Gaza-Krieg - bis zum nächsten Mal?
von Udo Steinbach
Regierungen von 50 Staaten schickten Vertreter nach Kairo. Am 12. Oktober trafen sie sich dort in Sachen Gaza, diesmal als Geber für den Wiederaufbau der Stadt und des »Streifens«. Das Ergebnis (mehr als vier Milliarden Euro) übertraf sogar die palästinensischen Erwartungen.
Die Hilfsbereitschaft ist löblich, und es kann nach außen Aktionismus verbreitet werden. Unüberhörbar aber war der Zweifel unter den Anwesenden an der Sinnhaftigkeit ihres Tuns. Skepsis lag in der Luft, ob Gaza wirklich wiederaufgebaut werden kann, solange es keinen stabilen Frieden zwischen Israel und den Palästinensern gibt. Die defätistische Formel »nach dem Krieg ist vor dem Krieg« ist fast schon zur Binsenweisheit geworden.
In einem offenen Brief deutscher Nahostexperten an Bundesregierung und Bundestag vom 19. August 2014 heißt es kategorisch: „Ohne Aufhebung der Blockadepolitik gibt es keinerlei Perspektive für die Menschen in Gaza und keine Chance für die Zweistaatenlösung.“ Nichts freilich ist in den Wochen seitdem geschehen. Wo keine Chance ist, gibt es nur zwei »Lösungen«: die Suche nach einem besseren Platz auf der Welt und die Fortführung des Kampfes mit immer radikaleren Mitteln. Demgemäß ist der Anteil der Flüchtlinge aus Gaza, die in Europa Asyl suchen, sprunghaft gewachsen. Und der Gaza-Krieg 2014 war länger, grausamer und verlustreicher als der Gaza-Krieg 2008/9.
Wird aber aus dem Aktionismus von Kairo ein politischer Prozess? Diese Frage richtet sich an die Regierenden in den Ländern, die ihre Vertreter geschickt hatten, namentlich an die USA und die Europäische Union. Die Antwort muss wohl eher skeptisch ausfallen. Schon der Gaza-Krieg selbst ließ den fatalen Eindruck entstehen, er werde in einem politischen Vakuum geführt: keine entschiedenen Proteste oder entschlossenen Bemühungen, den Krieg anzuhalten. An der Spitze der politischen Agenda standen andere Konflikte: die Bedrohung Europas durch die Entwicklungen in der Ukraine und der Schock über den Vormarsch einer Terrormiliz im arabischen Nahen Osten. Demgegenüber war Gaza nur ein Nebenschauplatz, der die Sicherheit der USA und der EU nicht unmittelbar berührte. Einige arabische Regierungen ließen nahezu unverhohlen erkennen, dass sie nichts gegen eine Schwächung der Hamas, einen Ableger der ihnen bedrohlichen Muslimbruderschaft, hätten. So blieb es dem Generalsekretär der Vereinten Nationen überlassen, ohnmächtige Aufrufe an die Krieg führenden Parteien zu adressieren.
Gaza ist zum weißen Fleck auf der politischen Landkarte der westlichen Mächte geworden. Dies nutzt vorerst der israelischen Politik. Und die Regierung Netanjahu zögert nicht, die Gunst der Stunde zu nutzen. Neue Siedlungsprojekte wurden beschlossen, nicht zuletzt im Stadtgebiet von Ost-Jerusalem. Zugleich instrumentalisiert der israelische Premierminister die - nicht unverständliche - Phobie der internationalen Gemeinschaft vor der islamistischen Terrorgruppe des »Islamischen Staates«: Zwischen Hamas und IS(IS) gebe es keinen Unterschied; beide seien gleichermaßen Terrorbewegungen. Darin folgt er seinem Vorgänger und Lehrmeister Ariel Scharon, der nach dem Terrorakt des 11. September 2001 erklärt hatte, was dem einen sein bin Laden, sei dem anderen sein Arafat. Das sehen die bereits zitierten Nahostwissenschaftler anders: „Die Hamas bleibt, ungeachtet der Aktivitäten ihres militärischen Flügels“, so schreiben sie, „eine populäre politische Partei“, mit der der - kritische - Dialog nicht länger verweigert werden sollte. Die Gleichsetzung des palästinensischen Kampfes mit der Mordbrennerei einer Bande vom Schlage der Qa'ida und IS(IS) ist das Bekenntnis zur Verweigerung eines jeglichen Dialogs über eine politische Lösung.
