Geopolitik im Ausnahmezustand?
Carl Schmitt und seine Konjunkturen
von David Salomon
Es muss nicht überraschen, dass angesichts der tiefen Krise, in der sich nicht nur die Europäische Union, sondern auch das hergebrachte Modell der Nachkriegsdemokratien befinden, selbst in den Feuilletons großer bürgerlicher Zeitungen verstärkt Diskussionen über den Formwandel von Staatlichkeit und Souveränität geführt werden. Die Sprache (und, mehr noch als sie, der Gestus) lässt jedoch mitunter aufhorchen: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Carl Schmitts (1922/2004, S.11) gleichermaßen berühmte wie berüchtigte Definition steht im Zentrum eines politischen Denkens, das seine normative Option für Formen autoritärer Herrschaft stets in vermeintlich neutrale Aussagen über die Funktionsweise des Politischen selbst zu kleiden wusste. Seit je war der »Schmittianismus« auch ein Gegenentwurf zu marxistischen Theorien. Die Wiederkehr schmittscher Formulierungen sowohl im innen- als auch im außenpolitischen Kontext kann als strategischer Versuch gedeutet werden, begriffspolitische Weichen in der Krise neu zu stellen.
Rainer Hank diagnostizierte im August 2012 in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« den Krisenzustand der Europäischen Union: „Europa lebt im Ausnahmezustand. Die Regeln der europäischen Verträge (Maastricht) gelten nicht mehr; ein europäischer Souverän, der neue Regeln aufstellen und mit Macht durchsetzen könnte, ist nicht in Sicht.“ Neben dem „»Putsch« einer sich die Macht des Souveräns anmaßenden Institution“ und „ein[em] evolutionäre[n] Prozess, der langwierig über Volksabstimmungen und/oder verfassungsgebende Versammlungen in den Mitgliedsländern am Ende die »Vereinigten Staaten von Europa« zuwege bringt und einen Bundesstaat mit geregelter Volkssouveränität und entsprechenden fiskalischen Transferregeln schafft“, nennt Hank als weiteren möglichen Weg der Krisenbewältigung die „Stärkung der nationalen Souveränität, verbunden mit einer strikt eingehaltenen Rechtsstaatlichkeit, in deren Zentrum das Nichtbeistandsgebot (No-Bailout) wieder strikt durchgesetzt wird“ (Hank 2012). Es ist diese dritte Möglichkeit, die Hank präferiert.
Bereits ein knappes Jahr zuvor bezog Jörg Kaube (2011) in derselben Zeitung eine Gegenposition zu Hanks Ausführungen: „Souverän ist, wer den Normalzustand finanziert“, heißt es lapidar gleich zu Beginn. Nicht in der Rückkehr zum »No-Bailout«, sondern in der aktiven Gestaltung des finanziellen Transfers sieht er die Chance zu einer Herausbildung wirklicher europäischer Souveränität. Im Schlussabsatz fasst Kaube die Konsequenzen zusammen: „Die Nation und ihr ganzer semantischer Anhang von Selbstbestimmungsphrasen sind nur unsachliche Gesichtspunkte in einem Kampf um soziale Freiheiten, der ökonomisch entschieden werden wird. Die politischen Freiheiten werden davon mehr als in Mitleidenschaft gezogen. Sie waren seit je der Preis des Wachstums. Es wird nicht viel von ihnen übrig bleiben.“ Dies liest sich wie eine programmatische Ausbuchstabierung der merkelschen »marktkonformen Demokratie«. Von »Volkssouveränität« ist hier freilich längst nicht mehr die Rede. Was Kaube, das sich herausbildende europäische Währungsregime vor Augen, „absolutistische Demokratie“ nennt, wurde von anderen Autoren als „Postdemokratie“ klassifiziert (Crouch 2008).
