W&F 2008/2

Gender, Flüchtlinge und bewaffnete Konflikte

von Annelise Ebbe

Bilder von Menschen, die in überfüllten Booten das Mittelmeer passieren und dabei ihr Leben riskieren, zeigen uns vorwiegend Männer, die auf der Flucht sind oder zur Migration getrieben werden. Die Vorstellung, dass Migration ein männliches Phänomen ist, täuscht allerdings.

Während Armeen zu 90% aus männlichen Soldaten bestehen, sind es in Flüchtlingslagern die Frauen, die 80% der Erwachsenen stellen. Diese Beobachtung ist für die folgende, genderwissenschaftliche Betrachtung der Flüchtlingsthematik grundlegend, da sie Aufschluss auf die Rollenverteilung in der heutigen Welt gibt. Eigenschaften wie Stärke und Ehre gelten als typisch für Männer und werden mit Gewalt und Dominanz in Zusammenhang gebracht. Demgegenüber werden Eigenschaften wie Sanftheit oder Fürsorglichkeit generell Frauen zugedacht und gelten als Zeichen der Schwäche und Unterwerfung. Die Geschlechterforschung über bewaffnete Konflikte hebt insbesondere die Unterschiede zwischen Frauen und Männern hinsichtlich ihrer Verhaltensweisen und Bedürfnisse sowie ihres Zugangs zu Ressourcen und Entscheidungsprozessen in Post-Konfliktsituationen hervor.

Infolge von bewaffneten Konflikten steigt der Anteil der von Frauen geführten Haushalte. Wenn ihre Männer einberufen, verhaftet oder im Krieg verschleppt werden, müssen die Frauen die Verantwortung für Kinder und Angehörige übernehmen. Sie sind dann zugleich Familienoberhaupt und Ernährerin, sorgen für Haushalt und Lebensunterhalt und übernehmen Aktivitäten außerhalb des Hauses. Da sie ohne ihre Männer größeren Gefahren ausgesetzt sind, veranlasst sie die prekäre Sicherheitslage häufig zur Flucht. Daher stellen sie 80% der weltweiten Flüchtlingszahlen.

Flüchtlinge in Tuzla

1995 besuchte ich ein Flüchtlingslager in Tuzla, einer Stadt im Osten Bosnien-Herzegowinas, wo sich vor allem Flüchtlinge aus Srebrenica aufhielten. Da der Großteil der männlichen Bevölkerung Srebrenicas dem Massaker der Serben zum Opfer gefallen war, befanden sich in dem Flüchtlingslager hauptsächlich Frauen. Durch die Gespräche mit ihnen bekam ich erstmals eine Vorstellung davon, was es bedeutete, auf der Flucht zu sein. Sie alle hatten ihr Hab und Gut verloren, ihre Ehemänner und Söhne, ihre Existenzgrundlage und ihre Heimat. Ihre Not schien mir endlos. Eine Frau aber sorgte sich um ein Problem, das keine der anderen erwähnt hatte: Sie beklagte, dass sie sich nun einen neuen Zahnarzt suchen müsse. Es war nicht so, als ob ein neuer Zahnarzt irgendeine Bedeutung für sie gehabt hätte. Doch später wurde mir klar, dass in diesem Moment ihr ganzes Trauma zur Sprache kam. Verglichen mit dem Verlust ihres Ehemanns, ihres Sohns, ihres Hauses und ihrer Existenzgrundlage war der Wechsel des Zahnarzt nichts dagegen. Dennoch musste sie ihn hinzufügen, denn alles andere war für sie unfassbar, erdrückend und in höchstem Maße traumatisierend. Sie konnte ihre Not nicht wirklich begreifen, doch um sie mir gegenüber zu kommunizieren, musste sie von Dingen erzählen, die nichts mit ihren traumatisierenden Erfahrungen zu tun hatten. Diese Begegnung hinterließ einen tiefen Eindruck auf mich.

Den Frauen von Srebrenica boten sich in Tuzla nur sehr wenige Möglichkeiten, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Viele von ihnen fertigten Stickarbeiten, doch diese Arbeit verlieh ihnen vielmehr ein Gefühl der Nutzlosigkeit, da sie von dem, was sie produzierten, unmöglich leben konnten. Lediglich Besucher aus dem Ausland, die die multiethnische, multikulturelle und multireligiöse Stadt Tuzla besuchten, nahmen ihre Produkte ab; andere Absatzmöglichkeiten gab es nicht.

