W&F 2010/2

Gender-Jihad

Grundlage für den islamischen Geschlechterfrieden

von Rabeya Müller

Das Verstehen des Begriffs »Islam« könnte im öffentlichen Leben kaum unterschiedlicher sein. Die einen verbinden damit die Vorstellung von Frieden und Hingabe an Gott, die anderen Gewalt und Terror, aber auch Unterdrückung von Frauen. Beides lässt sich von den jeweiligen ProtagonistInnen belegen, sei es durch qur’anische Texte, sei es durch reale Bilder. Nach außen hin wirkt es so, als würden sich muslimische Mädchen und Frauen in das vorgegebene Rollenschema einfügen und die bestehende Situation verteidigen während auf der anderen Seite sog. Islamkritikerinnen die Situation feministisch erkannt und analysiert haben. Wie sieht die Konstellation innerislamisch tatsächlich aus? Ist es möglich eine Friedenserziehung vom islamischem Verständnis durchzuführen, z.B. als Bestandteil eines konfessionellen islamischen Religionsunterrichts, die auch zu einem friedlichen Zusammenleben der Geschlechter führt? Welche Rolle spielt dabei Feminismus oder Geschlechtergerechtigkeit im Islam?

Kein Frieden ohne Geschlechterfrieden – wenn diese abgewandelte Form des Slogans von Hans Küng („Kein Friede ohne Religionsfrieden“) zitiert wird, reagieren viele muslimische Vertreter, aber auch Vertreterinnen mit einem gewissen Unverständnis.

Im allgemeinen wird der Begriff Islam mit der Konnotation Salam (Frieden) synonym gesetzt, beide haben die gleiche Wortwurzel. Was dies allerdings mit der Rolle der Geschlechter zu tun haben könnte, wird als irrelevant empfunden. Dies ist die offizielle »Heile-Welt-Version«, die seitens vieler muslimischer Gruppierungen vertreten wird. Auf der anderen Seite haben bereits viele muslimische Frauen erkannt, dass die patriarchale Auslegung ein Zustand ist, der Frauen einschränkt, sie domestiziert und von der Partizipation an der Macht abhält.

Traditionell liegt das Ziel darin, bestehende Rollenklischees zu verfestigen und neuere Machtansprüche des weiblichen Geschlechts zu kontaminieren. Dies geschieht auf geradezu subtile Weise unter den Augen der Öffentlichkeit, ja sogar unter deren Beihilfe. So wird z.B. viel über die Ausbildung von Imamen diskutiert und viele Hochschulen möchten diese Ausbildungsgänge zu sich holen. Schließlich geht es hier nicht nur um einen Machtfaktor, sondern auch um die Möglichkeit richtungsweisend für die islamische Theologie der nächsten fünfzig Jahre tätig zu werden. Staatlicherseits wird zwar zaghaft die Frage von Imaminnen vorgebracht, aber viel zu leicht lässt man sich hier mit der Aussage abwiegeln, dass es natürlich Imaminnen bzw. weibliche Hodschas gäbe – wohlwissend, dass diese zwar für den Unterricht, maximal für das Gebet von Frauen, aber keinesfalls für die Leitung einer Gemeinde eingesetzt werden.

Die Kontroverse um die Islamprofessorin Amina Wadud, die 2005 in New York als Frau ein Freitagsgebet von Männern und Frauen leitete, zeigt wie angstbesetzt die nach außen hin so widerstandsfähig wirkenden patriarchalen Kräfte sind. Die Reaktionen gingen quer durch die sog. Islamische Welt, von dem Vorwurf der Häresie, über die Betitelung als »Feindin des Islam« bis zur Abqualifizierung als »verwirrte Frau«. Wadud bekam es, auch persönlich, deutlich zu spüren, wie wenig offen viele muslimische Kreise Veränderungen gegenüber sind, besonders wenn sie die traditionelle Religionsausübung betreffen.

In ihren Büchern, vor allem in dem Werk »Inside the Gender Jihad«1 plädiert sie explizit für eine Pluralität in Bezug auf Meinungen und Lebensentwürfe, insbesondere auch auf die Perspektiven der Qur’aninterpretation. Hierbei stellt sie die dynamische Interaktion zwischen dem Lesenden und dem Text in den Mittelpunkt.