Der Vorgänger von US-Präsident Obama, George W. Bush, war dem Diktum Ariel Scharons gefolgt; man hat gesehen, wohin das führte: in vier weitere Kriege um Palästina zwischen 2006 und 2014. Dass die internationale Gemeinschaft seinem Nachfolger nicht vehement widersprochen hat, ist Symptom fehlender Entschlossenheit, in Palästina endlich einzugreifen und eine politische Lösung herbeizuführen. Die Folge dürfte sein, dass Netanjahus Diktum zu einer »self fulfilling prophecy« wird. Wer nicht physisch auswandert, wandert geistig aus - ins Lager der Radikalen. Diese versprechen die »Lösung« auf einem Weg, dem eine aus der Religion begründete Radikalität das Ziel sowie die Gewissheit auf Erfolg verleiht. Die Gefolgschaft des islamistischen Radikalismus rekrutiert sich aus den vielen Spannungen, Konflikten und Entwicklungsdefiziten politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Natur im Vorderen Orient. Das soziale Elend, das sich in den letzten Jahren in weiten Teilen des Nahen Ostens verschärfte, hat das Rinnsal des Extremismus zu einem breiten Strom werden lassen. Die Not in Syrien, wo sich die Hälfte der Menschen auf der Flucht befindet, und in Gaza, wo die Menschen keine Chance auf ein menschenwürdiges Dasein mehr sehen, ist der Boden, auf dem Radikalismus gedeiht.
Während die Menschen in Gaza in Erstarrung verharren, sind auch in Israel die Kräfte erlahmt, die auf eine Kursänderung in Richtung auf einen Frieden mit den Palästinensern drängen. Ihre Stimmen klingen nur matt herüber; sie werden von einer Walze der öffentlichen Meinung erstickt, die weiterhin auf Konfrontation setzt. Sie erwarten Unterstützung aus dem Westen: aus den USA, aus Europa - auch aus Deutschland. Aber wo bleibt diese Unterstützung hierzulande? Aufrufe besagter Akademiker und anderer, in erster Linie humanitärer Organisationen, verhallen. Die politische Klasse lässt sie ins Leere laufen. Bei ihr gilt - weithin - der Grundsatz, dass in Deutschland »mit seiner Vergangenheit« Kritik an Israel nicht statthaft sei. Bemühte Erklärungen - vor allem zum Recht Israels, sich zu verteidigen - treten an die Stelle von Positionen, die Bezug nähmen zu den Prinzipien, auf denen die deutsche und europäische Außenpolitik beruht.
Ignoriert wurden auch die kritischen Einlassungen jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger in Deutschland, die forderten, die Vergangenheit nicht länger als Vorwand zu nehmen, um zu Verletzungen von Recht und Humanität zu schweigen. „Aber ist es nicht ziemlich billig, die Schuld bei den eigenen verstorbenen Vorfahren zu belassen und auf Gedenktagen zu zelebrieren und gleichzeitig aktuelles Unrecht zu rechtfertigen?“, schrieb Prof. Rolf Verleger, der Teile seiner Familie im Holocaust verlor.
Das fast reflexartig auf die Tagesordnung kommende Thema »Antisemitismus« - diesmal unter muslimischen Jugendlichen - erschien wie ein Ablenkungsmanöver. Wenngleich es kaum bestreitbar ist, dass Antisemitismus auch unter muslimischen Jugendlichen zu finden ist, war es doch irreführend, die aggressiven Parolen auf Demonstrationen gegen den Gaza-Krieg mit jenem irrationalen Rassismus gleichzusetzen, der zur Katastrophe des Holocaust geführt hat. Für den Umgang mit dem Islam in Deutschland wird es wichtig sein, sensibel zwischen Antisemitismus und einem Zorn zu unterschieden, der sich durch die Unterdrückungs-, Besatzungs- und Landnahmepolitik Israels insbesondere unter einem Teil der arabischen Jugendlichen aufgestaut hat. Mehr und mehr machen sie die westlichen Regierungen mitverantwortlich, und zunehmend bläst die ungelöste Palästinafrage dem islamistischen Radikalismus auch hierzulande Wind in die Segel. Es ist kurzsichtig, das Elend in Gaza und den Kampf gegen IS(IS) voneinander getrennt zu sehen.
