W&F 2010/2

»Gerechter Krieg« und Pazifismus

Ein Vergleich islamisch-westlicher Denktraditionen

von Kai Hafez

Vor allem die Existenz des islamistischen Terrorismus lässt nach dem Verhältnis des Islam zur Gewalt fragen. Besteht in der islamischen Welt eine im Vergleich zur christlich-abendländischen Welt kulturell und religiös stärker ausgeprägte Gewaltneigung? Diese auf den ersten Blick plausible Annahme erweist sich bei näherer Betrachtung als nicht haltbar. Ein Vergleich westlich-christlicher und östlich-islamischer Denktraditionen verweist sogar auf erstaunliche Parallelen des Gewaltbegriffs.

In beiden Sphären prägt die Idee des »gerechten Krieges« und der »gerechten Gewalt« den Mainstream der Theologie und der Denktraditionen, während sowohl Extremismus als auch Pazifismus Minderheitenmeinungen geblieben sind, die allerdings in der politischen Entwicklung für bedeutsame Ereignisse des gewaltfreien Widerstandes stehen. Der bislang fast durchgehend verweigerte Vergleich der religiösen und politischen Kulturen zeigt, dass Unterschiede zwischen Islam und Westen eher in der Form der ideologischen Begründungen und der Traditionen als in deren Substanz begründet liegen.

Die Lehre vom »gerechten Krieg« – kein Krieg ist heilig

Das Verhältnis von Religion und politischer Gewalt wird nur in einer minoritären Richtung des Islam so gedeutet, dass sich die entsprechenden Interpretationen als Grundlage für terroristische Akte eignen. In der islamischen Tradition lassen sich drei Strömungen einer politischen Gewalttheorie ausmachen (Bennett 2005, S.198 ff.). Am bedeutsamsten ist die Theorie des gerechten Krieges, wonach Gewalt nur defensiv und im Falle eines Angriffes von außen erlaubt ist. Daneben existieren die kleineren Denkströmungen des offensiven und totalen Krieges (Dschihadismus) und des islamischen Pazifismus, auf den später einzugehen sein wird.

Gemäß der moderaten Lesart, die heute die meisten Gelehrten vertreten (Abu-Nimer 2003, S.26 ff., 35; Bennett 2005, S.219 ff.), ist Krieg im Islam nur erlaubt, wenn die Intentionen und die Abwägung der Verhältnismäßigkeit der Mittel keinen anderen Weg erlauben, also etwa zur Befreiung von Muslimen von Aggressoren. Auch im Krieg soll Gewalt verhältnismäßig eingesetzt werden, und Zivilisten dürfen nicht das Ziel des Angriffs sein. Kernpunkt dieser Ansicht ist, dass das sogenannte »Haus des Islam« (Dar al-Islam), also das Territorium mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung, zwar gewaltsam verteidigt, aber nicht gewaltsam erweitert werden darf. Kriege um der Mission und Konversion willen dürfen nicht geführt werden.

Vor allem die bei extremistischen Islamisten beliebten Denker Sayyid Qutb und Sayyid Abul Ala Maududi haben einen offensiven »heiligen Krieg« propagiert (Bennett 2005. S.198 ff.). Das Dar al-Islam steht demnach in ständigem Krieg mit dem Dar al-Kufr, mit dem Territorium der »Ungläubigen«. Frieden wird erst im Jenseits gewährt. Historische Bezüge lassen sich zum Beispiel zu den Kalifen herstellen, die als Nachfolger Mohammeds das arabische Territorium aktiv erweitert haben und damit die islamische imperiale Phase einleiteten. Heute ist diese Auslegung einer kleinen terroristischen Minderheit vorbehalten, die als »dschihadistisch« bezeichnet wird (Understanding Islamism 2005).