Für Wadud, wie für viele andere Vertreterinnen einer geschlechtergerechten Sichtweise auf den Qur’an, ergibt sich aus dessen Lektüre eine werkimmanente Geschlechtergerechtigkeit, die eine egalitäre Kernbotschaft des Qur’ans verdeutlichen. Viele dieser Ideen konnten in der frühislamischen Zeit nicht unmittelbar umgesetzt werden, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse dafür noch nicht bereit waren. Fatal ist nur, dass offenkundig die Stellen, die augenscheinlich der Gleichheit widersprechen, sofort verwirklicht und etabliert werden konnten.

Dass es sich hierbei um eine kontextuelle Interpretation handelt, möchten viele ausblenden. So wie Übersetzungen stets eine Interpretation des Textes darstellen, sind auch Exegesen nie ein Endprodukt. Die quasi »offene Struktur des Buches« eröffnet die Möglichkeit unterschiedliche Perspektiven zuzulassen ohne sich dem Vorwurf der Beliebigkeit auszusetzen.

Gerade auch deshalb ist es notwendig Gender als eine Denkkategorie wieder ins Bewusstsein zu bringen, um einen zwar kontroversen, aber auch friedlichen Diskurs hinsichtlich der Geschlechterdifferenz zu ermöglichen.

Auf vielen anderen Gebieten sind Reformen zwar kritisiert, aber dennoch zugelassen worden, etwa als Muhammad Abdu Bankzinsen für zulässig erklärte, nur in Bezug auf die sog. Frauenverse und der damit verbundenen Genderfrage scheint weder ein Einlenken noch ein Kompromiss möglich.

Wie erwähnt ist dies allerdings eine Tendenz, die von nichtmuslimischer Seite beabsichtigt oder unbeabsichtigt unterstützt wird.

Exegetischer Friede oder friedliche Exegese?

Ein weiteres Beispiel ist, wenn in zugelassenen Lehrplänen davon die Rede ist, dass die »einschlägigen« Verse zur Erschaffung des Menschen (u.a. Sure 4:1-3 oder 49:13) gekannt werden sollen, aber nirgendwo die Rede davon ist, welche Übersetzung hierfür genutzt werden soll; auch hier besteht die Gefahr patriarchale Strukturen zu verstärken. Denn die vorgegebenen Verse können sowohl geschlechtergerecht als auch patriarchal gelesen werden, wie das Beispiel der Schöpfungsgeschichte belegt (siehe Kasten).

Patriarchale Übersetzung Geschlechtergerechte Übersetzung
Sura An-Nisa‘ (Die Frauen) (offenbart zu Al-Madina) 176 Ayat Im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen! O ihr Menschen, fürchtet euren Herrn, Der euch erschaffen hat aus einem einzigen Wesen; und aus ihm erschuf Er seine Gattin, und aus den beiden ließ Er viele Männer und Frauen entstehen. Und fürchtet Allah, in Dessen Namen ihr einander bittet, sowie (im Namen eurer) Blutsverwandtschaft. Wahrlich, Allah wacht über euch.[4:1] [1] Sura An-Nisa‘ (= Die Frauen, offenbart zu Madina, 176 Ayat)
„Im Namen Gottes, des Allerbarmers, des Barmherzigen! Ihr Menschen, seid ehrfürchtig gegenüber eurem Rabb, Der euch erschaffen hat aus einem einzigen Wesen; Aus ihm erschuf Er das (entsprechende) Partnerwesen und aus den beiden ließ Er viele Männer und Frauen entstehen. Und seid ehrfürchtig gegenüber Gott, in Dessen Namen ihr einander bittet, ……[4:1]“ *
* (Zentrum für Islamische Frauenforschung- und Frauenförderung: „Ein einziges Wort ..“, Köln 2005.)

Zumindest wäre es sinnvoll diese beiden möglichen Übersetzungen miteinander zu vergleichen und deren Wirkung entsprechend zu diskutieren. Statt dessen werden die Verse zu häufig zur Bestätigung und Verfestigung bestehender Rollenklischees genutzt, anstatt einen qur’anhermeneutischen Schwerpunkt zu setzen. Was gänzlich im Lehrplan fehlt und die anderen Verse unter einem entsprechenden Aspekt interpretierbar macht ist, dass der Qur’an die Beziehung der Geschlechter an der gegenseitigen Zuneigung festmacht: „Und zu Seinen Zeichen gehört es, dass Er euch aus Erde erschuf; alsdann, seht, seid ihr Menschen geworden, die sich vermehren.[30:20] Und ebenfalls zu Seinen Zeichen gehört es, dass Er Partner und Partnerinnen für euch aus euch selber schuf, damit ihr Frieden bei ihnen finden möget; und Er hat Zuneigung und Barmherzigkeit zwischen euch gesetzt. Hierin liegen tatsächlich Zeichen für ein Volk, das nachdenkt.“[30:21]

