»Gender-Ideologie« in Kolumbien
Oder: Wie man Ängste schürt, um den Frieden zu behindern
von Alejandra Londoño
Am 2. Oktober 2016 wurde das Friedensabkommen in Kolumbien in einem Plebiszit mit knapper Mehrheit abgelehnt. Die Wähler*innen entschieden, dass der bewaffnete Konflikt mit der FARC-EP nicht über den Verhandlungsweg gelöst werden sollte – oder zumindest nicht mit dem zur Abstimmung stehenden Abkommen. Nach 55 Jahren Krieg war dieses Ergebnis sehr schmerzlich für alle, die sich für ein Ende dieses langen und bitteren Krieges engagiert hatten. Vor allem aber war es schmerzlich für die Menschen, die in den besonders marginalisierten Regionen des Landes tagtäglich unter diesem Krieg leiden. Dieser Beitrag untersucht, welchen Anteil die »Gender-Ideologie«, die von den Kirchen in den Mittelpunkt der Debatte um das Abkommen gestellt worden war, daran hatte, dass sich das »Nein« zum Friedenabkommen durchsetzte.
Kolumbien ist ein lateinamerikanisches Land mit ca. 48 Mio. Einwohner*innen. Es hat Zugang zum Atlantischen wie zum Pazifischen Ozean, was es im Verlauf der Geschichte immer wieder zu einem strategisch interessanten Ort für ökonomische und militärische Expansionen machte, u.a. aus Nordamerika. Seit dem kolonialen Genozid, der vom heutigen Spanien ausgegangen war, ist Kolumbien ein Raum konstanter Spannungen und Auseinandersetzungen, ein Ort, an dem sich Landbesitz, Reichtum und das Wissen in den Händen einiger weniger Familien und externer Konzerne befinden. In Kolumbien gibt es mindestens 102 indigene Völker1 sowie eine große Bevölkerungsgruppe, die von der afrikanischen Diaspora abstammt, also Nachfahren jener Menschen, die aus Afrika entführt worden waren, um auf diesem Kontinent versklavt zu werden.
Diese Fakten gehören an den Anfang, um aufzuzeigen, dass die Probleme, die in Kolumbien vorherrschen, durchwoben sind mit Themen, die weit in die Geschichte zurückreichen. Zugleich sind sie eng mit den aktuellen politischen und ökonomischen Strategien verknüpft und führen zu ethnischen und durch Rassismus geprägte Spannungen. Dies alles spiegelt sich in der Ausbreitung von politökonomischen Vorhaben wider, die vom andinen Zentrum des Landes ausgehen, welches mit der Hauptstadt Bogotá nicht nur politisch-administratives Zentrum, sondern selbst in den revolutionärsten Zeiten immer auch Zentrum des ideologischen Konservatismus und der katholischen Religion war und ist. Von hier breitete sich im 19. Jahrhundert über eine klientelistische Maschinerie, die von den immer gleichen Familien, den immer gleichen weißen bzw. mestizischen Gesichtern angeführt wurde, die Zwei-Parteien-Politik über das Land aus.
Seit über 55 Jahren leidet Kolumbien unter einem äußerst komplexen bewaffneten Konflikt, in dem es viele unterschiedliche Interessen gibt. Er ist geprägt durch die Spannungen, die der polit-ökonomische Zentralismus und die ethnischen und durch Rassismus geprägten Auseinandersetzungen mit sich bringen. Konfliktakteure sind verschiedene (linke) Guerillagruppen, (rechte) Paramilitärs, Unternehmer, multinationale Konzerne, staatliche Akteure, das Militär und die Streitkräfte sowie bewaffnete Milizen im Dienste des Drogenhandels. Zwischen 1958 und 2012 hat der Konflikt zwischen diesen Akteuren laut dem Nationalen Zentrum für Historische Erinnerung (Centro Nacional de Memoria Histórica) 218.094 Menschen das Leben gekostet.