Die Existenz einer moderaten, defensiven wie einer radikalen, offensiven theologischen Begründung politischer Gewalt stimmt mit der christlichen Tradition überein, auch wenn deren historische Konjunkturen oft zeitversetzt waren. Vilho Harle: „Der Islam ist wegen des Konzepts des Jihad, üblicherweise übersetzt mit ›heiliger Krieg‹, vielfach als eine gewaltsame Doktrin betrachtet worden. Dies ist unzutreffend: Gemäß dem klassischen Islam ist keine menschliche Aktivität heilig, und dies gilt ganz besonders für den Krieg. Es steht auf einem anderen Blatt, dass der Islam, ganz wie der Zoroastrismus, das Judentum und das Christentum, Menschen dazu bewegt hat, im Namen der Religion und im Auftrag Gottes Kriege zu führen – für das Gute und gegen das Böse. (…) Die religiöse Doktrin als solche aber beinhaltet nicht mehr Gewalt als die des Christentums“ (Harle 2000, S.75, 77, eigene Übers.).

In der Geschichte hat es immer wieder das Bild des christlichen Märtyrers gegeben (Davis III 2004). Für den christlichen Krieger war allerdings nicht Jesus Christus das Vorbild, da er mit der traditionellen christlich-jüdischen Figur des kriegerischen Messias, der die Welt reinigt und sie dem richtigen Glauben zuführt, gebrochen hatte. In den Jahrhunderten nach dem Tod Christi entwickelte sich die Märtyrer-Figur des Christentums immer stärker vom leidenden und pazifistischen Märtyrer zum christlichen Krieger-Märtyrer, etwa in der legendären Figur des Heiligen Georg aus Lydda/Palästina, die im 4. Jahrhundert entstand. Georg wurde später von Richard Löwenherz zum Schutzherrn dessen Kreuzzuges erkoren. Muslime und Christen haben über Jahrhunderte nahezu identische Vorstellungen vom gerechten Krieg entwickelt. Wichtig waren hierbei im Christentum etwa die Lehren des Heiligen Augustinus oder die frühmittelalterliche Theologie des französischen Klosters Cluny, deren Abt Odo (926-44) argumentierte, man könne Kriege für gute Motive, also »heilige Kriege«, führen (Davis III 2004, S.251). Diese Vorstellung wurde während der Kreuzzüge offensiv-radikal, während der Angriffe islamischer Staaten aber auch defensiv-moderat gedeutet, und sie lebt auch heute noch in der Sprachgebung solcher Evangelisten wie Billy Graham fort, dessen Reden deutliche Spuren der heiligen Kriegslehre aufweisen. Glaube, so Graham, sei permanenter Krieg, Krieg gegen die Sünder und die Sünde (Davis III, S.244). Im Westen ist die offensive Reinigungsmetapher zum Teil auch bei christlich inspirierten Sekten wie Scientology sehr beliebt, bekannt geworden etwa im Januar 2008, als der amerikanische Schauspieler Tom Cruise, ein hohes Mitglied der Sekte, in einem später veröffentlichten internen Video zur Reinigung der Welt aufrief.

Der christliche Protestantismus hat in den letzten einhundert Jahren zahlreiche Begründungsmuster entwickelt, die einen moralischen Einsatz von Gewalt rechtfertigen und »gerechte Kriege« möglich erscheinen lassen. Der berühmte amerikanische Theologe Reinhold Niebuhr bereitete mit seiner Lehre vom ethischen Perfektionismus im Umgang mit Gewalt den moralphilosophischen Grund für den amerikanischen Eintritt in den Zweiten Weltkrieg (Childless 1974). Der Mensch, so Niebuhr, sei im Grunde sündhaft, und Gewalt sei dem Leben immanent. Es komme darauf an, im Umgang mit der Gewalt ein ziviles Maß zu entwickeln, nicht aber, wie in der pazifistischen Leugnung jeglicher Gewalt, soziale Verantwortung abzulehnen. »Notwendigkeit« (necessity) und »Verantwortung« (responsibility) waren für Niebuhr die zentralen Maßstäbe, an denen die Anwendung von Gewalt auszurichten war.

Doktrinäre Fortschritte erzielte etwa die protestantische Kirche dann nach dem Zweiten Weltkrieg, als immer mehr Interpreten unter dem Eindruck der entwickelten Atom- und Massenvernichtungswaffen eine pazifistische Wendung forderten und den »gerechten Krieg« nicht mehr für durchführbar hielten (Honecker 1995, S.416 ff.). Dass diese Interpretation jedoch nicht die gesamte christliche Weltkirche in gleicher Weise erfasst hat, sondern immer wieder auch »gerechte Kriege« kirchlicherseits propagiert werden können, zeigte sich etwa am 17. Februar 2008, als die orthodoxe Kirche in Belgrad die Regierung anlässlich der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo zur Mobilisierung der Armee und zur Besetzung der ehemaligen serbischen Republik aufforderte. Dieses eine Beispiel zeigt bereits, dass weder das Christentum noch der Islam mit einer offensiven und radikalen Deutung von Gewalt vollständig abgeschlossen haben.