Auch wenn Hank und Kaube keine Schmittianer im engeren Sinne sind, erweist sich das Spielen mit Schmittianismen doch keineswegs als zufällig. Wann immer Krisen diagnostiziert und Umbrüche konstatiert werden, lassen sich Schmitt-Renaissancen beobachten – zumeist mit strategischer Schlagseite.1
Nicht nur bezogen auf demokratiepolitische Fragen in ihrem Inneren, auch im Kontext der weltpolitischen Bedeutung der EU als »Wirtschaftsraum« und politisches Integrationsprojekt wurde immer wieder auf Schmitt rekurriert. Als sich im Kontext des Krieges der USA und ihrer damaligen Verbündeten gegen den Irak Stimmen mehrten, die „[e]in transatlantisches Schisma“ (Müller 2003) zwischen dem „alten Europa“ (Rumsfeld) und der »neuen Welt« ausmachten, schrieb der – übrigens keineswegs konservative oder »rechte« – italienische Philosoph und Schmitt-Übersetzer Angelo Bolaffi (2003): „Verfassungen werden auf dem Schlachtfeld geschrieben. Deswegen ist der Krieg im Irak fatalerweise dazu bestimmt, das Schicksal der europäischen Verfassung zu beeinflussen. Die von der militärischen Intervention der Alliierten hervorgerufene Spaltung des Planeten hat neue, unvorhergesehene Feindschaften entstehen lassen. Der Konflikt über den künftigen Nomos der Erde hat nämlich nicht nur die beiden Ufer des Atlantiks noch weiter voneinander entfernt […], sondern auch den alten Kontinent in zwei feindliche Lager gespalten.“
Auch Hank sind solche geopolitischen Überlegungen keineswegs fremd. Mit „euromantischen“ Träumereien, so seine Bilanz, könne das Souveränitätsproblem und mit ihm das Problem des europäischen Rangs in der sich neu herausbildenden Weltordnung, in der die „großen Flächenstaaten Asiens“ eine entscheidende Rolle spielen könnten, kaum gelöst werden. In einer Stärkung der Nationalstaaten sieht jedoch auch Hank eher einen Weg zur weiteren Integration als die Aufgabe dieses Ziels (Hank 2012).
Geopolitisch bedeutsam ist insbesondere das Denken in konkurrierenden Blöcken. Gerade die Konzeption einer »multipolaren« Weltordnung – im Gegensatz zur unumstrittenen Hegemonie der USA – kann sich mit einigem Recht auf Carl Schmitt berufen. Wenn die Notwendigkeit solcher Blockbildungen – wie immer sie sich vollziehen mögen – jedoch aus internationalen Machtverhältnissen und Selbstbehauptungsinteressen abgeleitet wird, ist die Zentralstellung demokratischer Legitimation längst aufgegeben.
Antagonismus, Souveränität und Staat
„Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“ (MEW 4, S.462) Zurecht gilt der Anfangssatz des »Manifests der Kommunistischen Partei« als Herzstück nicht allein einer materialistischen Theorie der Geschichte, sondern zugleich der politischen Theorie des Marxismus. Im Widerstreit sich antagonistisch gegenüberstehender Klassen auf der Basis bestimmter, jeweils historisch genau zu spezifizierender Produktionsbedingungen sahen Marx und Engels nicht allein die Ursache für sozialen Wandel, sondern das Prinzip des Politischen selbst. Wer dem modernen Staat analytisch auf die Spur kommen oder ihn gar politisch überwinden wolle, stehe demnach vor der Aufgabe, die sozialen (in erster Linie die politisch-ökonomischen) Verhältnisse zu analysieren, als deren Ausdruck die im engeren Sinn politischen Institutionen und die sie begründenden juristischen Formen zu begreifen seien.
Die Staatsrechtslehre Carl Schmitts wiederum ist ohne die Herausforderung der bürgerlichen Theorie durch den Marxismus nur schwerlich zu verstehen. Wie ein Kommentar auf die Theorie des Klassenkampfes liest sich Schmitts Bestimmung der „spezifisch politischen Unterscheidung“ als der „Unterscheidung von Freund und Feind“ (Schmitt 1932/2009, S.25). Tatsächlich ist es nicht unplausibel, Schmitts Ziel darin zu sehen, die in marxistischer Tradition ausformulierte Theorie antagonistischer Verhältnisse und aus ihnen resultierender politischer Institutionen von den Füßen auf den Kopf zu stellen. Auch Schmitt denkt historischen Wandel und politische Form in der Dimension grundlegender Antagonismen. Anders als die marxistische Tradition gibt Schmitt jedoch keine gesellschaftstheoretische Erklärung für das Entstehen antagonistischer Konfliktkonstellationen, sondern betont stattdessen die vollständige „Selbstständigkeit“ der Freund-Feind-Unterscheidung gegenüber allen anderen Sphären der Gesellschaft – auch und gerade gegenüber der ökonomischen Sphäre (ebd., S.26). Explizit verweigert Schmitt in diesem Kontext eine „erschöpfende Definition oder Inhaltsangabe“ (ebd., S.25).