Erst hier wird der Kontext klar, um den es in den vielen anderen Qur’anstellen geht. Aber diese Kontextualisierung, die damit verbundene Reflexion und kritische Fragestellung sind in vielen Gruppierungen nicht erwünscht und dem wird auch öffentlich Rechnung getragen – eventuell, um ein bestimmtes Bild vom Islam zu erhalten oder um sich die entsprechenden Gruppierungen gewogen zu halten.

Diese klischeehafte Vorstellungen von den Geschlechterrollen durchsetzen viele Themen in den Lehrplänen, auch so harmlos erscheinende wie das Thema Fasten: „Es ist euch erlaubt, euch in der Nacht des Fastens euren Frauen zu nähern; sie sind Geborgenheit für euch und ihr seid Geborgenheit für sie. Allah weiß, dass ihr gegen euch selbst trügerisch gehandelt habt, und Er wandte euch Seine Gnade wieder zu und vergab euch. So pflegt nun Verkehr mit ihnen und trachtet nach dem, was Allah für euch bestimmt hat. Und esst und trinkt, bis der weiße Faden von dem schwarzen Faden der Morgendämmerung für euch erkennbar wird. Danach vollendet das Fasten bis zur Nacht. Und pflegt keinen Verkehr mit ihnen, während ihr euch in die Moscheen zurückgezogen habt. Dies sind die Schranken Allahs, so kommt ihnen nicht nahe! So erklärt Allah den Menschen Seine Zeichen. Vielleicht werden sie (Ihn) fürchten.“[2:187]

Hier wird augenscheinlich von einem aktiven männlichen Part und einem passiven weiblichen ausgegangen. Es ist ein Beispiel für einen Text, der ohne entsprechenden azbabun-nuzul (Grund für die Offenbarung) frauenfeindlich genutzt werden kann. Dabei ist wichtig zu wissen, dass hier offene Fragen in der frühislamischen Gemeinde vorlagen lediglich den Zeitumfang des Fastens betreffend um diesen ähnlich dem anderer Religionsgemeinschaft zu gestalten. Es geht eindeutig um das Aussetzen des Fastens während der Nacht.

Islamischer Religionsunterricht – Basis für Geschlechtergerechtigkeit?

Anhand der Interpretationsmöglichkeiten nur der wenigen, bisher genannten Verse ist erkennbar, welchen Stellenwert die Bearbeitung des Themas Frieden, hier speziell des Geschlechterfriedens im Unterricht haben sollte:

„Im Religionsunterricht werden Kinder oft erstmalig an eine strukturelle Aufarbeitung der Themen Frieden und Gewalt herangeführt. Das bedeutet ihre bisherige Sozialisation hat die Vorkenntnisse und »Vorurteile« zu diesem Thema bereits entscheidend geprägt. Auch die katechetischen Belehrungen haben häufig eine prägende Wirkung.

Umso wichtiger ist es, dass Kinder einen eigenen Zugang zu ihren Quellen erarbeiten, der ihnen auch Instrumentarien an die Hand gibt, selbst diese Quellen zu erschließen und eigene Rückschlüsse für ihr Leben zu ziehen. Das ist im Hinblick auf die Tatsache, dass Elternhaus und Gemeinde oft stärker an der Wahrung der Traditionen der jeweiligen »Volksreligion« interessiert sind, nicht gerade fazil.

Somit hat Religionsunterricht (RU) nicht nur die Funktion theologisches Wissen zu vermitteln, sondern auch das Wissen zu benutzen, um Zusammenhänge erfassen und Komplexität analysieren zu können. Jede Religionsgemeinschaft erhebt den Anspruch ihre Kinder zum Glauben hin erziehen zu wollen, allerdings gehört dazu das Wissen über die Religionen und die zu erlernende Fähigkeit, aus dem eigenen Religionsverständnis heraus gemeinsames, friedliches Zusammenleben in Respekt voreinander miteinander gestalten zu können.