Gewaltfreier islamischer Widerstand – im Westen ignoriert

Der Pazifismus ist in Europa und Nordamerika eine verbreitete Weltanschauung, in der verschiedene humanistische und christliche Begründungen zu einer grundsätzlichen Ablehnung von Krieg und Gewalt führen. In den USA ist vor allem der Quietismus-Pazifismus der Quäker und der Amish-People ein Begriff. Wesentliche Einflüsse gingen aber auch von der Aufklärung aus, von Kants »ewigem Frieden« und der sich entwickelnden Menschenrechtsphilosophie. Moderne Friedensbewegungen haben sich in westlichen Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder gebildet, vor allem gegen den Krieg in Vietnam, die Golfkriege oder die Aufrüstungsbestrebungen während des Kalten Krieges. Pazifismus und Friedensbewegungen sind allerdings nicht identisch. Letztere sind relativ kurzfristige soziale Bewegungen, die Menschen unterschiedlicher Motivation vereinen, von denen die Wenigsten konsequente Pazifisten sind, wofür etwa der Zerfall der amerikanischen Friedensbewegung vor dem Einstieg der USA in den Zweiten Weltkrieg steht.

Eine mit dem Pazifismus verwandte Strömung stellt der gewaltfreie Widerstand dar. Sowohl in Europa als auch in Nordamerika haben sich Bewegungen entwickelt, die der Ansicht sind, dass der gesellschaftliche Frieden nicht allein durch die Abwesenheit von Kriegen geschaffen werden kann (Ebert 1978). In den USA wurde vor allem Martin Luther King mit seiner Philosophie des gewaltlosen Widerstandes gegen die Rassendiskriminierung berühmt. In jüngeren Jahren vereinen zum Beispiel die Umwelt- oder auch die Anti-Globalisierungsbewegungen unterschiedliche Formen des gewaltfreien Widerstandes, wobei vor allem symbolische Aktionen einen moralischen Vorteil verschaffen sollen (LeVine 2005, S.246 ff.).

Es wäre trotz entsprechender starker Traditionen dennoch falsch anzunehmen, dass Pazifismus oder gewaltfreier Widerstand im Westen akzeptierte Mehrheitskulturen seien. Der konservative deutsche Bundestagsabgeordnete Heiner Geißler ging 1983 sogar so weit, den Pazifismus für Auschwitz verantwortlich zu machen. Geißlers Aussage macht in überspitzter Form deutlich, dass eine prinzipielle Ablehnung von Gewalt und Krieg von einer Mehrheit in westlichen Gesellschaften als soziale Verantwortungslosigkeit betrachtet wird; eine Position, die in völliger Übereinstimmung mit der gerechten Kriegslehre von Theologen wie Reinhold Niebuhr steht (s.o.). Die zivilisierte Gewalt, nicht aber die völlige Ablehnung von Gewalt, prägt den zeitgenössischen Westen etwa im System der kollektiven militärischen Sicherheit der NATO und militärischer Einsätze im Rahmen der Vereinten Nationen. Zwar wird an dieser herrschenden Lehre von Seiten der Pazifisten immer wieder kritisiert, sie erhalte den Teufelskreis von Krieg und Gewalt aufrecht. Dennoch bleibt die Vorstellung von der ethischen, angemessenen und gerechten Gewalt die primäre, der Pazifismus hingegen die sekundäre Kultur des Westens, die allenfalls von Minderheiten vertreten wird.