Einer der bekanntesten Akteure dieses Konflikts sind die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens – Volksarmee (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia, FARC-EP), ursprünglich eine Bauernguerrilla, die sich Mitte der 1960er Jahre entschied, zu den Waffen zu greifen, um u.a. eine Landreform durchzusetzen, die dem Landbedarf in Kolumbien gerecht würde. 2012 nahm die kolumbianische Regierung Friedensverhandlungen mit dieser Guerilla auf, die 2016 mit der Unterzeichnung eines Friedenvertrags abgeschlossen wurden.2
Die FARC-EP waren mehr als 50 Jahre in den urbanen und vor allem in den ruralen Regionen des Landes mit etwa 6.000 bewaffneten Männern und Frauen präsent.3 Die »Politik der demokratischen Sicherheit« des damaligen Präsidenten Álvaro Uribe Vélez (2002-2010) hatte u.a. zum Ziel, die FARC-EP als primären öffentlichen Feind der kolumbianischen Gesellschaft auszuweisen. Angesichts eines derart langandauernden Krieges war es leicht, Gewaltakte gegen die vor allem ländliche Zivilgesellschaft in den Mittelpunkt zu stellen, um mit den Taten zugleich das gesamte politische Projekt dieses bewaffneten Akteurs zu delegitimieren.
Die Kampagne von Uribe Vélez gegen die FARC-EP brachte nicht nur eine weitere militärische Eskalation des Krieges mit sich, sondern es wurden verschiedene weitere Strategien eingesetzt: Aufbau und Expansion des (rechten) Paramilitarismus, »Fake news« bzw. Falschdarstellung von Informationen, u.a. durch Mundpropaganda zwischen Dörfern und auf dem Land, sowie die massenhafte Verbreitung von zwei zentralen Argumenten: Erstens sei die FARC-EP keine Guerilla, sondern eine terroristische Vereinigung, und zweitens bestünde die einzige Möglichkeit, den Krieg zu gewinnen, in der militärischen Vernichtung der FARC-EP und ihrer politischen Basis.
Diese Gesellschaft, von der bald ein Großteil überzeugt war, dass die einzige Lösung des Krieges die Vernichtung der FARC-EP sei, verfolgte 2012 in den Massenmedien, wie diese Guerilleros und Guerilleras weiß gekleidet und unbewaffnet vor den Fernsehkameras ihre politische Bereitschaft für ein Friedensabkommen verkündeten. Die Ablehnung einer solchen Lösung war in vielen Sektoren der Gesellschaft zu spüren, vor allem in den urbanen Zentren, die relativ wenig vom Krieg betroffen waren. Daneben gab es aber natürlich auch ein Kolumbien – vor allem das indigene, schwarze, ländliche und arme Kolumbien –, das nach Jahren des Leidens unter dem Krieg dieses Friedensabkommen zumindest als eine Möglichkeit ansah, nicht jede Nacht einen Bombenangriff in ihrer Nähe zu erleben.
Die Spannung zwischen Befürwortern und Gegnern begleitete den gesamten Friedensprozess und beschwor erneut die historischen, seit der Kolonialzeit bestehenden ethnischen und durch Rassismus geprägten Klassenkonflikte herauf, die sich in Kolumbien in immer unterschiedlichem Gewand, doch stets gleichem Inhalt manifestieren. Überdies spitzte sich eine spezielle Debatte zu: die Debatte um den so genannten Genderfokus im Friedensabkommen«.
Zwischen Genderfokus und »Gender-Ideologie«
Feministische und Frauenorganisationen hatten dafür gesorgt, dass in Kolumbien bei jedem einzelnen Punkt des Friedensabkommens ein transversaler Genderfokus berücksichtig wurde – das war weltweit ein Novum, dem international applaudiert wurde. Frauen und in einigen Punkten auch LGBTI (Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transsexuelle und Intersexuelle) sollten an solchen Entscheidungen beteiligt werden, bei denen es um Landbesitz geht, um politische Partizipation, um die Lösung der Probleme mit dem illegalen Drogenanbau etc. Außerdem sollten sie als besondere Opfer des bewaffneten Konflikts anerkannt werden, was eine symbolische und materielle Wiedergutmachung impliziert und anerkennt, dass Gender als Ordnungsmacht fundamental für den bewaffneten Konflikt war bzw. ist und spezifische Folgen für Frauen und LGBTI mit sich bringt.