Die verschiedenen Religionsgemeinschaften betrachten diese Voraussetzungen mit unterschiedlicher Gewichtung. Einerseits erschließt sich uns eine klare Sachebene, auf der Friedenskompetenz erarbeitet werden kann. Das lässt sich sowohl im konfessionellen, als auch im interreligiösen Unterricht bewältigen. Andererseits gibt es aber noch die persönliche und damit sehr emotionale Ebene der Friedenskompetenz, die auch abhängig ist vom Friedenswillen, der wiederum durch entsprechendes theologisches Sachwissen unterstützt werden soll.“ 2

Der Respekt vor dem Andersdenkenden ist nicht ausschließlich auf Angehörige anderer Glaubensvorstellungen und Ideologien gerichtet, sondern zugleich grundsätzlicher Natur – denn er beinhaltet z.B. auch den Respekt vor dem jeweils anderen Geschlecht, also bedarf es ebenfalls einer Friedenserziehung in der Geschlechterdifferenz. Wie gezeigt, beginnt dies bereits bei der Schöpfungsgeschichte, wo der jeweilige Schöpfungsbericht entweder durch Interpretation oder durch gezielt gelenkte Übersetzungen frauenfeindlich überliefert wird.3

So wie hinter der Konnotation von Religion und Gewalt meist der Absolutheitsanspruch auf Besitz der Wahrheit steht, setzt sich dies in der Durchsetzung von bestehenden Rollenstrukturen weiter fort. Obwohl weitgehend betont wird, dass der Islam eine körperfreundliche Religion sei, was durch den Qur’an auch durchaus belegbar ist, ist die traditionelle Haltung vieler Musliminnen und Muslime (so wie dies auch in anderen Religionsgemeinschaft als Trend erfasst werden kann) eher geeignet weibliche Sexualität unter Kontrolle zu halten.

Sex, Gender und Gewalt?

Die Differenzierung von »sex« als biologischem Geschlecht und »gender« als sozialem Geschlecht findet nur selten Niederschlag im Bewusstsein muslimischer Schülerinnen und Schüler. Das bedeutet auch wenig Veränderungen im Bewusstsein der alltäglichen religiösen Praxis. Eine Situationen, die viele sog. Islamexperten zu der Ansicht verleitet, dass die patriarchalen Strukturen, durch religiöse Vorgaben begünstigt werden und damit der Religion allein die Schuld für die desolate Situation vieler muslimischer Frauen zukommt. Oft genug gipfelt dies in der Forderung, die Religion möglichst abzuschaffen.

Die von einigen Musliminnen und Muslimen oft vorschnell eingebrachte Absicht religiöse Überzeugungen mit Hilfe von Gewalt oder deren Androhung Nachdruck zu verleihen, führt zu einer Konstellation von Intoleranz gepaart mit extremistischen Vorstellungen, die den sog. IslamkriterkerInnen und deren Einschätzungen Vorschub leistet.

Wenn also das Thema Gewalt in der Vielfalt seiner emotionalen Facetten (wie Angst, Abscheu, aber auch Faszination und Begeisterung) lebensgeschichtlich schon früh eine tragende Rolle spielt, ist damit auch die religiöse und ethische Entwicklung des Menschen angesprochen. Die entscheidende Zuspitzung liegt aber darin, dem Phänomen in seiner geschlechtsspezifischen Dimension Rechnung zu tragen. Allerdings – und das macht die Kombination der Fragestellung nach Religion, Gewalt und Geschlecht besonders brisant – ist dies forschungswissenschaftlich Neuland, denn die Untersuchungen zu Religion und Gewalt blenden zumeist die Genderthematik aus, während die vor allem sozialwissenschaftlich boomenden Studien zur Männlichkeit der Gewalt den religiösen Blickwinkel vernachlässigen. Wir kommen jedoch nicht umhin, beide Stränge im Gewaltdiskurs einzubinden, um auf die Notwendigkeit weiterer Forschung hinzuweisen.

Kinder und Jugendliche sehen sich einer bestimmten Erwartungshaltung seitens der Eltern und der Gemeinschaft ausgesetzt, was sie im Religionsunterricht lernen sollen und leiten diesen Druck bewusst oder unbewusst an die jeweilige Lehrkraft weiter. Eltern ihrerseits sind oft von Ängsten besetzt und fürchten den Verlust religiöser Werte.