Mark LeVine war einer der Ersten, die darauf hingewiesen haben, dass pazifistische und gewaltfreie Denkströmungen und Strategien des Islam im Westen nahezu völlig ignoriert werden. In der westlichen Welt herrscht eine selektive Wahrnehmung vor, die den Islam vor allem auf Terrorismus und alle möglichen Formen der Gewaltausübung reduziert, während umgekehrt der Buddhismus und Hinduismus von Vielen als »Friedensreligionen« verortet werden. Die selektive Festlegung des Islam auf Gewaltaspekte hat dazu geführt, dass der Versuch, Islam und Pazifismus in Einklang zu bringen, für viele Kritiker einer Quadratur des Kreises gleichkommt. Theologisch scheinen unüberwindbare Probleme zu bestehen, da der Koran Gewalt und Krieg, wenn auch unter bestimmten Bedingungen, rechtfertigt und vor allem, weil der Prophet Mohammed selbst Kriege führte. Während christliche Kriegsbegründungen stets sehr aufwändig sind, da sie der pazifistischen Botschaft von Jesus Christus zu widersprechen scheinen, könnte man meinen, dass Krieg und Gewalt dem Grundcharakter des Islam widerspruchsfrei und vollständig entsprechen. Dennoch hat sich ein islamischer Pazifismus entwickeln können, wobei Christentum und Islam spiegelbildliche Methoden der Exegese hervorgebracht haben. Das Christentum hat über Jahrhunderte, und zum Teil bis heute, die radikale Friedensbotschaft von Jesus Christus, die er nicht zuletzt in der Bergpredigt formuliert hat, in der praktischen Theologie durch Kriegsrechtfertigungen konterkariert. Im Islam ist die Lehre vom gerechten Krieg zwar tatsächlich die Hauptbotschaft des Korans, während pazifistische Lehren am Rande existieren (Abu-Nimer 2003, S.33). Allerdings berufen sich islamische Pazifisten auf die frühe Periode des Propheten Mohammed, in der dieser immer wieder trotz Verfolgung seinen Anhängern Gewaltausübung verbot, und zwar auch in Fällen der Selbstverteidigung. Die Person des Propheten Mohammed wird von den unterschiedlichen Richtungen vereinnahmt: Den Pazifisten gilt dieser ebenso als Vorbild wie den Terroristen (s.o.). Die Gruppen beziehen sich auf unterschiedliche Taten und Perioden seines Lebens. Der Missachtung der pazifistischen Schrift (Bibel) durch die christliche Kriegslehre entspricht also eine Relativierung der koranischen Lehre des gerechten Krieges durch die muslimischen Pazifisten unter Rückgriff auf bestimmte islamische Traditionsschriften der Hadith (Taten Mohammeds). Durch diesen epistemologischen Kunstgriff besteht durchaus die Möglichkeit, einen islamischen pazifistischen Traditionsbezug herzustellen. In einzelnen Fällen gelingt heute sogar bereits eine entsprechende Neudeutung des Korans selbst.

Das Bild des leidenden und verfolgten Propheten Mohammed hat sich im Sufismus wie auch in der Ahmadiyya-Bewegung verfestigt. Beide Richtungen stellen starke volksislamische Strömungen dar, die innere Askese und Reinigung durch Leidensfähigkeit predigen und sich vom Dschihad-Begriff als Metapher für den physischen Kriegskonflikt getrennt haben (Abu-Nimer 2003, S.45). Der moderne Reformislam hat diese Impulse aufgenommen und zur Herausbildung eines intellektuellen Pazifismus beigetragen. Maulana Wahiduddin Khan begründet die Überlegenheit des gewaltfreien Widerstandes mit den ersten Jahren des Wirkens des Propheten Mohammed in Mekka, als dieser Gewaltfreiheit und friedliche Mission (dawa) predigte (Khan o.J.). Zeki Saritoprak beruft sich unter Hinweis auf die türkischen Reformdenker Said Nursi und Fetullah Gülen ebenfalls auf das Vorbild Mohammeds (Saritoprak 2005).

