W&F 2013/1

Geopolitik und Grenzüberschreitung

von Jürgen Scheffran

Im Unterschied zur Politischen Geographie, die die Wirkung von Politik auf die Kulturlandschaft untersucht, will Geopolitik politisches Handeln im Raum geographisch begründen. Räumliche Grenzen erlauben die Ausgrenzung des Fremden bei gleichzeitiger Kontrolle ferner Territorien. Damit konnte Geopolitik historisch anknüpfen an das religiös geprägte Programm, sich die Erde untertan zu machen, und das wissenschaftliche Paradigma, die Grenzen zum Unbekannten zu überschreiten.

Angesichts der Instrumentalisierung der Geographie im deutschen Faschismus weckt der Begriff »Geopolitik« hierzulande negative Assoziationen. Auch wenn der Geograph Friedrich Ratzel in seinem Werk »Politische Geographie« von 1897 ohne diesen Begriff auskam, waren seine »Grundgesetze des räumlichen Wachstums der Staaten« ideologisch instrumentalisierbar. Mit Karl Haushofer wurde Geopolitik zur Staatsdisziplin, die die deutsche Kriegsmaschinerie darauf ausrichtete, den Lebensraum des »Volkskörpers« zu expandieren, fremde Territorien »einzuverleiben« und in eine Todeszone für »unwertes Leben« zu verwandeln. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren geopolitische Ambitionen in Deutschland diskreditiert und erlebten erst nach 1990 wieder Bedeutung, nun im europäischen Gewand. Eine wachsende geopolitische Rolle Europas wird von einigen Vordenkern angestrebt, bleibt aber umstritten.

Im angelsächsischen Raum sind dagegen geopolitische Traditionen von Mackinder bis Brzeziñki, Huntington und Kaplan ungebrochen. Die Ergebnisse der beiden Weltkriege und des Kalten Krieges werden positiv verbucht. Mit der Festlegung nationaler Grenzen verlor die Geopolitik von Räumen allerdings an Bedeutung gegenüber der Geoökonomie von Märkten, die wenig Rücksicht auf nationale und natürliche Grenzen nimmt. Zum Gegenstück der Globalisierung wurde die Fragmentierung sozialer und politischer Strukturen in fragilen Räumen, in denen der Kampf um Macht und Herrschaft gewaltsam ausgetragen wird. Während geographische Distanzen durch Transport und Kommunikation schrumpfen, bleiben politische Distanzen und Bruchlinien bestehen. Die Armutsgürtel in Washington liegen den Zentren der Macht auch nicht näher als die Slums der Dritten Welt.

Geopolitik war immer auch mit der Ausbeutung der Natur verbunden. Im Zeitalter des Anthropozän werden natürliche Ressourcen knapper, vor allem Land, dessen Erwerb über nationale Grenzen hinweg vor allem eine Frage des Geldes ist. Durch den Klimawandel entstehen neue Hochrisikozonen, die in Weltkarten der Verwundbarkeit erfasst werden. Mit der Entfaltung erneuerbarer Energien im Rahmen einer grünen Ökonomie werden jene Orte wertvoller, die eine hohe Sonneneinstrahlung und Biomasse-Produktivität, starke Flüsse für Wasser, Wind, Geothermie, Gezeiten und Ozeanströmungen aufweisen. In solchen Energielandschaften verschieben sich Kontrollansprüche, Widerstände und Konfliktpotentiale auf die lokale Ebene. Je mehr die natürlichen Grenzen des Wachstums erreicht werden, umso mehr wachsen auch Bestrebungen, die widerspenstige Natur unter Kontrolle zu bekommen. Dies zeigt das Konzept des Geoengineering, das an den Steuerschrauben des Klimasystems drehen will, um es in akzeptablen Grenzen zu halten.

Das Gedankengut der Geopolitik breitet sich auch in technisch konstruierten Räumen aus. Neues Terrain wird nicht nur in fernen Weltgegenden oder im Weltraum beansprucht, sondern auch in den Räumen des Cyberspace, im biologischen Mikrokosmos oder in der Nanowelt. Während im geographischen Atlas Distanzen verdichtet werden, um Lebenswelten abzubilden, werden sie im genetischen Atlas aufgebläht, um Claims für die Patentierung neuen Lebens abzustecken. Durch Satelliten und geographische Informationssysteme wird eine Verbindung aller Natur- und Lebensbereiche global und in Echtzeit möglich. Mit den vernetzten Welten von Facebook, Google Maps und iPhone sind viele überall erreichbar und verortbar. Das Webcam-Fenster zur Welt wird zum Fenster der Welt ins eigene Wohnzimmer. Der Anspruch des umfassenden Zugriffs rund um den Erdball eröffnet so die Möglichkeit der totalen Kontrollierbarkeit.

Kritische Ansätze zur Geopolitik bezweifeln, dass menschliches Verhalten durch geographische Faktoren determiniert wird, und kritisieren, dass Grenzen in politische Diskriminierung umgemünzt werden, etwa gegenüber Frauen oder ethnischen und religiösen Gruppen. Aus feministischer Perspektive dient Geopolitik der Durchsetzung patriarchalischer Strukturen und der Vorherrschaft des weißen Mannes. Ob eine alternative Geopolitik, die auf lokalen Kontexten und partizipativen Ansätzen basiert und Widerstände zur Schaffung von Freiräumen betrachtet, angesichts der vorbelasteten Geschichte erfolgversprechend ist, sei dahin gestellt. Indem die Geographie Schnittstellen zu allen andere Disziplinen entwickelt, eröffnet sie die Möglichkeit ihrer integrativen Verschmelzung. Dies wäre eine andere »Rache der Geographie«, als Robert Kaplan dies in seinem jüngsten Werk gleichen Namens vorhergedacht hat.

Ihr Jürgen Scheffran

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2013/1 Geopolitik, Seite 5