Werte sind wissenschaftlich gesehen oft sehr eingeschränkt auf fachimmanente Kategorien bezogen. In der islamischen Theologie z.B. ist jedoch eine Möglichkeit der werkimmanenten Interpretationsmöglichkeit des Qur’an (d.h. die Instrumentarien für die Interpretation liefert das Buch selbst) bekannt.

Die Wahrung der religiösen Werte z.B. im »Volksislam« verlangen augenscheinlich nach ausgeprägter normativer Pädagogik. Dem entgegen steht die Vorstellung einer Schuldidaktik, dass Schülerinnen und Schüler die obligatorischen Werte selbst erarbeiten und analysieren sollten und somit einen eigenen Zugang zu religiöser Wahrheit konzipieren. Ein solcher Unterricht ist prozessorientiert dem spezifisch subjektiven Lernen angepasst. Dieser emanzipatorische Ansatz stellt hohe Anforderungen an die Lehrkräfte und die Zugeständnisfähigkeit der Eltern, die oft ganz andere Erwartungen an einen konfessionellen Religionsunterricht in der Schule haben.

Die Forderungen an die Lehrkräfte, hierbei eine neutrale Rolle einzunehmen, erscheint manchmal als eine Illusion und wahrscheinlich wäre nur die Vermittlung ideologiekritischer Instrumentarien dazu geeignet ein neutrales Element mit einzubringen, welches berücksichtigt, dass Lehren stets mit eigenem Lernen verbunden ein wechselseitiger Prozess ist.

Grundsätzlich sind beide Geschlechter, d.h. Mädchen und Jungen, Mütter und Väter, Lehrerinnen und Lehrer betroffen, wobei sich aber augenscheinlich vornehmlich bei der jüngeren Generation der nicht ausgetragene innerislamische Konflikt um den Geschlechterdiskurs zunehmend nach außen richtet und zu einer Art Radikalisierung führt. Besonders junge Musliminnen empfinden sich in ihrer muslimischen Identität nicht ernst genommen. Sie erleben bei den zarten Versuchen als eigenständige muslimische Persönlichkeiten wahrgenommen und akzeptiert zu werden die Zurückweisung großer Teile der nichtmuslimischen Gesellschaft sehr schmerzhaft. Denn auch in der nichtmuslimischen Gesellschaft verschwimmen die Grenzen zwischen Tradition und Religion nur allzu oft – zu intensiv war die Vorgabe der »IslamkritikerInnen«. Die Antwort der Islamischen Seite ist oft eine Apologetik, die die Selbstkritik zu einem Verrat werden lässt.

Friedensfähigkeit durch Friedenserziehung

Da ist zunächst die persönliche Ebene, die stark auch mit dem Begriff der Identitätsbildung verbunden ist: „Auch religiöse Identitäten stehen immer in bestimmten historischen Zusammenhängen und sind keine anthropologischen Konstanten. Sie haben vielmehr teil an Traditionslinien und -brüchen der je eigenen und der allgemeinen Geschichte und entwickeln sich also immer in bestimmten Erfahrungszusammenhängen von erlebter oder doch wahrgenommener Geschichte….“ 4

Hier ist der Weg zuerst einen eigenen Standpunkt zu erarbeiten und in Einklang mit sich selbst zu kommen. Kindern und Jugendlichen sollte vermittelt werden, dass ein solch eigener Standpunkt, auch vor der eigenen Religion und Religionsgemeinschaft legitim ist, wobei aber dieser eigene Standpunkt keinen Absolutheitsanspruch entwickeln sollte.

Dabei wird sich natürlich immer wieder die Frage nach der Wahrheit bzw. dem Wahrheitsanspruch in den Vordergrund drängen; eine Frage, die, aufgrund der Tatsache, dass entsprechende Vorstellungen Eingang in pädagogisches Handeln bekommen, uns auch weiterhin in hochbrisanter Weise beschäftigen wird.