Diese Anerkennung war Teil der Version des Friedensabkommens, die beim Plebiszit im Oktober 2016 zur Abstimmung stand; in der überarbeiteten Version, die Ende November 2016 schließlich vom Kongress verabschiedet wurde, fehlte dieser Teil überwiegend. Das Plebiszit war sehr kurzfristig anberaumt worden: Erst wenige Tage vor der Unterzeichnung des Friedensabkommens durch die Regierung und die FARC-EP hatte der amtierende Präsident Juan Manuel Santos entschieden, die Bevölkerung solle befragt werden und mit »Ja« dafür oder mit »Nein« dagegen stimmen können. Zur Bestürzung vieler Menschen und Gemeinden gewann am 2. Oktober 2016 mit einer knappen Mehrheit (50,21 %) das »Nein«, obendrein hatte nur gut ein Drittel der Abstimmungsberechtigten überhaupt ein Votum abgegeben. Nur die wenigsten der Wähler*innen hatten das Abkommen tatsächlich gelesen, stattdessen folgten viele den Empfehlungen der diversen Abstimmungskampagnen in den verschiedenen Regionen.
Am 4. Oktober 2016, zwei Tage nach der Wahl, wurden Aussagen von Juan Carlos Vélez (Rechtsaußenpolitiker und Direktor der »Nein«-Kampagne) bekannt, der sich damit brüstete, die »Nein«-Kampagne sei die einfachste und billigste gewesen, die jemals in der Geschichte Kolumbiens durchgeführt worden sei. Er bekannte ungeniert, dass sie auf manipulativen und falschen Aussagen beruht hatte, wie beispielsweise: Wenn das »Ja« gewinne, werde Kolumbien ein Castro-Chavistisches Land;4 den Guerillera*s würden 600 US$ ausbezahlt, nur weil sie bei der Guerilla waren; es werde eine Steuererhöhung geben; die Straflosigkeit werde erlaubt; und natürlich: Kolumbien würde eine »Gender-Ideologie« aufgezwungen.
Die »Nein«-Kampagne hatte es sehr einfach – sie brauchten lediglich ein paar Aussagen in die Welt zu setzen, die Panik in Teilen der kolumbianischen Gesellschaft schürten und bei dem eingangs beschriebenen, zentralistisch strukturierten Teil der Nation auf fruchtbaren Boden fielen. Dieser Bevölkerungsteil hatte sich seit Jahrhunderten über die »guten Manieren und die guten Lebenswege«, verkörpert durch die heterosexuelle katholische Kleinfamilie, definiert sowie über den Mythos des »Mestizaje« (der Mythos der Vermischung der Nationen), der jährlich am »Tag der Rasse« gefeiert wird – ein Vehikel, um den alltäglichen strukturellen und institutionellen Rassismus im Land zu übertünchen.
Dieser Teil des Landes sagte bei dem Plebiszit zum großen Teil »Nein« zu dem Friedensvertrag, während in den »peripheren« Regionen des Landes, wo der Krieg am meisten und härtesten gespürt wird, der Großteil der Menschen mit »Ja« stimmte. Gerade in diesen Regionen konnten jedoch viele Menschen gar nicht wählen gehen, weil der weiß-mestizische Zentralismus durch die strukturelle Verarmung in den ländlichen Regionen Rahmenbedingungen geschaffen hatte, die dies verhinderten. In der Pazifikregion Kolumbiens beispielsweise verfügen viele Menschen nicht über einen Personalausweis, der Voraussetzung zur Teilnahme an einer Wahl ist, konnten sich für das Plebiszit nicht registrieren oder konnten aufgrund mangelnder Infrastruktur und fehlenden Transportmöglichkeiten nicht zu den teils tagesweit entfernten Wahlurnen gelangen.
Für das »Nein« großer Bevölkerungsteile spielte also der Streit um die »Gender-Ideologie« eine wichtige Rolle. Aber was meinte die »Nein«-Kampagne mit diesem Begriff? Welche Mittel nutzte sie, um ihren Argumenten Gewicht zu verleihen? Was sagte sie über diejenigen, die für den Friedensprozess waren? Und welcher Logik folgte die »Linke«, die noch immer denkt, dass »diese Themen der Feminist*innen« zwar schon irgendwie wichtig sind, aber dennoch hintan gestellt werden könnten?
