W&F 2001/2

Gerechter Krieg?

Anmerkungen zur bellum-iustum-Lehre

von Albert Fuchs

Ist vom moralischen Standpunkt aus Krieg gleich Krieg, ist jeder Krieg gleich verwerflich? Oder gibt es gute und böse, gerechte und ungerechte oder doch zumindest mehr und weniger gerechtfertigte Kriege? Oder liegt Krieg »jenseits von Gut und Böse« und ist allenfalls im Lichte von Interessen- und Machtkalkülen zu bewerten? Mit diesen Fragen sind die wichtigsten Positionen zur moralischen Bewertung von militärischer Gewalt markiert: Pazifismus, Belli(zi)smus und »Realismus« (oder Militarismus). Im vorliegenden Beitrag wird die bellistische Position zunächst in ihren Grundzügen nachgezeichnet und dann kritisch beleuchtet. Der Autor diagnostiziert fünf interventionsethische Schwachstellen, die augenscheinlich weit gehend irreparabel sind. Abschließend versucht er, das Dilemma zu entschärfen, das eine Fundamentalkritik am Bellismus für viele impliziert.
Hauptkennzeichen des Bellismus ist das Operieren mit irgendeiner Form der im politisch-moralischen Diskurs der Vorwendezeit eher als obsolet geltenden bellum-iustum-Lehre, der Lehre vom »gerechten« oder »gerechtfertigten« Krieg.1 Deren Wiederbelebung nach der Epochenwende kann man kaum eindrucksvoller beispielhaft belegen als mit der folgenden Meinungsäußerung des Wissenschaftstheoretikers und Philosophen Karl Popper in einem Spiegel-Interview im Zusammenhang des Zweiten Golfkriegs: „Unser erstes Ziel heute muss der Friede sein. Der ist sehr schwer zu erreichen in einer Welt wie der unseren, wo Leute wie Saddam Hussein und ähnliche Diktatoren existieren. Wir dürfen hier nicht davor zurückschrecken, für den Frieden Krieg zu führen. Das ist unter den gegenwärtigen Umständen unvermeidbar… Es muss eine Art Einsatztruppe der zivilisierten Welt für solche Fälle geben. Im überholten Sinn pazifistisch vorzugehen wäre Unsinn. Wir müssen für den Frieden Kriege führen. Und selbstverständlich in der am wenigsten grausamen Form…“ (Popper, 1992 – zit. nach Popper, 1996, S. 288)

Nicht, dass die bellum-iustum-Lehre unter der Herrschaft der Abschreckungsdoktrin gegenstandslos gewesen wäre. Nach der Logik dieser Doktrin hatte die bezweckte und erwartete Wirkung des Abschreckungsinstrumentariums ja die Bereitschaft zur Voraussetzung, dieses Instrumentarium auch anzuwenden, notfalls bis zur »wechselseitig garantierten Vernichtung«. Insofern war die an dieser Doktrin orientierte Sicherheitspolitik höchst rechtfertigungsbedürftig. Gleichwohl weste die bellum-iustum-Konzeption zur Zeit des Kalten Kriegs praktisch nur in Völkerrechts-Seminaren und im katholischen Milieu mehr schlecht als recht vor sich hin. Welche Rolle auch immer sie damals gespielt haben mag, in Poppers Einlassung steigt sie einem wie der sprichwörtliche Phönix aus der Asche entgegen. Fast alle traditionellen Kriterien werden angesprochen, allerdings auf sehr abstraktem Niveau: der rechtfertigende Grund („in einer Welt wie der unseren, wo Leute wie Saddam Hussein…“), die legitime Autorität („der zivilisierten Welt…“), die rechte Absicht („für den Frieden…“), das letzte Mittel („unter den gegenwärtigen Umständen unvermeidbar…“), die Verhältnismäßigkeit („in der am wenigsten grausamen Form“). Interessanterweise fehlt die Diskriminierbarkeit von Kombattanten und Nicht-Kombattanten; darauf wird zurückzukommen sein.