Die Männer, die den Krieg überlebt hatten und nach Tuzla zurückkehrten, fanden nun eine von Frauen dominierte Stadt vor. Infrastruktur, Schulen und andere öffentliche Bereiche - vormals Domänen der Männer - wurden im Laufe des Krieges von Frauen übernommen. Viele der zurückgekehrten, traumatisierten Männer konnten sich in dieser »neuen«, von Frauen bestimmten Gesellschaft nicht mehr zurechtfinden. Hinzu kam, dass jetzt die US-Soldaten das Kommando von der NordBat Truppe übernahmen. Während die skandinavische NordBat Truppe bislang ohne Waffen in den Straßen patrouilliert hatte, waren die US-Soldaten niemals unbewaffnet. Dadurch wurde die Situation für Frauen - sowohl für die lokal ansässigen Frauen, als auch für die Flüchtlingsfrauen aus Srebrenica - extrem gefährlich. Der Grad an Gewalt in der Gesellschaft als solche sowie konkret die Gewalt gegen Frauen nahm extreme Ausmaße an.

Vertreibung, soziale Exklusion und Armut

Die Erfahrungen aus Tuzla zeigen, dass Flüchtlingsfrauen unverhältnismäßig benachteiligt werden. Dies gilt für ihre begrenzten Möglichkeiten, die Verantwortung für ihre Familien zu erfüllen, sowie für das gewachsene Maß an körperlicher und emotionaler Gewalt, dem sie ausgesetzt werden.

Flucht und Vertreibung implizieren soziale Exklusion und Armut. Wenn Probleme wie Lebensmittelknappheit oder die ungleiche Verteilung von Hilfsmitteln in Zeiten bewaffneter Konflikte verstärkt werden, sind Frauen und Mädchen in besonderem Maße von Unterernährung betroffen. Dies gilt vor allem für Schwangere und für stillende Mütter und muss beachtet werden, wenn Flüchtlingslager mit nationalen oder internationalen Hilfspaketen versorgt werden.

Mit dem Verlust ihrer Heimat verlieren viele Frauen auch ihr zu Hause als den traditionellen Ort ihrer Autorität und Privatsphäre. Dies bekommen sie besonders dann zu spüren, wenn sie sich in der öffentlichen Sphäre nicht ungezwungen bewegen können. Die fehlende Privatsphäre führt bei Vielen zu Gefühlen der Verzweiflung, die die äußeren Unannehmlichkeiten weit überwiegen. Nicht nur die eigenen Belange erfüllen sie mit Sorge, sondern vor allem diejenigen ihrer Kinder und ihrer weiteren Angehörigen.

Das UNHCR und geschlechtsspezifische Rechtsansprüche

In einem Diskussionspapier über „Richtlinien zur geschlechtsspezifischen Verfolgung“ des UNHCR wird konstatiert: „Die gewaltsame oder trügerische Rekrutierung von Frauen oder Minderjährigen zum Zwecke der Zwangsprostitution ist eine Form der geschlechtsspezifischen Gewalt. Frauen, die davor flüchten, müssen mit ernsthaften Konsequenzen rechnen, wie mit Vergeltungsschlägen von Schlepperbanden oder mit schweren Diskriminierungen. In einzelnen Fällen können daher Menschen, die Opfer des illegalen Handels zum Zweck der Zwangsprostitution wurden, Anspruch auf den Flüchtlingsstatus erheben, wenn ihr Heimatland nicht willens oder nicht fähig war, sie vor solchem Unrecht zu schützen.“ (UNHCR, Diskussionspaper 1/ 2005).

Frauenhandel

Bei einem Workshop in Serbien im Jahr 2004 zum Thema »Frauenhandel« stellte sich heraus, dass sowohl die jungen binnenvertriebenen Frauen, als auch die jungen serbischen Frauen vor Ort massiv von Schlepperbanden bedroht waren. Diese warben in Zeitungen um Frauen, die bei der „Betreuung von Kindern im Ausland“ etc. mithelfen sollten. In Wahrheit erwiesen sich die meisten dieser Anzeigen als Vorwand, um mit Frauen in Kontakt zu kommen, die dann zu Zwecken der Zwangsprostitution verschleppt wurden.

Wenn es kaum Zukunftsperspektiven gibt, was für viele junge Frauen - und vor allem für die binnenvertriebenen Frauen - in Serbien gilt, ist das Risiko, an eine Schlepperbande zu geraten, extrem hoch. Ich begegnete Frauen, die in ganz Serbien Workshops für Schulmädchen veranstalteten, um vor den Praktiken solcher Banden zu warnen.