»Gender-Ideologie« als wirkmächtige Ressource der katholischen Kirche
Der Begriff »Gender-Ideologie« ist als diskursive Ressource zu verstehen, über die innerhalb der katholischen Kirche Konsens herrscht und die im 21. Jahrhundert an Bedeutung gewann. Im Dokument »Ehe, Familie und ‚faktische Lebensgemeinschaften‘« des Vatikan wird »Gender-Ideologie« so beschrieben: „[…] In diesem Prozeß kultureller und menschlicher Entstrukturalisierung der Ehe als Institution darf man die Auswirkung einer gewissen »Gender-Ideologie« nicht unterschätzen. Das Mann- oder Frausein sei grundsätzlich nicht geschlechts-, sondern kulturbedingt. Diese Ideologie höhlt die Fundamente der Familie und der zwischenmenschlichen Beziehung aus. […]“ (Päpstlicher Rat für die Familie 2000, Punkt 8)5
Die »Gender-Ideologie« ist ein mächtiger Mechanismus, der von der katholischen Kirche genutzt wird, um die traditionelle Familie als gesellschaftsstrukturierende Institution zu bewahren. In der heterosexuellen Familie liegt die Möglichkeit der Reproduktion, sie ist aber auch ein Raum, um Kontrolle auszuüben – ein Raum, der die kapitalistische Grundstruktur aufrechterhält, wie wir sie seit Jahrhunderten kennen. Die traditionelle Familie garantiert die christliche Ordnung sowie die Werte und Wahrheiten, die die Kirche vermittelt. In diesem Sinne birgt die »Gender-Ideologie« das Risiko, die Familie, die Ehe, die hegemonialen Erziehungsmodelle zu destabilisieren und so das Fundament der katholischen Kirche zum Wanken zu bringen. Vor diesem Hintergrund entstand in den letzten Jahren in Lateinamerika eine Welle der Empörung gegen die »Gender-Ideologie«.
Hinter der vermeintlichen »Gender-Ideologie«, die beim Plebiszit in Kolumbien zu so vielen »Nein«-Stimmen geführt hatte, vor der tagtäglich in den katholischen wie den evangelikalen Kirchen gewarnt worden war und die in den sozialen und den Massenmedien zu breiten Debatten geführt hatte, stehen im Kern die vermeintliche Bedrohung der Werte der heterosexuellen Kleinfamilie, die Anerkennung nicht-heterosexueller Beziehungen, die freie und selbstbestimmte Sexualität, die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs und die Anerkennung von speziellen Rechten der LGBTI-Community. Für viele der »Nein«-Befürworter war all dies gleichbedeutend mit dem Anstieg von Geschlechtskrankheiten, Zoophilie, Pädophilie, Nekrophilie und Inzest sowie einer öffentlichen Politik, die Kinder zu Schwulen oder Lesben heranziehen würde. Aus ihrer Perspektive drängt die »Gender-Ideologie« eine Sexuallehre auf, die die natürliche und göttliche Norm der Heterosexualität und damit die biologische Wahrheit in Frage stellt.
Die »Nein«-Kampagne zum Plebiszit legte offen, welche Reichweite der Diskurs über die »Gender-Ideologie« als politische Strategie aufweist – eine Strategie, die auf den Grundpfeilern der katholisch-kolonialen Moral aufbaut, die Angst davor schürt, eine neue gesellschaftliche Ordnung aufzubauen, und die stattdessen lieber die alte Ordnung zementiert. Mithilfe der »Gender-Ideologie« stellten die »Nein«-Befürworter das Friedensabkommen als Betrug am kolumbianischen Volk dar, zumal das Bildungsministerium, repräsentiert durch eine lesbische Bildungsministerin, kurz zuvor pädagogisches Material zu gendersensibler und Sexualbildung in den staatlichen und öffentlichen Schulen hatte einführen wollen, um Gewalt gegen nicht heteronormative Kinder und Jugendliche vorzubeugen.6
Die Ministerin musste zurücktreten, und das Bildungsmaterial sah nie das Licht der Öffentlichkeit. Die »Nein«-Fraktion aber gewann den Volksentscheid, das Friedensabkommen wurde unter Berücksichtigung der Kritik der ultrakonservativen Sektoren überarbeitet, und dabei wurde vieles von dem herausgestrichen, was für Frauen und LGBTI im ursprünglichen Friedensabkommen stand, wie die Punkte zur sexuellen Diversität und zur sexuellen Orientierung.