Mit der Selbstmandatierung der NATO zum Kosovo-Krieg und der Verabschiedung ihres neuen Strategie-Konzepts im April '99 scheint sich der Phönix endgültig aus seiner Asche erhoben zu haben (vgl. Barth, 1999; Wirth, 1999). Die bellum-iustum-Lehre soll jedoch – gemäß ihrer christlich-großkirchlichen Tradition (vgl. Engelhardt, 1980; Rief, 1981; Spieker, 1997) und auch gemäß Poppers wohlwollend zu unterstellender Äußerungsabsicht – militärische Gewalt nicht befördern, sondern verhindern oder zumindest eingrenzen helfen. Sie ist nur angemessen zu verstehen vor dem Hintergrund eines fundamentalen Vorbehalts gegen den Krieg zugunsten des Friedens. Das besagt: Androhung und Anwendung von militärischer Gewalt sind nur bedingt zu rechtfertigen – als Instrument der Gewaltverhinderung, -begrenzung und -verminderung. Mit den erwähnten Kriterien versucht man zu spezifizieren, unter welchen Umständen welche Ziele welche militärische Gewalt oder Gewaltandrohung trotz des grundsätzlichen Vorbehalts dagegen zu rechtfertigen vermögen. Diese Bedingungen müssen alle gleichzeitig und über die gesamte kriegerische Auseinandersetzung hinweg erfüllt sein, wenn diese ethisch vertretbar sein und bleiben soll.

Der fundamentale Vorbehalt gegen Krieg und die strengen Anforderungen an ein von der Generalnorm abweichendes Handeln, das gleichwohl ethisch vertretbar sein soll, verleihen der bellum-iustum-Lehre beachtliche ethische Plausibilität. Hinzu kommt die Verankerung der Kriterien in einem (naiven) handlungstheoretischen Grundverständnis von Krieg. D.h. die kriegerisch interagierenden Kollektive werden in Analogie zu individuellen sozialen Akteuren verstanden, und die Kriterien lassen sich zwanglos den Hauptfacetten eines Situations-Handlungskomplexes zuordnen. Diese Verankerung bedeutet, dass die besagten Kriterien weit gehend denen entsprechen, die man im Alltag zur Beurteilung aggressiver und gewaltförmiger Handlungen von Sozialpartnern verwendet oder auch an Zwangsmaßnahmen staatlicher Instanzen anlegt (vgl. Cohrs, 2000).

Doktrinäre Schwachstellen

Kritik, die diese Stärken der Lehre vom gerechten Krieg ignoriert, wird leicht selbst fragwürdig – wenn sie etwa diese Lehre als solche mit der Idee des »heiligen Kriegs« der mittelalterlichen Kreuzzugsbewegung u.a. (vgl. Colpe, 1994) verwechselt und pauschal als wohlfeiles Legitimationsinstrument diffamiert, dessen sich jeder Staat bedienen könne, der zur militärischen Durchsetzung seiner Interessen entschlossen sei, oder sie riskiert einen Kampf gegen Windmühlen. Dennoch überwiegen m.E. die Schwächen der Lehre bei weitem ihre Stärken.

