Gender im Visier
von María Cárdenas
Als wir uns in der Redaktion für den Themenschwerpunkt »Gender« entschieden, waren wir zunächst gespalten. Die Entscheidung dafür beruhte auf dem Gedanken, »es müsse mal wieder etwas dazu geschrieben werden«, wir fragten wir uns aber auch, ob wir zu diesem vermeintlich so allgegenwärtigen Thema in W&F nicht schon alles gesagt hätten. Die Institutionalisierung von Frauen- und Geschlechterforschung, internationale Resolutionen, wie 1325 des UN-Sicherheitsrates (Meinzolt sowie Seifert in diesem Heft), nationale Gesetzeserlässe gegen Diskriminierung, für die Gleichberechtigung der Geschlechter und zum Teil auch der LGBTQI (Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans, Queer und Intersexuelle) sowie für sexuelle Selbstbestimmung scheinen selbst in die konservativsten Kreise der Welt vorzudringen. Geberfinanzierte Projekte der internationalen (Entwicklungs-) Zusammenarbeit setzen in vielen Ländern seit Jahren eine gendersensible Durchführung voraus und fördern de jure oder de facto Gendergleichheit durch Projekte, die von der »Guten Regierungsführung« bis hin zu Katasterreformen gehen. Ist die Berücksichtigung von Gender obsolet geworden? Keinesfalls.
Wir leben nicht nur in einer Zeit, in der sich innergesellschaftliche und internationale Konflikte scheinbar täglich verschärfen, an den so unverrückbar geglaubten Fundamenten der (relativen) deutschen Einheit und der Europäischen Union rütteln und an unsere eigene Haustür klopfen. »Gender«, d.h. die soziale Kategorie Geschlecht und Fragen der sexuellen Orientierung und Selbstbestimmung, ist darüber hinaus auch tief verwurzelt in unseren gesellschaftlichen Konfliktlinien und wirkt in die Wahrnehmung von Konflikten und ihrer Lösung hinein. In Kolumbien hat die Panikmache vor einer »Gender-Ideologie« jüngst zu einer Aushöhlung des weltweit progressivsten Friedensabkommens geführt und Ende Juni die Wahl von Ivan Duque als neuem Präsidenten gefördert – dessen Partei unter Ex-Präsident Alvaro Uribe versprach, das, was vom Friedensabkommen übrig ist, „in Stücke zu schlagen“.
Doch wo genau liegt der Zusammenhang zwischen Gender und Konflikt bzw. Krieg? Gender darf nicht losgelöst von anderen sozialklassifikatorischen Kategorien, wie vermeintlicher oder realer Herkunft, phänotypischen Merkmalen, ethnischer Zugehörigkeit, Religion und Klasse, gedacht werden. Vielmehr entfaltet Gender erst in der Intersektionalität eine Wirkungsmacht für Krieg und Frieden und für den Diskurs darüber, der immer stärker von antifeministischem und gleichermaßen rechtskonservativem Autoritarismus dominiert wird. Militarisierte Männlichkeitsbilder dienen somit auch dem Zweck, ins Rutschen gekommene patriarchale Machtstrukturen erneut zu festigen, wie Ralf Buchterkirchen historisch am deutschen und Alejandra Londoño ganz aktuell am kolumbianischen Fall zeigen.
In dieser Konjunktur haben anti-feministische und neopatriarchale Diskurse und die Rückkehr zur alt-neuen militärischen Männlichkeit mit Verweis auf die Rettung gesellschaftlicher Werte auch in Deutschland, Europa und den USA an Land gewonnen. Dies äußert sich in sinkenden Budgets für feministische und queere Forschung, hat remilitarisierende Ausmaße und fördert Konflikte, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus durch Diskurse zur Bewertung der »Gefährlichkeit« und »Integrationsfähigkeit« von (männlichen) Asylbewerbern, das Aufstocken der militärischen Ausgaben und die ansteigende Akzeptanz von »racial/male profiling«. Traditionelle Genderrollen und die ihnen innewohnende sexuelle Gewalt sind nicht nur ein Problem in Nachkriegszeiten (Hornberger), sondern wirken sich auch auf die Nutzung und das Verständnis von Kriegstechnik aus, wie Ray Acheson uns eindringlich zeigt.
Die linke und die Friedensbewegung tragen hier eine Mitverantwortung, da sie es bislang nicht vermögen, selbstbewusst und ernsthaft ein transversales und inklusives Genderverständnis als Voraussetzung für positiven Frieden zu verteidigen und zu verinnerlichen, und stattdessen rechtem patriarchalem Gedankengut eher hinterherlaufen und Gender als »zweitrangiges Problem« hintanstellen (Brunner und Londoño). In der Wissenschaft wurde zwar die Rolle der Frau ausdifferenziert und ihre aktive Teilhabe an Kriegsgeschehen und Friedensbildung hervorgehoben, jedoch der gesellschaftliche Nexus von militärischer Männlichkeit kaum dekonstruiert (Bausch und Rehmann). Das aktuelle und erschütternde Beispiel des kolumbianischen Friedensabkommens, das auch eine Neuverhandlung der gesellschaftlichen Verhältnisse vorsah, beweist, dass ohne eine Abkehr von Geschlecht als zentralem Herrschaftsinstrument auch keine Hinwendung zu positivem Frieden möglich sein kann.
Gender ist im Visier – militärisch, diskursiv und politisch. Die Heftartikel zeigen, dass „Genderanalysen keine Fußnoten sein dürfen“ (Acheson). Nur wenn Krieg/Gewalt und Gender ernsthaft zusammengedacht werden, können wir als Friedensbemühte Gewalt und Krieg verstehen und damit auch erst dazu beitragen, sie nachhaltig zu überwinden.
IhreMaría Cárdenas