In beiden Fällen, sowohl beim pädagogischen Material als auch beim Friedensabkommen, hatte die Regierung von einem »Genderfokus« gesprochen. Eine »Ideologie« ist aber nicht das gleiche wie ein »Fokus«, und eben dieser Unterschied macht klar, dass die katholische und andere Kirchen ihre eigenen Ideologien vorantreiben, auf deren Basis die Gesellschaft verstanden und organisiert werden soll. Die »Gender-Ideologie« dem »Genderfokus« überzustülpen war ein einfaches Mittel, um die Ängste einer konservativen Gesellschaft zu mobilisieren, die den Feminismus per se (und alles, wofür diese politische Ideologie kämpft) als nationales Risiko einstuft, auch wenn es um kleine und wenig revolutionäre Änderungen geht – im Grunde handelt es sich beim »Genderfokus« lediglich um eine liberale und moderne Inklusion und Zuweisung von Rechten an Frauen und LGBTI.
Was die konservativen Kreise als »Gender-Ideologie« bezeichneten, war also eine strategisch angerührte Mélange aus den Vorschlägen der Regierung für einen Genderfokus und den Konzepten feministischer Gruppierungen – und mündete in einer Karikatur der vorgesehenen Vereinbarungen im Friedensabkommen. Andererseits ist festzuhalten: Feminist*innen und LGBTI kämpfen seit Jahren für eben die Punkte, die die Kirchen, egal ob katholisch, evangelisch oder evangelikal, in ihrer »Nein«-Kampagne anprangerten. Oder müssen wir etwa nicht unbedingt ein Recht auf Leben für diejenigen erkämpfen, die ihre Sexualität leben wollen, auch wenn diese nicht mit der heterosexuellen Norm übereinstimmt? Oder war es etwa nicht Aufgabe der Regierung, über das Friedensabkommen auch die Rechte der ländlichen Frauen auf Landtitel voranzutreiben und u.a. einen differenzierten Umgang mit sexueller Gewalt einzuführen? Und ist denn eine gendersensible Perspektive nicht notwendig für einen positiven und nachhaltigen Frieden?
Die eigene Angst vor dem Fortschritt?
Festzuhalten ist aber auch: Der kolumbianischen Präsident und seine Bildungsministerin stellten nicht deutlich genug klar, dass es ihnen durchaus um eine gendersensible Perspektive ging. Daran haben nämlich der kolumbianische Staat und die internationale Gemeinschaft ein großes Interesse, um die Gewalt gegen nichtheteronormative Kinder, gegen Frauen und gegen LGBTI zu reduzieren. Genau diese Gruppen sind zudem auch historisch besonders von Verarmung, systematischer und intersektionaler (z.B. rassistischer) Gewalt betroffen. Die Regierung und viele andere Verfechter*innen des Friedenabkommens wurden der Aufgabe nicht gerecht, mutig und unmissverständlich für das einzustehen, wofür sie warben. Es stellt sich also die Frage, wie man für etwas kämpfen kann, vor dem man sich eigentlich selbst fürchtet? Oder anders gefragt: Haben manche progressiven Teile der Gesellschaft selbst Angst vor Änderungen, sehen den Feminismus als Risiko oder gar als verzichtbare Blödelei der zweiten Reihe?
Hinter der »Gender-Ideologie« steht also eine Strategie der Angst, ein diskursiver Mechanismus, der die jahrzehntelangen Forderungen und Kämpfe der Feminist*innen und der LGBTI-Personen durch einen verzerrten Spiegel wiedergibt: Wenn der Feminismus das Recht auf Abtreibung und das Recht auf körperliche Selbstbestimmung verteidigt, wandeln die Gender-Ideolog*innen dies so um, dass alle Frauen abtreiben sollten, und stempelt sie so zu Mörderinnen ab. Wenn Bewegungen für sexuelle Diversität das Recht auf Leben und den Respekt von LGBTI-Personen einfordern, wird dies von den Gender-Ideologinnen wiedergegeben als eine Forderung, man solle Kinder zu Schwulen, Lesben und Transsexuellen erziehen.