In spezifischer Weise wiederholt sich diese Argumentationsfigur auch in Bezug auf die oben angeführte Definition der Souveränität als Entscheidung über den Ausnahmezustand: „Der Ausnahmefall, der in der geltenden Rechtsordnung nicht umschriebene Fall, kann höchstens als Fall äußerster Not, Gefährdung des Staates oder dergleichen bezeichnet, nicht aber tatbestandsmäßig umschrieben werden.“ (Schmitt 1922/2004, S.13f.) Auch hier wird folglich eine gesellschaftstheoretische Konkretisierung vermieden. Zugleich wird jedoch deutlich, dass der schmittsche »Dezisionismus« keineswegs so beliebig ist, wie ihm mitunter unterstellt wird: Im Ausnahmefall ereignet sich nichts Geringeres als eine Offenbarung der Wahrheit »des Politischen«. Nicht zufällig heißt die Schrift, in der Schmitt seine Souveränitätslehre entfaltet, »Politische Theologie« (Salomon 2010). Dass die von Schmitt ausformulierte Lehre der Freund-Feind-Konstellation überdies weit eher den permanent möglichen Krieg zwischen Staaten vor Augen hat und keineswegs die Institutionalisierung innergesellschaftlicher Konflikte im Sinne etwa ihrer demokratischen Bewältigung,2 macht er mehr als einmal deutlich: „Daß der Staat eine Einheit ist, und zwar die maßgebende Einheit, beruht auf seinem politischen Charakter. Eine pluralistische Theorie ist entweder die Staatstheorie eines durch einen Föderalismus sozialer Verbände zur Einheit gelangenden Staates oder aber nur eine Theorie der Auflösung oder Widerlegung des Staates. […] In Wahrheit gibt es keine politische »Gesellschaft« oder »Assoziation«, es gibt nur eine politische Gemeinschaft.“ (Schmitt 1932/2009, S.41/42) Erodiert diese »Gemeinschaft« durch innere Konfliktlagen, so schlägt die Stunde des Souveräns. Seine Aufgabe besteht nicht zuletzt darin, die Einheit zu restaurieren.
Bereits diese beiden Schlaglichter auf konstitutive Elemente der schmittschen »Großtheorie« sollten eines gezeigt haben: Politische »Einheiten« sind für Schmitt niemals auf sozialen oder ökonomischen Verhältnissen gegründet, vielmehr beruhen soziale und ökonomische Verhältnisse stets auf politischen Entscheidungen. Als »politisch« können jedoch nur solche (souveränen) Entscheidungen gelten, die nach innen Homogenität und nach außen Pluralität schaffen. Die – wie immer begründete – Vision eines universalen Friedenszustands weist Schmitt folgerichtig scharf zurück.
Weltordnung à la Schmitt?
Diesen theoretischen Prämissen bleibt sich Schmitt auch treu, als er seit den späten 1930er Jahren den hauptsächlichen Fokus seiner Arbeit von der Staatstheorie auf Fragen der Geopolitik verlagert. Dass diese Schwerpunktverlagerung recht genau mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs zusammenfällt, muss nicht überraschen. Auch wenn Schmitt zu diesem Zeitpunkt – nach dem Streit um sein Buch »Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes« – in Nazideutschland an Einfluss verloren hatte, zeigt doch spätestens die Abhandlung »Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte« (1939), dass Schmitt auch weiterhin bereit war, die Politik des deutschen Faschismus mit programmatischen Schriften zu begleiten.