So ist es also höchste Zeit zu handeln. Um der Palästinenser willen: Das menschliche Elend und die täglichen Schikanen einer Besatzungsmacht können nicht länger hingenommen werden. Um Israels willen: Es fühlt sich als starke Macht; das ist eine Fehleinschätzung, denn mit jedem Krieg wachsen Hass und Radikalität und die Zerstörungskraft der Waffen auf palästinensischer Seite. Allein der gelegentliche Beschuss des Flughafens von Tel Aviv hat angedeutet, wie verwundbar das Land ist. Nur ein Frieden mit den Palästinensern bewahrt Israel davor, in eine existenzbedrohende Lage zu geraten. Und um Europas willen: Eine stabile und friedliche Nachbarschaft ist eine elementare Voraussetzung seiner Sicherheit. Die mit Recht viel beklagten doppelten Standards sind kein Kavaliersdelikt. Sie zerstören die Glaubwürdigkeit der europäischen Politik fundamental in einer Zeit, da die Kräfte in der islamischen Nachbarschaft, die bemüht sind, einen Keil zwischen »den Islam« und »den Westen« zu schlagen, so stark sind wir selten zuvor. Dass auch Muslime in Europa (auch in Deutschland) den Rattenfängern verfallen, stellen wir mit Erschrecken fest. Nur die Rückkehr zu einer Politik, deren Grundlagen transparent und glaubhaft sind, wird Europa in seiner Nachbarschaft, die sich im Prozess eines tiefgreifenden Umbruchs und einer Orientierungskrise befindet, für die Zukunft attraktiv machen.
Der materielle Wiederaufbau Gazas kann nur im Kontext eines politisch abgesicherten Friedens gedacht werden. Europa muss handeln, dies auch dann, wenn die USA aus welchen Gründen immer nicht mitgehen können oder wollen. Während sich die Geldgeber in Kairo versammelten, tagte in Gaza - vier Monate nach ihrer Vereinigung - erstmals die palästinensische Einheitsregierung aus Fatah und Hamas. „Dieser Moment ist außergewöhnlich“, hieß es aus Gaza; das Treffen stärke die Versöhnung des palästinensischen Volkes. Die EU sollte diese Regierung stärken. Mit der Anerkennung des Staates Palästina hat Schweden soeben einen ersten wichtigen Schritt getan; andere Staaten der EU (auch Deutschland) sollten folgen. Auch die Bemühungen Palästinas, in möglichst zahlreichen Unterorganisationen der Vereinten Nationen vertreten zu sein, sollten Unterstützung finden. Extrem unfreundliche Reaktionen aus Jerusalem sind programmiert; sie sollten von der EU gelassen hingenommen werden. Brüssel kann auf die Vorteile verweisen, die Israel aus den vielfältigen wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Formen der Zusammenarbeit zieht. Die Regierung in Jerusalem muss vor die Entscheidung gestellt werden, ob sie diese weiter ausbauen und vertiefen oder ihre aggressive Besatzungspolitik fortsetzen will, die allem widerspricht, wofür Europa gern stehen möchte. Dafür aber müsste Jerusalem künftig die Kosten tragen.
„Niemand will Infrastruktur aufbauen, nur damit sie kurz darauf wieder zerstört wird“, kommentierte das Außenministerium nach der Geberkonferenz, auf der Deutschland erhebliche finanzielle Verpflichtungen eingegangen ist. Nun, der Ball liegt auch im Hof in Berlin. Er muss endlich gespielt werden. Andernfalls wird die nächste Geberkonferenz stattfinden, bevor der jetzt anstehende Aufbau abgeschlossen wird.
Udo Steinbach war von 1976-2006 Direktor des Deutschen Orient-Instituts in Hamburg. Von 2007-2010 lehrte er an den Universitäten Marburg und Basel und leitete von 2012-2014 das Governance Center Middle East/North Africa an der HUMBOLDT-VIADRINA School of Governance in Berlin.