Eine außergewöhnliche elegante Argumentation ist die von Chaiwat Satha-Anand, da sie sich nicht nur auf die Praxis des Propheten, sondern auf den Koran selbst bezieht. Zwar räumt Satha-Anand ein, dass der Koran die Anwendung von Gewalt unter bestimmten Bedingungen erlaube. Allerdings seien diese Konditionen in der Ära hochtechnologischer Kriegsführung nicht mehr einhaltbar. Satha-Anand meint, die im Mainstream des Islam verankerte Unterscheidung zwischen Schuldigen und Unschuldigen (Zivilisten) sei im Zeitalter der Massenvernichtungswaffen nicht mehr schlüssig, da Tötung nicht zielgenau auf Soldaten beschränkt werden könne, was praktisch bedeute, dass auch der Koran unter den zeitgenössischen Bedingungen als Aufforderung zum Kriegsverzicht zu interpretieren sei (Satha-Anand 1993, S.15). Hier deutet sich eine Argumentation an, die absolut parallel zu der pazifistischen Debatte des protestantischen Christentums nach dem Zweiten Weltkrieg verläuft. Beide Überzeugungen, der islamische wie auch der christliche Pazifismus, wenden sich gegen die von Niebuhr und anderen geprägte Vorstellung vom ethisch perfektionierbaren Umgang mit der Gewalt (s.o.) und weisen dabei insbesondere auf die Zerstörungskraft moderner Massenvernichtungswaffen hin.

Es gibt eine große Zahl von Beispielen für den Einsatz gewaltfreier Widerstandstechniken in der jüngeren islamischen Geschichte, die allerdings im Westen kaum beachtet werden. Auch islamistisch-fundamentalistische Organisationen setzen diese Techniken ein. Zu den berühmtesten Beispielen für gewaltfreien Widerstand (vgl. u.a. Wiktorowicz 2004, Zunes 1999) zählen die Ägyptische Revolution 1919 (monatelanger gewaltfreier Widerstand gegen die britische Besatzung), der paschtunische Widerstand 1930 unter Abdul Ghaffar Khan (»Badschah Khan«), der als enger Weggefährte Gandhis im heutigen Nordpakistan Tausende Mitstreiter seiner »Armee Gottes« (Khudai Khidmatgar) zum gewaltfreien Widerstand gegen die britische Kolonialmacht sammelte und sich dabei auf Mohammeds frühe pazifistische Tradition berief (vg. Easwaran 1999, Johansen 1997, Milton-Edwards 2006, S.187 ff.) oder auch in jüngerer Zeit der palästinensische Widerstand 1987, als im ersten Intifada-Aufstand die Palästinenser in der Westbank und im Gaza-Streifen ihre Form des Widerstandes vom bewaffneten Kampf der PLO zu zivilem Ungehorsam und gewaltfreiem Widerstand änderten.

Neben diesen großen Bewegungen ist gewaltfreier Widerstand ein alltäglicher Bestandteil des politischen Lebens in der islamischen Welt; ob Demonstrationen algerischer Journalisten, Hungerstreiks an palästinensischen Universitäten, von irakischen Ajatollahs organisierte Großdemonstrationen oder von Hamas initiierte Menschenketten durch den Gaza-Streifen: Die Zahl der Aktivitäten ist groß, ihr Charakter vielfältig.

Gegen kulturalistische Sichtweisen

Diese Beispiele zeigen schon, dass kulturalistische Thesen, die dem islamischen Raum gewaltfreien Widerstand oder gar Pazifismus grundsätzlich nicht zutrauen und von einer immanenten Gewaltneigung ausgehen, die Verhältnisse in den etwa sechzig islamischen Staaten dieser Erde nie genau analysiert haben. Chancen und Grenzen des gewaltfreien Widerstandes gegen Besatzung und autoritäre Herrschaft in der islamischen Welt sind bislang erst ansatzweise wissenschaftlich erörtert worden. Manchmal hat es den Eindruck, als ob westliche Öffentlichkeiten gewaltfreien Widerstand im islamischen Raum geradezu systematisch ignorieren würden. Während jeder Terroranschlag in den Abendnachrichten landet, sind auch die aufwändigsten gewaltfreien Aktionen bestenfalls Randnotizen in unseren Medien.

