterte, eine ähnliche auf Stabilisierung fokussierte Annäherungspolitik. Kürzlich hat Saudi-Arabien Berichten zufolge trotz westlicher Sanktionen Ersatzteile und Ausrüstung für die angeschlagene zivile Luftflotte Syriens geliefert (vgl. The New Arab 2024). Die US-Regierung hat die Normalisierung der Beziehungen zu Syrien zwar kritisiert, aber keine Schritte unternommen, um sie zu stoppen, was darauf hindeutet, dass auch Washington derzeit nicht grundsätzlich gegen die Rehabilitierung des syrischen Regimes ist. Der Versuch des syrischen Regimes, sich wieder in die Politik der Arabischen Liga einzugliedern, bedeutet ganz praktisch, dass es Israel zwar verurteilt, aber keine politischen oder militärischen Aktionen unternimmt.
Die syrische Neupositionierung scheint sogar auf die Rehabilitation durch internationale Akteure abzuzielen, die nach möglichen Evakuierungswegen aus dem Libanon suchen, falls der Konflikt zwischen Israel und der Hezbollah weiter eskaliert. Die syrische Botschaft in Beirut hat Berichten zufolge ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit in einem solchen Fall signalisiert (vgl. Haid 2024). Hunderttausende Libanes*innen sind bereits in das Nachbarland geflüchtet.
Diese Schritte des syrischen Regimes deuten darauf hin, dass es den Krieg gegen den Gazastreifen nutzt, um sich weiter von der »Achse des Widerstands« zu distanzieren und sich den Positionen der wichtigsten Verbündeten der USA in der Region anzunähern, vor allem Saudi-Arabiens, der Vereinigten Arabischen Emiraten und Ägyptens. Ironischerweise könnten diese Schritte dem Land helfen, seine regionale und sogar globale Rehabilitierung zu erreichen, nachdem es aufgrund des brutalen Vorgehens gegen die eigene Bevölkerung mehr als zehn Jahre lang ein Pariastaat war.
Schlussfolgerung: Wohin steuert Syrien?
Der Gazakrieg hat die Region auf den Kopf gestellt. Doch weit davon entfernt, die Dynamiken entscheidend zu verändern, hat er einen Trend verstärkt, der bereits in den letzten Jahren zu beobachten war: die Wiedereingliederung des syrischen Regimes in den regionalen Mainstream. Während es weiterhin abgedroschene Slogans verwendet, hat es sich in Verhalten und Rhetorik bemerkenswert von den anderen Mitgliedern der »Achse des Widerstands« entfernt. Dies hat mehrere Gründe, von denen der wichtigste darin besteht, sich nicht in eine direkte Konfrontation zwischen Israel und den USA einerseits und Iran und dessen nichtstaatlichen Verbündeten andererseits hineinziehen lassen zu wollen. Langfristig dient dieses Verhalten jedoch vor allem dazu, die Wiedereingliederung Syriens in die arabische Welt zu erreichen und Assads Regime Legitimität und finanzielle Unterstützung zu sichern. Sicherlich wird dieses Verhalten von der US-Regierung genau beobachtet, die sich der Rehabilitierung des syrischen Regimes nicht zu widersetzen scheint, solange es die Kerninteressen Washingtons in der Region nicht gefährdet. Dies ist unserer Ansicht nach eine völlig falsche Botschaft an einen Herrscher, der für die Tötung und Vertreibung von hunderttausenden Syrer*innen verantwortlich ist.
Die Aussicht auf Rehabilitation hat kürzlich auch Europa erreicht. Vertreter*innen aus sieben europäischen Ländern – Österreich, der Tschechischen Republik, Zypern, Griechenland, Italien, Malta und Polen – erklärten Anfang Juni, dass sich die Lage im Land so weit entwickelt habe, dass der Status der syrischen Geflüchteten neu bewertet werden könne (vgl. Heydemann 2024). Ein Gericht in Münster erklärte kürzlich, dass Syrien nun sicher für die Rückführung von Geflüchteten sei, eine Entscheidung, die der tatsächlichen Situation im Land widerspricht (vgl. Tagesschau 2024, Bank und Herrschner 2024). Wenn sich dieser Kurs fortsetzt, könnte das syrische Regime bald nicht nur in den Genuss einer möglichen Wiederherstellung der diplomatischen Beziehungen kommen, sondern sich auch neue Finanzierungsquellen erschließen, was eine der brutalsten Diktaturen der Welt stabilisieren würde. Tragischerweise wird der Krieg in Gaza für dieses Ziel instrumentalisiert.