Die seinerzeit – nicht nur in Nazideutschland – breit geführte geopolitische Diskussion konnte bereits auf eine lange Geschichte zurückblicken. Reichten die Vorläufer klassischen geopolitischen Denkens bereits ins frühe 19. Jahrhundert zurück (Opitz 1994), so wurden die Fragen ökonomischer und politischer Einflusssphären zu einem konstitutiven Bestandteil der politischen Ideologie des Imperialismus im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Als wissenschaftliches Paradigma war »Geopolitik« nicht zuletzt ein Gegenentwurf zur mehrheitlich marxistischen Imperialismustheorie. An die klassisch geopolitische Tradition, im Gegensatz von Land und Meer den wesentlichen Motor internationaler politischer Entwicklung auszumachen, knüpft auch Schmitt an, wenn er etwa in einer kleinen – eher erzählerischen als wissenschaftlichen – Schrift schreibt: „Die Weltgeschichte ist eine Geschichte des Kampfes von Seemächten gegen Landmächte und von Landmächten gegen Seemächte.“ (Schmitt 1942/2011, S.16)
Der klassische geopolitische Gehalt wird allerdings bei Schmitt, der hier fraglos bewusst mit dem oben zitierten Satz aus dem Manifest von Marx und Engels spielt und nun auch eine inhaltlich gefüllte Gegenthese zum Klassenantagonismus zu geben versucht,3 mit einer bedeutungsvollen Variation vorgetragen. Anders als der für die deutsch-faschistische Geopolitik ebenfalls bedeutsame Karl Haushofer verfällt Schmitt an keiner Stelle einem geographischen Determinismus. Die politischen Entscheidungen im geographischen Raum sind bei ihm weit weniger durch den Raum selbst bestimmt als in einer spezifischen machtpolitischen – aber auch andere Sphären der Gesellschaft einschließenden – historischen Praxis begründet: „In dem Wort Großraum spricht sich für uns der Wandel der Erdraumvorstellungen und -dimensionen aus, der die heutige weltpolitische Entwicklung beherrscht. Während »Raum« neben den verschiedenen spezifischen Bedeutungen einen allgemeinen, neutralen, mathematisch-physikalischen Sinn behält, ist »Großraum« für uns ein konkreter, geschichtlich-politischer Gegenwartsbegriff. Herkunft und Ursprung des Wortes »Großraum« liegen, soweit ich bisher feststellen kann, bezeichnenderweise nicht im staatlichen, sondern im technisch-wirtschaftlich-organisatorischen Bereich.“ (Schmitt 1941/1995, S.270)
Das derart diagnostizierte politische und staatsrechtliche Desiderat zu beheben, ist Schmitts Ziel – nicht nur im »Großraum«-Text von 1939, sondern auch in seinem vielleicht bedeutendsten Spätwerk über den »Nomos der Erde«. Detailliert zeichnet Schmitt darin nach, wie sich in der Moderne durch eine „planetarische Raumrevolution“ – auch aufgrund technischer Innovationen wie der Perfektionierung der Schifffahrt und schließlich der »Eroberung des Luftraums« – das Mensch-Raum-Verhältnis grundlegend gewandelt habe. Der »Nomos der Erde« versucht nichts Geringeres als eine völlige Neubegründung des Völkerrechts in einer Zeit, in der das klassische Staatengleichgewicht der westfälischen Ordnung seine Bindungskraft eingebüßt habe.
Dass der erste Text, in dem Schmitt seine Geopolitik entfaltet, ausgerechnet eine Abhandlung ist, die aufs engste mit dem deutschen Faschismus verknüpft ist, ist jedoch alles andere als eine Nebensächlichkeit. In den ersten Jahren des Zweiten Weltkriegs, in denen der Naziterror sich in einem »Blitzkrieg« nach dem anderen Europa unterwerfen konnte, musste Schmitts Argumentation als besondere Anmaßung wirken. Das »deutsche Reich« erscheint – der Funktion nach – beinahe als ein (temporärer) Weltsouverän, der mit seinem Krieg über den globalen Ausnahmezustand entscheiden und in der Folge ein neues Raumordnungsprinzip hervorbringen werde.