  • Eine ganz offensichtliche Schwäche besteht in der immensen Diskrepanz zwischen dem hehren moralischen Anspruch und den fatalen unmoralischen Auswirkungen der bellum-iustum-Lehre – z.T. in Folge ihrer Verwechslung mit der Leitidee des »heiligen Kriegs« seitens ihrer Verfechter selbst! Die Entwicklung von dem ersten namhaften christlichen bellum-iustum-Theoretiker Aurelius Augustinus (354-430) über den Kreuzzugspropagandisten Bernhard von Clairvaux (1091-1153) und die Kolonisatoren späterer Jahrhunderte, die ganze »heidnische« Kontinente vor Bernhards unsägliche Alternative »Vollständige Ausrottung oder sichere Bekehrung« (vgl. Milger, 1988, S. 184) gestellt haben, bis zum bischöflichen Segen für Hitlers Armeen und US-amerikanische Atom- und Napalmbomben verlief nicht in rätselhaften Sprüngen, sondern kontinuierlich und geradlinig. Selbst die deutschen Bischöfe müssen in ihrem »Wort zum Frieden« von 1983 konzedieren: „Auf diese Weise konnte die gewandelte Lehre vom »gerechten Krieg« nur zu leicht als Instrument benutzt werden, um Ideologien und Interessen zu rechtfertigen, die weit von den kirchlichen Auffassungen entfernt waren.“ (Deutsche Bischofskonferenz, 1983, S. 26).2 Vermutlich gibt es kaum solide historische Belege dafür, dass der Rekurs auf die bellum-iustum-Lehre auch nur einen Krieg verhindert, begrenzt oder »vorzeitig« zu Ende gebracht hätte; dagegen dürften die Beispiele der Propagierung, Anstiftung und Rechtfertigung von militärischer Gewalt durch einen mehr oder weniger expliziten derartigen Rekurs kaum zu zählen sein.
  • Die Instrumentalisierbarkeit der Argumentationsfigur für Zwecke der Rechtfertigungsrhetorik oberster und möchtegernoberster Kriegsherren kann bellum-iustum-Experten nicht irritieren – so wenig wie Fehler von Laien beim schlussfolgernden Denken Logiker an fundamentalen logischen Prinzipien irre zu machen vermögen. So lassen sich etwa die nachweislich häufig gemachten Fehler des (vermutlich interessengeleiteten) selektiven Gebrauchs und/oder der unterschiedlichen Gewichtung der Kriterien (vgl. Fuchs, 1999) leicht beheben – jedenfalls nachträglich und vom Schreibtisch aus (vgl. Jürjens, 1996). Die fragliche Lehre ist allerdings kein in sich geschlossener logischer Kalkül, sondern kann nur auf der Grundlage von Sach-Information und -Kenntnis funktionieren. Das bedeutet, dass die abstrakten Beurteilungskriterien operationalisiert oder doch wenigstens genauer expliziert werden müssen, um anwendbar zu sein. Was ist beispielsweise in einem politisch-moralisch ausweisbaren Sinn unter einem schwerwiegenden Unrecht zu verstehen, das als rechtfertigender Grund einer militärischen Intervention in Betracht kommen könnte? Zur Konkretisierung dieser Problematik sei an dieser Stelle nur auf die Schwierigkeiten verwiesen, mit denen bereits bei der Feststellung einer militärischen Aggression gemäß dem Vorschlag des Sonderausschusses der Vereinten Nationen von 1974 zu rechnen ist (vgl. Vereinte Nationen, 1983). Hier gähnt – im Hinblick auf die diversen Kriterien – eine wahre Schlangengrube von Problemen.
  • Gestandene und gewitzte bellum-iustum-Experten werden auch vor dieser Schlangengrube nicht zurückschrecken – jedenfalls nicht in ihren programmatischen Erklärungen! Schließlich hat jede Objektwissenschaft ihre Explizierungs- und Operationalisierungsprobleme. Doch selbst wenn Versuche einer konsensuellen Explizierung der bellum-iustum-Kriterien mittel- oder langfristig erfolgreich sein sollten, wäre damit noch keineswegs geklärt, ob mit einem Recht zur »humanitären Intervention« entgegen dem prinzipiellen Gewaltverbot (und der Souveränitätsgarantie des Völkerrechts gemäß Art. 2 (4) Charta der VN) auch eine Interventionspflicht gegeben ist bzw. wie aus dem Recht eine entsprechende Pflicht entsteht. Eine in diesem Zusammenhang gelegentlich als anthropologisch begründet postulierte »globale Solidaritätspflicht« (vgl. Spieker, 1997, S. 318f.) scheint nicht nur die Vereinten Nationen, sondern auch Staatenbündnisse, ja jeden Staat in jedem Fall zum (militärischen) Eingreifen zu verpflichten! Wenn dagegen aus dem Interventionsrecht nicht automatisch eine Interventionspflicht entsteht, wäre eine Verpflichtungsabstufung normativ zu begründen. So oder so erscheint höchst fraglich, wie bei der Umwandlung des Interventionsrechts in eine Interventionspflicht das ethisch Geforderte „den Vorrang gegenüber allen anderen Zwecken“ (Schmidt, 1995, S. 20) behaupten, die rechte Absicht also gewährleistet sein kann.