Traditionsträchtige Werte scheinen meist nicht kombinierbar mit Reflexionsansprüchen. Kinder wollen ihren Eltern gefallen und übernehmen manchmal in geradezu schizophrener Weise die Werte mit einem Teil ihrer Persönlichkeit, sind aber im Alltag oft mit ganz anderen Realitäten konfrontiert und setzen viel daran die traditionellen Werte zu verteidigen, sogar wenn dabei der Wert des Friedenserhalts außen vor gelassen wird. So haben wir eine Rankingliste der Werte, bei der Frieden offensichtlich weit unten rangiert. Unreflektiertes Wissen kann jedoch keinen friedensfördernden Denkprozess in Gang setzen. Wer z.B. nur gelernt hat, dass Islam Frieden heißt, ohne dabei einen Bezug zur eigenen Lebensrealität zu entwickeln, glaubt zunächst, dass dieses Wissen ausreichend sei. Bei der nächstbesten Konfliktsituation jedoch tritt ein realer Mechanismus in Kraft, bei dem das reproduzierte Wissen völlig in den Hintergrund tritt und das »Gesetz der Straße« greift. Das bedeutet, auch Gewalt ist augenscheinlich eine Lösung.

Als nächstes steht »das Frieden-Schließen« mit der eigenen Familie und der eigenen Gruppe an. Wobei auch hierbei wesentlich ist die Problematik nicht im anderen zu sehen, sondern zunächst eine Selbstproblematisierung vorzunehmen, die einen eigenen Lösungsansatz ermöglichen und nicht den Ist-Zustand als gegeben betrachten lassen. Keine Kritik ohne Selbstkritik könnte hier das Motto lauten. Den Mut zu fassen die Deutungshoheit nicht in den Händen einiger Weniger zu lassen und das Recht über die Schrift nachzudenken und darüber zu diskutieren. Das gilt für allgemein theologische Bereiche ebenso wie für alle Tabuthemen und das in jeder Religionsgemeinschaft.

Erst dann ist im eigentlichen Sinn auch eine Friedenserziehung im interreligiösen und interkulturellen Bereich möglich, d.h. Religionsunterricht dient auch der »Entfeindung des Andersdenkenden«. Es gilt das Interreligiöse und Interkulturelle in der eigenen Religion entdecken, was heißt auf der Ebene der Geschöpflichkeit jegliche Dominanzansprüche fallen zu lassen. Wenn der Mensch sich in seiner Subjektivität begreift, aber als ein von Gott gewolltes Wesen, kann er sich ohne Verlust von Selbstachtung seiner eigenen Überzeugung als subjektiv stellen, die anderen mit sich auf gleicher Ebene betrachten und sich beruhigt in »Gott hineinfallen lassen«.

Die Religion an sich benötigt keine Verteidigung, ebenso wie Gott nicht einer Verteidigung durch den Menschen bedarf. Das ist wesentlich im Hinblick auf einen friedlichen Umgang mit sich, der eigenen und anderen Religionsgemeinschaften und der Mehrheitsgesellschaft.

Obwohl es in den einzelnen Religionen und Ideologien verstärkt Ansätze zu interreligiösem und interkulturellem Handeln und Agieren gibt, ist die Umsetzung in die eigene Lebensrealität schwieriger denn je.

Auch im Religionsunterricht ist es mehr denn je nötig verständlich zu vermitteln, dass demokratisches Denken und Handeln nicht im Widerspruch zur eigenen Religion stehen, was jedoch ebenfalls voraussetzt, dass demokratische Strukturen in gleichem Maße für alle Mitglieder der Gesellschaft gelten, was sie zwar formell tun, in der Realität erleben sich jedoch z.B. religiös orientierte Menschen ausgegrenzt und das Bekenntnis zu einer religiösen Orientierung kommt einem Outing gleich, das oft ein Spießrutenlaufen nach sich zieht.

So ergeben sich aus dem Alltag heraus wesentliche Punkte, die Einfluss auf Friedensdenken und somit auch auf den RU haben.Nicht umsonst sprechen wir von einer Bedrohung des sozialen Friedens und damit ist nicht mehr allein der Frieden in den Betrieben etc. gemeint, sondern das Nicht-Vorhandensein sozialer Gerechtigkeit und das stets zunehmende soziale Gefälle durch das Wegbrechen der Mittelschicht. Das erschwert in den meist heterogenen Klassen und Gruppen den Zugang zum Friedensbegriff überhaupt. Eine Gesellschaft, die auf sozialen Ausgleich bedacht ist, hat es auch einfacher mit der Erziehung zum Frieden.