Die schmittsche Alternativerzählung zur marxistischen Imperialismustheorie ist in ihrer tagespolitischen Dimension unschwer als eine offen partikularistische Legitimationsideologie für einen besonders reaktionären Imperialismus (Deppe/Salomon/Solty 2011, S.116) zu dechiffrieren. In legitimatorischer Absicht erklärt Schmitt den faschistischen Raub- und Vernichtungskrieg zu einer Maßnahme gegen den universalistisch ausgreifenden Imperialismus britischer Provenienz. Noch 1950 – im vollen Bewusstsein über den Verlauf des Krieges und den Blutzoll, den die Zivilbevölkerungen, nicht zuletzt die europäischen Juden, unter deutscher Besatzung zu zahlen hatten – schreibt Schmitt: „Zwar werden auch im Land- und im Seekrieg Kampfmittel von gleicher Vernichtungskraft verwendet, wie im Luftkrieg. Aber der Landkrieg schließt es nicht aus, daß seine Mittel und Methoden der Okkupation des feindlichen Landes dienen. […] Der Seekrieg enthält in weit höherem Grade Elemente des reinen Vernichtungskrieges. Wenn die Mittel des Seekrieges gegenüber dem Lande zur Anwendung kommen, so führt das zu einer Blockade und nicht zur Okkupation. Die blockierende Seemacht hat, zum Unterschied von einer okkupierenden Landmacht, nicht das geringste Interesse daran, daß im blockierten Gebiet Sicherheit und Ordnung herrschen.“ (Schmitt 1950/2011, S.294)
Der Haupttitel »Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte« postuliert nicht nur ein Rechtsprinzip, das genau dem seinerzeitigen Interesse der deutschen Außenpolitik zu einer Nichteinmischung der USA in den (bei der Erstauflage freilich noch unmittelbar bevorstehenden) Zweiten Weltkrieg entsprach, sondern konnte zugleich an die US-amerikanische Monroe-Doktrin (1823) anknüpfen, die eine beiderseitige Nichteinmischung der USA und Europas in die Sphäre des jeweils anderen forderte. Darüber hinaus weist auch der Untertitel »Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht« eine doppelte Bedeutung auf: Zum einen ist mit »Reich« tatsächlich das deutsche gemeint, das sich gerade anschickte, Europa zu besetzen. Zum anderen aber – und hier schließt Schmitt unmittelbar an den geopolitischen Argumentationsbestand der Zeit an – steht für Schmitt der Reichsbegriff (beinahe synonym mit Landmacht) für eine zeitgemäße Reformulierung des Gedankens einer pluralen Weltordnung.
Schmitt akzentuiert den (deutsch konnotierten) Reichsbegriff scharf gegen den (englisch und amerikanisch konnotierten) Begriff des »Empire«, das er als „Weltreich“ bezeichnet: „Universalistische, weltumfassende Allgemeinbegriffe sind im Völkerrecht die typischen Waffen des Interventionismus. […] Hier soll zunächst eine mit der Monroedoktrin oft in Parallele gesetzte »Doktrin« behandelt werden: die der »Sicherheit der Verkehrswege des britischen Weltreichs«. Sie ist das Gegenteil dessen, was die ursprüngliche Monroelehre war. Diese hatte einen zusammenhängenden Raum, die amerikanischen Kontinente, im Auge. Das britische Weltreich dagegen ist kein zusammenhängender Kontinent, sondern eine auf die entferntesten Kontinente, Europa, Amerika, Asien, Afrika und Australien, verstreute, räumlich nicht zusammenhängende, politische Verbindung von Streubesitz. […] Die juristische Denkweise, die einem geographisch zusammenhanglosen, über die Erde verstreuten Weltreich zugeordnet ist, tendiert von selbst zu universalistischen Argumentationen.“ (ebd., S.285f.) Hier schließt Schmitt unmittelbar an jene (keineswegs völlig unberechtigte) Kritik des liberalen Universalismus und Interventionismus an, die ihn im »Begriff des Politischen« die Pluralität der Staatenwelt als Notwendigkeit so scharf hatte hervorheben lassen. Eine alternative Konzeptionierung universalistischer Rechtsverhältnisse kennt Schmitt freilich nicht.