  • Ein womöglich noch vertrackteres Problem ergibt sich aus der Frage, wer denn eigentlich beurteilen soll, ob in einem konkreten Fall alle Voraussetzungen der ethischen Vertretbarkeit von militärischer Gewaltanwendung vorliegen. Gemäß der obrigkeitsorientierten großkirchlichen (katholischen?) Tradition steht dieses Urteil „dem klugen Ermessen derer zu, die mit der Wahrung des Gemeinwohls betraut sind“ (Katechismus der Katholischen Kirche, 2309 – zit. nach Spieker, 1997, S. 314f.). Diese Lösung ist gewiss obrigkeitsgefällig, lässt sich aber kaum in Einklang bringen mit der in eben dieser Tradition betonten moralischen Letztverantwortung des Einzelnen. Vor allem steht sie in Widerspruch zu der grundgesetzlich garantierten unverletzlichen Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG). Denn das Grundrecht der Gewissensfreiheit sichert nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht nur die freie Gewissensentscheidung im Sinne der Bildung eines an den Kategorien von Gut und Böse orientierten und in einer bestimmten Lage als bindend und unbedingt verpflichtend erfahrenen Werturteils, sondern auch die freie Gewissensbetätigung im Sinne des Handelns gemäß diesem Urteil. Das bedeutet aber, dass in keinem Fall eines regierungsamtlich avisierten bellum iustum die notwendige Folgebereitschaft der Regierten garantiert ist – zumal die Kriegführung sich der bellum-iustum-Konzeption zufolge in ihrer moralischen Qualität ja verändern kann und daher eine kontinuierliche Neubewertung erfordert. In einem demokratisch und rechtsstaatlich verfassten Gemeinwesen entfällt demnach im Prinzip eine zentrale Funktionsbedingung eines bellum iustum, die Einforderbarkeit bzw. Erzwingbarkeit des Gehorsams der Regierten gegenüber dem Anspruch der Obrigkeit, dass jene sich auf Töten und getötet Werden nach ihrem – der Obrigkeit – »klugen Ermessen« einlassen. M.a.W.: Die Vorstellung »Die Regierenden wollen Krieg machen, die Regierten aber machen nicht mit« – und zwar von Rechts wegen – könnte jederzeit Wirklichkeit werden! Die Frage, wer darüber zu befinden hat, ob die Voraussetzungen eines ethisch vertretbaren Krieges gegeben sind, hat in der Geschichte der bellum-iustum-Lehre eine wichtige Rolle gespielt; u.a. führte sie über die Einsicht, dass die beteiligten Parteien meist zu einem gegensätzlichen Urteil gelangen, zur Idee des »beiderseits gerechten Kriegs« bzw. zur Lehre vom freien Recht des Souveräns auf Krieg. In der zeitgenössischen affirmativen Literatur wird diese Frage, wenn überhaupt thematisiert, bevorzugt nach »katholischem« Muster beantwortet (s.o.), durch Verweis auf die UN bzw. den UN-Sicherheitsrat. Daher ist schwer einzuschätzen, was bellum-iustum-Theoretiker zu der herausgearbeiteten Inkompatibilität zu sagen haben. Mit einiger Wahrscheinlichkeit reagieren sie aber auf die Freilegung der eigentlichen Achillesferse ihres Glaubens an militärische Gewalt mehr oder weniger gereizt mit (rhetorischen) Fragen wie, ob man denn wirklich verletzende und tötende (militärische) Gewalt ausnahmslos ablehne, ob man etwa auch Notwehr ablehne, ob man gar das Gewaltmonopol des Staates in Frage stelle u.s.w. Welche Schwachstelle des bellum-iustum-Konzepts wird berührt, dass der Kritiker derart harsche Reaktionen verdient?
  • Die eigentliche Achillesferse des im bellum-iustum-Konzept konkretisierten Glaubens an die (militärische) Gewalt besteht zweifelsohne in dem unabdingbaren Widerspruch von Ziel und Mittel bzw. von Tötungstabu und Tötungslizenz. Eine Kultur ohne Tötungstabu, wie eingeschränkt auch immer, gibt es vermutlich nicht, hat es wahrscheinlich nie gegeben und kann es kaum geben. VertreterInnen der jüdisch-christlichen Kultur halten dieser vielfach zugute, das Tötungstabu radikal verallgemeinert, auf alle Artgenossen ausgeweitet zu haben. Ob dieser Anspruch historisch zu verifizieren ist, kann hier dahingestellt bleiben.3 Tatsache ist jedenfalls, dass diese Kultur in unterschiedlichen Formen und Ausprägungen einen fundamentalen Widerspruch zum uneingeschränkten Tötungstabu mit sich schleppt: Die Idee, Töten könne moralisch sein, ja moralisch sein könne Töten erfordern. Vor allem im Zusammenhang von Konflikten zwischen Staaten oder staatenähnlichen Verbänden, in einem bellum iustum, vermag die staatliche Lizenz zum Töten scheinbar das Tötungstabu vergessen zu machen: Was Mord ist, wenn einer es von sich aus tut, wird zu einer prosozialen Handlung, zu einer Tugendheldentat, da er es von Staats wegen tut. Verschärft manifestiert sich dieser Widerspruch, wenn unbeteiligte Unschuldige die Opfer sind. Die Kantsche Bestimmung einer Handlung als sittlich, sofern sie den anderen als Zweck an sich selbst behandelt und niemals nur als Mittel für die eigenen Zwecke, kann kaum eklatanter negiert werden als in diesem Fall. Das bellum-iustum-Kriterium der Diskriminierbarkeit (von Kombattanten und Nicht-Kombattanten) wird diesem Problem angesichts der (keineswegs nur modernen) Kriegsrealität allenfalls deklamatorisch gerecht. Denn: Wie unbeteiligt muss man sein, um nach diesem Kriterium Berücksichtigung zu finden, und wie viele unbeteiligte Unschuldige können geopfert werden, bis es greift?