Möglichkeiten und Grenzen

Gerade die Erarbeitung der Unterschiede als Potential für Pluralität und nicht Antagonismus bietet eine Chance in der Friedenserziehung. Wenn Unterschiede bearbeitet und als Thema »normalisiert« werden, wird durch Vielfalt die Aggressivität entzogen. Dabei ergeben sich Möglichkeiten sich auf das Andere, das Fremde einzulassen und dabei eigene grenzenüberwindende Potentiale zu entdecken.

Junge muslimische Männer versuchen ihrer, so oft formuliert »gottgegebenen« Rolle gerecht zu werden. Diese Rolle zeichnet sich durch die Vorstellung einer spezifischen Dominanz in Familie und Gemeinschaft aus, die der augenscheinlichen sozialen Unterlegenheit in der realen Sozialstruktur entgegensteht. Während junge Frauen nach zwei Seiten gegen ihre von außen verordnete Einordnung in ein Rollenklischee kämpfen, tun junge Männer dies zum Erhalt dieses Musters, obwohl auch sie diese ideologischen Vorgaben oft kritisch sehen.

Die von außen verordnete oder an die Zielgruppen herangetragene Kritik bleibt allerdings meist wirkungslos, da diese, zielgerichtet auf die Religion abgestimmt, mehrheitlich als deplaciert empfunden wird, d.h. sie trifft nicht »des Pudels Kern«.

Was tatsächlich in Frage gestellt wird sind die geschlechtsspezifischen Vorgaben im Erziehungsstil. Muslimische Kinder und Jugendliche analysieren bei entsprechender Kenntnis qur’anischer Instrumentarien sehr wohl, dass theologisch keine Grundlage für die strukturelle Rollenvergabe vorhanden sind, denn außer Schwangerschaft und Gebärfähigkeit sieht der Qur’an explizit keine unterschiedliche Rollenverteilung vor. Diese Analyse führt einerseits dazu, dass innerislamisch der Diskurs über religiöse Rollenmuster in Bewegung kommt, dass andererseits durch die von außen angewandten Zuschreibungen das Gewaltpotential wächst, und zwar auch bei Mädchen und jungen Frauen.

Gerade Musliminnen fühlen sich zunehmend durch den Qur’an dahingehend bestätigt, dass Gott, der im Islam selbst als geschlechtslos gilt, da Geschlechtlichkeit eine Eigenschaft des Geschöpfs ist, kein Geschlecht bevorzugt oder benachteiligt. Gott wird zwar oft mit nahezu menschlichen Eigenschaften versehen, aber die sind ebenso männlich wie weiblich einzuordnen und gerade deshalb keinem Geschlecht zuordbar.

Die Aufgabe religiöser Bildung darf allerdings hier nicht stehen bleiben. Es geht darum diese Erkenntnisse in den Alltag zu integrieren und in die Praxis umzusetzen. Ein guter Weg dorthin ist auch die »Ent-Theologisierung« der alltäglichen Probleme, um sie als das zu entlarven, was sie tatsächlich sind, nämlich Genderkonstrukte im Hinblick auf die Fragwürdigkeit von Machtstrukturen. Diese Form der Bildung sollte, ausgehend vom schulischen Bereich, auch auf die Erwachsenenbildung ausgedehnt werden, um auch hier die tradierten Identitätsbilder in Frage stellen zu können. Die Entwicklung einer entsprechenden Diskussionskultur ist die Grundlage nicht nur des Geschlechterfriedens sondern des friedlichen Miteinanders der Gesamtgesellschaft.

Anmerkungen

1) Amina Wadud: Inside the Gender Jihad, One World Publication, Oxford 2006.

2) Rabeya Müller / Reinhold Mokrosch: „Islamische und christliche Perspektiven für Friedenserziehung in der Schule“ in Werner Haußmann u.a.: Handbuch Friedenserziehung, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2006, S.342ff.

3) siehe auch hierzu: Rabeya Müller: „Wer den Wind sät …den weht dieser an einen fernen Ort“ in Predigthilfe / Ökumenische Friedensdekade, Aktion Sühnezeichen (Hrsg.) , Ausgabe August 2003 (S.II34 ff).

4) Rudolf von Thadden: Identifikation im demokratischen Gemeinwesen in Wolfgang Schultheiß (Hrsg.): Zukunft der Religionen, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003, (S.81-85).

Rabeya Müller ist Leiterin des Instituts für Interreligiöse Pädagogik und Didaktik in Köln.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2010/2 Frieden und Krieg im Islam, Seite 18–22