Flüchtlingsfrauen und reproduktive Gesundheit

Diverse Studien zeigen, dass Frauen, die Vertreibung und Exil erfahren, verschiedenen gesundheitlichen Schwierigkeiten ausgesetzt sind. Das größte Problem stellt der Kontrollverlust über den eigenen Körper dar. Der Mangel an Nahrung wirkt sich beispielsweise auf Frauen und Männer unterschiedlich aus. Frauen sind besonders von dem Mangel an Eisen, Kalzium, Jod und Vitamin C betroffen. Gerade der Eisenmangel kann für schwangere Frauen lebensbedrohlich sein. In der Schwangerschaft oder in der Stillzeit können unterernährte Frauen ihre Kinder nur unzureichend mit Nährstoffen versorgen und damit ihr Überleben kaum sichern. Hilfslieferungen müssen daher vor allem die Bedürfnisse dieser speziell gefährdeten Gruppen berücksichtigen. Allerdings hilft das bloße Bereitstellen der am meisten benötigten Nahrungsmittel nicht, das Problem der Unterernährung an sich zu lösen. In vielen Gemeinschaften ist es üblich, die Männer als erstes zu versorgen, was wiederum bedeutet, dass die Frauen und Kinder am meisten leiden, sobald die Vorräte knapp werden. Wenn Nahrung zu einer stark begrenzten Ressource wird, entsteht ein Wettbewerb um den Zugang und um die Kontrolle von Nahrungsmitteln, bei dem die Frauen in der Regel verlieren.

Der Zusammenhang zwischen Flüchtlingen, Maskulinität und Krieg

Es gilt, die Beziehung zwischen Männern, Patriarchat und Krieg ebenso zu untersuchen wie das Verhältnis zwischen Frauen und Frieden. Männer und Frauen erleben den Krieg sehr unterschiedlich, von Phasen des Konflikts bis hin zu Phasen des Friedens und diversen Übergangsphasen. Frauen sind dabei einem weit höheren Risiko ausgesetzt, zur Flucht getrieben zu werden, wohingegen Männer wesentlich mehr gefährdet sind, einberufen zu werden und im Krieg umzukommen. Der bereits erwähnte Prozentsatz der Männer (90) in Armeen muss im Vergleich zum Anteil der Frauen (80) in Flüchtlingslagern näher analysiert werden. Wenn die Eigenschaften, die traditionell Männern zugeordnet werden, tatsächlich Stärke und Ehre sein sollen, und die Merkmale, die Frauen zugeordnet werden, Zartheit und Fürsorge sein sollen - was im Kontext von Flüchtlingsfrauen von höchster Bedeutung ist -, zeichnet sich am Ende auf beiden Seiten ein unvollständiges Bild des Menschen ab.

Das Patriachat ist nicht nur von hierarchischen, pyramidenförmigen Machtstrukturen gekennzeichnet, sondern auch von aggressiven Rollenkonzeptionen. Patriachale Strukturen implizieren neben der Bevorzugung von Männern bzw. von klassischen, männlichen Verhaltensmustern auch eine Kultur des Krieges. Männer nehmen diese patriachale Kultur des Krieges von frühester Kindheit an. Auch wenn die meisten ihre Spielzeugwaffe oder auch jede andere Waffe später wieder ablegen, bleibt die patriarchale Gewalt in ihrem Inneren weiterhin bestehen.

Es ist unsere Pflicht und Verantwortung als Frauen- und/oder Feministinnen, die für eine Kultur des Friedens eintreten, über diese Problematik zu sprechen, sich der Strukturen bewusst zu werden und gegen sie anzugehen. Wir müssen die Frauen, Mädchen, Männern und Jungen in unserer Umgebung lehren, dass wir eine bessere Welt erschaffen können, gemeinsam, ohne eine Kultur des Krieges. Wenn wir nach einer sicheren Welt streben, brauchen wir Frauen wie Männer, die als gleichberechtigte Partner die Verantwortung für die öffentliche Sicherheit übernehmen. Das Wissen über Geschlechterrollen kann dazu beitragen, Frieden zu erreichen.

Literatur

Ebbe, Annelise (2005): Women, Non-Violence and a Patriarchal Culture of War, in: International Peace Update 70 (2005) 2.

UN ESCWA Centre for Women (2006): ESCWA Newsletter, Vol. 1, Issue 1.

UNHCR (2005): The UN Refugee Agency, Discussion Paper 1 (2005).

United Nations Security Council (2006): Resolution 1674 on Protection of Civilians in Armed Conflicts.

Walker, Bridget (1995): The question on gender, RPN 20, Oxfam.

Women's International League for Peace and Freedom (2008): International Women's Day Disarmament Seminar. Statement and Report.

Annelise Ebbe, M.A., ist Präsidentin der Internationalen Frauenliga für den Frieden (WILPF) und lebt in Kopenhagen. Im Jahr 2005 wurde sie als eine der »1000 Frauen für den Frieden« für den Friedensnobelpreis nominiert. Übersetzung: Editha von Colberg

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2008/2 Migration und Flucht, Seite