Mit der »Gender-Ideologie« werden Ängste in der Gesellschaften geschürt, sodass diese sich an ihrer konservativen Mentalität festklammert und gegen ein Friedensabkommen stimmt – selbst wenn dies Tausende von Menschenleben kostet. Wahrscheinlich hatten diejenigen, die die »Nein«-Kampagne vorantrieben, nicht so sehr Angst vor einer möglichen sexuellen Diversität im Land als vielmehr vor der im Friedensabkommen anvisierten Landreform oder dem möglichen Stopp extraktiver Praktiken durch multinationale Rohstoffkonzerne. Mit dem Friedensabkommen wurden auch alle damit verbundenen Reformen ausgehöhlt, sei es die anvisierte Landreform, die Reform zum Ausbau und zur Dezentralisierung der politischen Partizipation, die Prozesse zur individuellen und kollektiven Entschädigung und die Vereinbarungen zum historischen Gedenken. All dies wurde in der letztlich vom Kongress akzeptierten Version des Friedensabkommens abgeschwächt.
Der kolumbianische Fall beweist, dass die »Gender-Ideologie« als Werkzeug eingesetzt wird, um über die Manipulation konservativer Werte jene Interessen durchzusetzen, die schlicht und einfach politischer, vor allem aber ökonomischer Natur sind.
Anmerkungen
1) Angabe der Organización Indígena de Colombia – ONIC (Nationale Indigene Organisation Kolumbiens); onic.org.co/noticias/2-sin-categoria/1038-pueblos-indigenas.
2) Ungeachtet des Friedensabkommens mit der FARC-EP von 2016 und mit den paramilitärischen Autodefensas Unidas de Colombia (Vereinigte Bürgerwehren Kolumbiens) gibt es auch weiterhin bewaffnete Akteure im Land, wie die Ejército Nacional de Liberación (Nationale Befreiungsarmee), paramilitärische regionale Gruppen und so genannte kriminelle Banden. Letztere sind seit Unterzeichnung des Friedensabkommens für bis zu 300 Morde an Friedensaktivist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen auf dem Land verantwortlich, die versuchen, die im Friedensabkommen versprochenen Veränderungen und Rechte einzufordern. [die Übersetzerin]
3) Als das Friedensabkommens abgeschlossen wurde, wurde die Zahl von 5.765 Kämpfer*innen genannt. Die Zahl schwankte jedoch über die Jahre.
4) Kolumbien ist Hauptzielland einer anhaltenden massiven Arbeitsmigration von Venezolaner*innen, die von Arbeitgeber*innen auch für Lohndumping genutzt wird, vor allem im Niedriglohnsektor. Die prekäre Situation der Venezolaner*innen zeigt sich aber auch im Alltäglichen, z.B. durch das Betteln in Bussen und an Ampeln. Das Bedrohungsszenario eines »Castro-Chavistischen Landes« ist also einfach herzustellen. [die Übersetzerin]
5) Päpstlicher Rat für die Familie (2000): Ehe, Familie und »faktische Lebensgemeinschaften«; vaticana.va.
6) Das Bildungsministerium hatte einige Monate vor der Unterzeichnung des Friedensabkommens die Verwendung von pädagogischem Material zur sexuellen Bildung beworben. Dieses sollte in öffentlichen staatlichen Schulen in Kolumbien als Lehrmaterial zur Verfügung gestellt werden, um die Kenntnis der Rechte von LGBTI zu erhöhen – mit dem Ziel, Gewalt gegen LGBTI und Bullying an den Schulen zu verringern. Ein entscheidender Auslöser dafür war der Fall des homosexuellen Jugendlichen Sergio Urrego, der sich einige Monate zuvor das Leben genommen und in seinem Abschiedsbrief deutlich gemacht hatte, dass sein Selbstmord die soziale Ablehnung und die Gewalt zur Ursache hatte, die er in seiner Schule durchleben musste.
Alejandra Londoño ist Historikerin mit einem Master in Gender-Studies. Sie lehrt als Dozentin an der Nationalen Universität Kolumbiens (Bogotá) zu den Themen Rassismus/Ethnizität und Gender und ist politische Aktivistin im Bereich des antikolonialen und anti-rassistischen Feminismus. Ihre Expertise liegt in den Bereichen Sozialpolitische Geschichte der Frauen im 20. Jahrhundert in Kolumbien, dekoloniale feministische Historiographie, Pädagogik zum historischen Gedächtnis in Kolumbien, Dynamiken des Militarismus und Militarisierung im neoliberalen Kapitalismus.
Aus dem Spanischen übersetzt von María Cárdenas.