Was bleibt?

Was bleibt aber nun – nach dieser Fundamentalkritik an der bellum-iustum-Konzeption? Kann man denn Krieg führen ohne diese Konzeptionen überhaupt moralisch beurteilen? Oder gibt es eine bessere Alternative? Und bestätigt man sie nicht notwendigerweise, wenn man sie trotz aller Schwächen verwendet?

Mir ist keine vergleichbar differenzierte und ähnlich plausible Argumentationsfigur zur moralischen Beurteilung von (militärischer) Gewalt bekannt. Wahrscheinlich haben die Recht, die behaupten, jeder, der nicht Radikalpazifist oder »Realist« sei, verwende eine subjektive Theorie des gerechten Kriegs und die bellum-iustum-Konzeption beeinflusse nach wie vor alle einschlägigen Entscheidungen. Das entsprechende völkerrechtliche Instrumentarium, wie es vor allem in der UN-Charta niedergelegt ist, steht jedenfalls historisch in der bellum-iustum-Tradition und stellt in der Sache im Wesentlichen deren (lückenhafte) Positivierung und Formalisierung dar. Ob die Lehre damit friedensdienlicher geworden ist, lässt sich kaum allgemein entscheiden. Einerseits könnte diese Formalisierung ein Mittel gegen den Missbrauch für Zwecke der Propagierung und Rechtfertigung von militärischer Gewalt darstellen; andererseits könnte eine authentisch und stringent gewaltkritische bellum-iustum-Argumentation auch völkerrechtlich (unter den demokratietheoretisch höchst fragwürdigen Bedingungen des UN-Systems) sanktionierte militärische Gewalt – wie die der Golfkriegsalliierten – in die Schranken weisen.

Fundamentalkritiker befinden sich demnach in einem auf den ersten Blick ausweglosen Dilemma: Verzichten sie in aller Konsequenz auf den Gebrauch der Argumentationsfigur des bellum iustum, berauben sie sich eines u.U. doch effektiven Instruments der Kritik von Militärgewalt und haben kaum noch die Möglichkeit, beispielsweise UN-Blauhelmeinsätze politisch-moralisch von Hitlers Vernichtungskriegen zu unterscheiden; machen sie aber Gebrauch davon von, werden sie anscheinend zu Bellisten, weil das die Erfüllbarkeit der Kriterien impliziert. M.E. handelt es sich aber um ein Pseudodilemma, das vor allem aus einem merkwürdigen Begriffsrealismus und einem rigiden Entweder-Oder-Denken resultiert. Die Verwendung der begrifflichen Unterscheidung von gerechten und ungerechten Kriegen impliziert aber nicht einmal, dass beides vorkommen kann, geschweige denn, dass beides wirklich vorkommt; ein »ontologischer bellum-iustum-Beweis« funktioniert so wenig wie der »ontologische Gottesbeweis«. Andererseits sind wohl auch politisch-moralische Fragen in Bezug auf militärische Gewalt sachgerechter zu handhaben, wenn man Übergänge zwischen Schwarz und Weiß zulässt. Warum sollte eine elaborierte, vor allem den beiden ersten der herausgearbeiteten Schwachstellen einigermaßen Rechnung tragende bellum-iustum-Konzeption nicht geeignet sein, Graustufen zu differenzieren? Die anderen Schwächen der Lehre garantieren, dass auch hartgesottene Bellisten sich darauf nicht ausruhen können!

Literatur

Barth, H. (1999). Moral allein genügt nicht. Süddeutsche Zeitung vom 16.06.99, S. 13.

Cohrs, J. C. (2000): Die Beurteilung des Kosovo-Kriegs im Kontext relevanten politischen Wissens. Wissenschaft und Frieden, 18 (4), 60-62.

Colpe, C. (1994): Der Heilige Krieg. Benennung und Wirklichkeit, Begründung und Widerstreit. Bodenheim, Hain.

Deutsche Bischofskonferenz (1983): Gerechtigkeit schafft Frieden. Bonn, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz.

Eibl-Eibesfeldt, I. (1997): Krieg und Frieden aus der Sicht der Verhaltensforschung. München, Piper.