Dabei wäre gerade der systematische islamisch-westliche Vergleich von großer Bedeutung. Die muslimische Welt hat eine reiche Tradition friedlicher ziviler Streitschlichtung, aber Strategien des modernen Pazifismus und gewaltfreien Widerstandes sind nur mit begrenztem Erfolg umgesetzt worden. Zwar sind solche Erfahrungen auch im Westen in der Regel gesellschaftliche Randerscheinungen geblieben, aber die Errungenschaften etwa der Arbeiterbewegungen, der Friedensbewegungen oder der afro-amerikanischen Bewegung in den USA zeigen, dass tradierte Institutionen der gesellschaftlichen Streitbeilegung nicht ausreichen, um sich gegen Unterdrückung des modernen Staates zur Wehr zu setzen, egal ob es sich um den eigenen autoritären Staat oder einen fremden Okkupationsstaat handelt. Gerade im Nahen Osten hat sich ein Teil der Jugend der Gewalt zugewandt, weil die alten gesellschaftlichen Friedenssicherungen vom modernen Staat vereinnahmt wurden. Saddam Hussein kooperierte mit den tribalen Autoritäten des Irak (Jabar 2003) und Gamal Abdel Nasser kontrollierte die traditionelle islamische Geistlichkeit. Zur Bewältigung aktueller politischer und sozialer Probleme der islamischen Welt aber bedarf es moderner Emanzipationsbewegungen, in denen die patriarchalische Kluft zwischen Mann und Frau und soziale wie ethnische Grenzen überwunden werden müssen, um den Werten des Pazifismus und des gewaltfreien Widerstandes zum Durchbruch zu verhelfen (Abu-Nimer 2003, S.110 ff.).

Literatur

Abu-Nimer, Mohammed (2003): Nonviolence and Peace Building in Islam. Theory and Practice. Gainesville u.a.: University of Florida Press.

Bennett, Clinton (2005): Muslims and Modernity. An Introduction to the Issues and Debates. London/New York: Continuum.

Childless, James F. (1974): Reinhold Niebuhr’s Critique of Pacifism, The Review of Politics 4: 467-491.

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Davis III, Charles T. (2004): The Qur’an, Muhammad, and the Jihad in Context, in: J. Harold Ellens (Hrsg.): The Destructive Power of Religion. Violence in Judaism, Christianity, and Islam. Westport/London: Praeger, S.233-254.

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Honecker, Martin (1995): Grundriss der Sozialethik. Berlin: de Gruyter.

Jabar, Faleh A. (2003): Der Stamm im Staat. Zur Wiederbelebung der Stammeskultur im Irak, in: Kai Hafez/Birgit Schäbler (Hrsg.): Der Irak – Land zwischen Krieg und Frieden. Mit einem Vorwort von Hans Küng. Heidelberg: Palmyra, S.187-207.

Johansen, Robert C. (1997): Radical Islam and Nonviolence: A Case Study of Religious Empowerment and Constraint among Pashtuns, Journal of Peace Research 1, S.53-71.

Khan, Maulana Wahiduddin (o.J.): Non-Violence and Islam. URL: http://www.alrisala.org/Articles/papers/nonviolence.htm (15. September 2007).

LeVine, Mark (2005): Why They Don’t Hate Us. Lifting the Veil on the Axis of Evil. Oxford: Oneworld.

Saritoprak, Zeki (2005): An Islamic Approach to Peace and Nonviolence: A Turkish Experience, The Muslim World 7, S.413-427.

Satha-Anand, Chaiwat (1993): The Nonviolent Crescent: Eight Theses on Muslim Nonviolent Actions, in: Glenn Paige/Chaiwat Satha-Anand/Sarah Gilliatt (Hrsg.): Islam and Nonviolence. Honolulu: University of Hawaii, Center for Global Nonviolence Planning Project, S.7-26.

Understanding Islamism, International Crisis Group, Middle East/North Africa Report, Nr. 37, 2. März 2005, o.O.

Wiktorowicz, Quintan (Hrsg.) (2004): Islamic Activism. A Social Movement Theory Approach. Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press.

Zunes, Stephen (1999): Unarmed Resistance in the Middle East and North Africa, in: Stephen Zunes/Lester R. Kurtz/Sarah Beth Asher (Hrsg.): Nonviolent Social Movements. A Geographical Perspective. Malden/Oxford: Blackwell, S.41-51.

Prof. Dr. Kai Hafez ist Professor für Vergleichende Medienforschung an der Universität Erfurt und Autor des Buches »Heiliger Krieg und Demokratie« (Bielefeld 2009).

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2010/2 Frieden und Krieg im Islam, Seite 15–17