Fazit
Wie soll nun die gegenwärtige Schmitt-Renaissance gedeutet werden? Ein Grund für die Konjunkturen schmittschen Denkens ist fraglos auch ein rhetorischer: Mit dem »Kronjuristen des Dritten Reiches« lässt sich trefflich dramatisieren und gleichwohl der Eindruck vermitteln, die eigene Zeitdiagnose sei der Ausfluss realistischer Nüchternheit. Sobald die Begriffe »Ausnahmezustand« oder »Nomos der Erde» in einem Text vorkommen, erscheint die Analyse – wie kurz gesprungen sie auch immer daherkommen mag – von einer Aura des Grundsätzlichen umgeben. Dennoch wäre es verkürzt, die Schmitt-Konjunktur lediglich als postmodernes Spiel zu begreifen. Gerade im Kontext der europäischen Integration erscheint der Rückgriff auf Schmitts Konzeption einer Großraumordnung durchaus plausibel – zumindest dann, wenn die ökonomischen Strukturen des (Finanzmarkt-) Kapitalismus und die durch ihn induzierte Weltordnung selbst nicht in Frage gestellt werden sollen. In ihrem Dreischritt von der Staats- über die Großraum- zur Weltordnungstheorie des »Nomos der Erde« erscheint die schmittsche »Großtheorie« tatsächlich als strenge Alternative zur marxistischen Erklärung des Zusammenhangs von antagonistischer Gesellschaft und kapitalistischem Weltsystem. Eine demokratische und friedliche Weltordnung allerdings lässt sich mit ihr sicherlich nicht begründen.
Anmerkungen
1) Zu den Schmitt-Renaissancen der 1980er Jahre vgl. Römer 2009.
2) In diesem Sinn modifiziert etwa Chantal Mouffe (2007, S.29ff.) Schmitt explizit.
3) 1981 wird Schmitt der Neuauflage der Schrift »Land und Meer« eine Schlussbemerkung hinzufügen, in der er zunächst eine Passage aus Hegels »Grundlinien der Philosophie des Rechts« zitiert: „Wie für das Prinzip des Familienlebens die Erde, fester Grund und Boden, Bedingung ist, so ist für die Industrie das nach außen sie belebende Element das Meer.“ Schmitt fügt hinzu: „Ich überlasse es dem aufmerksamen Leser, in meinen Ausführungen den Anfang eines Versuches zu finden, diesen § 247 in ähnlicher Weise zur Entfaltung zu bringen, wie die §§ 243-246 im Marxismus zur Entfaltung gebracht worden sind.“ (Schmitt 2011, S.108)
Literatur
Bolaffi, Angelo (2003): Politik ohne Macht – Europa hat eine Niederlage erlitten. FAZ, 19.5.2003.
Crouch, Colin (2008): Postdemokratie. Frankfurt/Main.
Deppe, Frank/Salomon, David/Solty, Ingar (2011): Basiswissen Imperialismus. Köln.
Hank, Rainer (2012): Schuldenkrise: Der Ausnahmezustand Europas. FAZ, 12.8.2012.
Kaube, Jörg (2011): Europas Zukunft: Die absolutistische Demokratie. FAZ, 27.9.2012.
MEW = Marx, Karl/Engels, Friedrich (1956ff.): Werke. Berlin.
Mouffe, Chantal (2007): Über das Politische. Frankfurt/Main.
Müller, Harald (2003): Ein transatlantisches Schisma. Frankfurter Rundschau, 4.12.2003.
Opitz, Reinhard (1994): Europastrategien des deutschen Kapitals 1900-1945. Bonn.
Römer, Peter (2009): Tod und Verklärung des Carl Schmitt. In: ders.: Wolfgang Abendroth und Carl Schmitt, Köln. S.126-167.
Salomon, David (2010): Von Regeln und Ausnahmen – Über Recht, Gewalt und Hegemonie. In: Das Argument Nr. 288, S.81-90.
Salomon, David (2012): Basiswissen Demokratie. Köln.
Schmitt, Carl (1922/2004): Politische Theologie – Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. Berlin.
Schmitt, Carl (1932/2009): Der Begriff des Politischen. Berlin.
Schmitt, Carl (1941/1995): Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte – Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht. In: ders.: Staat. Großraum. Nomos – Arbeiten aus den Jahren 1916-1969, hrsg. v. Günter Maschke. Berlin.
Schmitt, Carl (1942/2011): Land und Meer. Stuttgart.
Schmitt, Carl (1950/2011): Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum. Berlin.
Dr. David Salomon ist Politikwissenschaftler und vertritt die Professur für Politische Bildung an der Universität Siegen.