Engelhardt, P. (1980): Die Lehre vom »gerechten Krieg« in der vorreformatorischen und katholischen Tradition. In R. Steinweg (Red.): Der gerechte Krieg: Christentum, Islam, Marxismus (S. 72-124). Frankfurt/M., Suhrkamp.

Fuchs, A. (1999): Mehr wert als das Märchen vom Drachentöter? Die bellum-iustum-Lehre auf dem Prüfstand der Empirie. In W. R. Vogt (Hrsg.): Friedenskultur statt Kulturkampf (S. 131-144). Baden-Baden, Nomos.

Huber, W. (1974): Kirche und Militarismus. In W. Huber & G. Liedke (Hrsg.): Christentum und Militarismus (S. 158-184). Stuttgart/München, Klett/Kösel.

Jürjens, B. (1996): Die neue Diskussion um gerechte Kriege und humanitäre Intervention – das Beispiel Somalia. Duisburg, Institut für Entwicklung und Frieden (INEF-Report 16/1996).

Milger, P. (1988): Die Kreuzzüge. Krieg im Namen Gottes. Gütersloh, Bertelsmann.

Popper, K. R. (1996): Kriege führen für den Frieden. In K. R. Popper: Alles Leben ist Problemlösen (S. 283-295). München, Piper.

Reuter, H.-R. (1994): Frieden mit aller Gewalt? Aspekte politischer Ethik. In F. Solms, R. Mutz & G. Krell (Hrsg.): Friedensgutachten 1994 (S. 80-93). Münster, Lit.

Rief, J. (1981): Die bellum-iustum-Theorie historisch. In N. Glatzel & E. J. Nagel (Hrsg.): Frieden in Sicherheit (S. 15-40). Freiburg i. Br., Herder.

Schmidt, H. (1995): Humanitäre Intervention. Zur ethischen Problematik eines neuen Typs militärischer Einmischung. Wissenschaft und Frieden, 13 (4), 17-21.

Spieker, M. (1997): Von der nuklearen Abschreckung zur humanitären Intervention. Zur Aktualität der bellum-iustum-Lehre. Zeitschrift für Politik, 44, 310-323.

Wirth, S. (1999): Zurück zur Lehre des gerechten Kriegs? Zur Völkerrechtswidrigkeit des Nato-Einsatzes über Kosovo und zu den rechtlichen Kosten der Intervention. Frankfurter Rundschau vom 07.04.99, S. 4.

Vereinte Nationen (1983): Resolution 3314 (XXIX) der Generalversammlung der Vereinten Nationen zur Definition des Begriffs der Aggression (14. Dezember 1974). In I. v. Münch (Hrsg.): Abrüstung – Nachrüstung – Friedenssicherung (S. 17-21). München, dtv.

Anmerkungen

1) Es gibt einige Gründe, (von der Lehre) vom »gerechtfertigten« statt vom »gerechten« Krieg zu reden – sachliche und politpsychologisch-strategische. Im Rahmen dieses Beitrags sind jene nicht wichtig genug für diese Differenzierung und diese unakzeptabel. Klar sollte aber sein, dass hier durchgehend nur ein kriteriologisches Verständnis der bellum-iustum-Lehre vorausgesetzt wird (vgl. Reuter, 1994).

2) Die Tatsache, dass bereits Augustinus in den innerkirchlichen Auseinandersetzungen zwischen dem konstantinisch gewendeten reichskatholischen Episkopat und den donatistischen nordafrikanischen Bischöfen staatliche Zwangsmaßnahmen gegen die »Häretiker« rechtfertigte, lässt allerdings die sozusagen angeborene Ambivalenz der bellum-iustum-Lehre erkennen (vgl. Huber, 1974).

3) Aus der Sicht der Verhaltensforschung bestimmt Eibl-Eibesfeldt das Verhältnis von Tötungstabu und Tötungslizenz eher umgekehrt. Danach hat der Mensch erst im Verlaufe „der kulturellen Pseudospeziation… seinem biologischen Normenfilter, der zu töten verbietet, einen kulturellen Normenfilter überlagert, der zu töten gebietet“ (Eibl-Eibesfeldt, 1997, S. 289). Die jüdisch-christliche Generalisierung des Tötungstabus stellt insofern eine Kulturalisierung des „biologischen Normenfilters“ dar.

Dr. Albert Fuchs ist apl. Professor für Psychologie an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt und arbeitet für das Forum Friedenspsychologie im Redaktionsteam von Wissenschaft und Frieden mit.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2001/2 Recht Macht Gewalt, Seite