Literatur
Aktionsgruppe für Palästinenser in Syrien (2023): السلطات السورية تشدد قبضتها الأمنية على المخيمات („Die syrischen Behörden verschärfen ihre Sicherheitskontrolle über die palästinensischen Lager“), Actionpal.org.uk, 19.11.2023, URL: actionpal.org.uk/ar/post/19702.
al-Allouni, R.; al-Jazaeri, R. (2023): People’s Assembly condemns Israeli aggression on al-Mamdani Hospital, Gaza Strip. SANA, 17.10.23, URL: sana.sy/en/?p=318968.
Bank, A.; Herrschner, R. (2024): Syria Is Not Safe: A Look to Its Regions. GIGA Focus Middle East 5. Hamburg: German Institute for Global and Area Studies.
Enab Baladi (2024a): ثلاث رسائل في خطبة عيد الفطر أمام بشار الأسد („Drei Botschaften in der Eid al-Fitr-Predigt vor Bashar al-Assad“). Meldung, 10.4.2024. URL: enabbaladi.net/695229/.
Enab Baladi (2024b): الأسد يكثف ظهوره على وقع رد إيراني محتمل ضد إسرائيل („Assad verstärkt seine Auftritte inmitten einer möglichen iranischen Antwort auf Israel.“) Meldung, 13.4.2024. URL: enabbaladi.net/695423/.
Fabian, E. (2024a): Iran’s top commander in Syria killed in airstrike; Tehran blames Israel, vows revenge. The Times of Israel, 1.4.2024.
Fabian, E. (2024b): Iran Fires Some 300 Drones, Missiles at Israel in First-ever Direct Attack; 99 % Downed. The Times of Israel, 14.4.2024.
Haid, H. (2024): Assad Turns Escalation in Gaza and Lebanon to his Advantage. Al Majalla English, 19.8.2024.
Hassan, H. (2024): Assad’s Plan To Keep Syria Out of the War in Gaza. New Lines Magazine, 27.9.2024
Heydemann, S. (2024): Syria Normalization: The Failure of Defensive Diplomacy. Brookings Institution, 2.8.2024.
Nehme, Y. (2024): ما أهداف القاعدة الروسية الجديدة قرب حدود الجولان السوري المحتل؟ („Was sind die Ziele der neuen russischen Stützpunktes nahe der Grenze des besetzten syrischen Golan?“) Arabi21, 3.9.2024. URL: arabi21.com/story/1622576.
Sarmini, M.; Fares, O. (2022): Situation Assessment Restoration of Relations between Hamas and the Syrian Regime. Jusoor Center for Studies, 20.6.2022.
Syrian Arab Network Agency (SANA) (2023): Meldung vom 7.10.2023, URL: sana.sy/?p=1975728.
Syrian Presidency (2023): Offizieller Facebook Post Syrisches Präsidialamt, 7.10.2023, URL: facebook.com/photo/?fbid=720914890074827.
Tagesschau (2024): Keine Gefahr durch Bürgerkrieg. Gericht Verneint Schutzstatus für Syrer. Meldung, 23.7.2024.
The New Arab (2024): Syria Receives Plane Parts from Saudi Arabia Despite Sanctions. Meldung, 27.5.2024.
The Syrian Observer (2024a): Is Assad Leaving the ‘Axis of Resistance.’ Meldung, 16.8.2024.
The Syrian Observer (2024b): Russia Urges Assad to Expand International Ties, Distance from Iran Amid Syrian Power Struggle. Meldung, 14.8.2024.
The Syrian Observer (2024c): Luka in Beirut Without Meeting Nasrallah: Signs of Disagreement Under Russian Pressure. Meldung, 15.8.2024.
Mustafa Karahamad ist Doktorand an der Goethe-Universität Frankfurt und assoziierter Forscher am Peace Research Frankfurt (PRIF) im Programmbereich Transnationale Politik. Seine Forschung konzentriert sich auf muslimische religiöse Institutionen, ihre staatlichen Strukturen und die Legitimierung politischer Gewalt im Nahen Osten.
Regine Schwab ist wissenschaftliche Mitarbeiterin (PostDoc) am PRIF und Lehrbeauftragte an der Goethe-Universität Frankfurt. Sie forscht zu innerstaatlichen Konflikten, nicht-staatlichen bewaffneten Gruppen und Gewalt gegen Zivilist*innen in der MENA Region.