W&F 2007/4

Gericht und Krieg

Das Bundesverfassungsgericht verspielt seine Glaubwürdigkeit

von Bernd Hahnfeld

Das höchste deutsche Gericht verweigert mit dem Urteil vom 3.07.2007 (2 BvE 2/07), der Entscheidung über die Tornado-Einsätze in Afghanistan, die im Antrag mit Recht geforderte verfassungsrechtliche Prüfung. Die Bundestagsfraktion der PDS/Die Linke hatte beantragt festzustellen, dass die Bundesregierung gegen das Grundgesetz verstößt, indem sie ohne Zustimmungsgesetz der Fortentwicklung des NATO-Vertrages zustimmt und sich durch die Entsendung von Tornado-Flugzeugen am erweiterten ISAF-Mandat beteiligt. In einer beispiellosen Wurstigkeit bügelt das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Anträge ab, ohne die zugrunde liegenden Rechtsfragen ernsthaft zu erörtern.

Das neue Urteil ist die fatale Fortentwicklung der Adria-Entscheidung von 1994, mit der das BVerfG den Beschluss der Bundesregierung zum Adria-Einsatz der Bundeswehr verfassungsrechtlich gebilligt hatte. Dieses Ergebnis war nur möglich, indem das BVerfG sich über die bis dahin weithin anerkannte verfassungs- und völkerrechtliche Unterscheidung von Verteidigungsbündnissen und Militärpakten einerseits und von gegenseitigen kollektiven Sicherheitssystemen andererseits hinweggesetzt und systemwidrig die NATO als ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit anerkannt hatte. Nur über die sich daraus ergebende Anwendung von Art. 24 Abs. 2 GG war die Teilnahme an der NATO-Militäraktion zu rechtfertigen.

Nach Art. 24 Abs. 2 GG kann sich der Bund zur Wahrung des Friedens einem System der gegenseitigen kollektiven Sicherheit einordnen. Ein solches System ist zweifelsfrei die UN. Die NATO hingegen galt bis zur Adria-Entscheidung des BVerfG als reines Verteidigungsbündnis. Im Gegensatz zu einem Verteidigungsbündnis sichern Systeme der gegenseitigen kollektiven Sicherheit die Mitglieder vor Aggressionen von außerhalb und innerhalb des Systems, verpflichten zur friedlichen Streitbeilegung und stellen dafür die entsprechenden Organe und Wege bereit, so etwa den Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Der NATO fehlen solche Einrichtungen. Dem BVerfG reichte jedoch die Gewissheit, dass sich die NATO dem Frieden verpflichtet fühlt.

Das neue Urteil knüpft auch an der Entscheidung des BVerfG vom 22.11. 2001 an. In dieser hat das BVerfG das »neue Strategische Konzept« der NATO vom 23./23. April 1999 nicht als Änderung des NATO-Vertrages, sondern nur als dessen Fortentwicklung und Konkretisierung bewertet, obwohl die Staats- und Regierungschefs der NATO-Staaten die Aufgaben der NATO um „nicht unter Artikel 5 fallende Krisenreaktionseinsätze“ auch außerhalb des euro-atlantischen Raumes erweitert haben. Das BVerfG hat solche Krisenreaktionseinsätze als verfassungsrechtlich unbedenklich angesehen, wenn das Friedensgebot des Grundgesetzes, die strikte Bindung an die UN-Charta und die Anerkennung der primären Verantwortung des UN-Sicherheitsrates beachtet werden.

Als verfassungswidrig hat das BVerfG die Fortentwicklung des NATO-Systems unter Verstoß gegen das ursprüngliche Zustimmungsgesetz oder die Fortentwicklung jenseits der von der Bundesregierung erteilten Ermächtigung bezeichnet, ohne jedoch diese Tatbestände näher zu konkretisieren.

Mit der nunmehr verkündeten Entscheidung zum Tornado-Einsatz hat das BVerfG die Bundesregierung bei Militäreinsätzen nahezu von allen verfassungsrechtlichen Beschränkungen freigestellt. Der Wortlaut und Geist des NATO-Vertrages, das Gewaltverbot der UN-Charta, das Friedensgebot des Grundgesetzes und das Primat des UN-Sicherheitsrates werden souverän übergangen, die gerichtliche Aufklärungspflicht wird missachtet. Solange die NATO behauptet, der Einsatz diene dem Frieden, gilt er als verfassungskonform. Der Verquickung von ISAF und Operation Enduring Freedom (OEF) aufgrund gemeinsamer Kommandostrukturen und Einsatzgebiete geht das BVerfG gar nicht nach. Die notwendige Beweisaufnahme zur Frage der Völkerrechtswidrigkeit der Taliban-Jagd im Rahmen der OEF und zur Beteiligung der ISAF-Einheiten an den nicht durch Notwehr gerechtfertigten Militär-Aktionen der USA hat das Gericht unterlassen. Lediglich der Generalinspekteur, General Wolfgang Schneiderhahn, ist als Zeuge vernommen worden.

Jedem Amtsrichter würde so ein Urteil vom Rechtsmittelgericht um die Ohren gehauen werden. Entweder würde er sein Handwerkszeug nicht beherrschen oder er hätte es bewusst nicht angewendet. Das BVerfG erfüllt den selbst formulierten Auftrag nicht, wenn es einerseits behauptet, nur wenn das NATO-Bündnis seine friedenssichernde Ausrichtung aufgebe, würde es sich von seinem Gründungsauftrag entfernen, andererseits aber vermeidet, die Verquickung der ISAF mit der nicht friedenssichernden OEF aufzuklären. Das BVerfG hat entschieden, der Organklage der Bundestagsfraktion der PDS/Die Linke nicht stattzugeben; es hat diese Entscheidung nicht nachvollziehbar begründet.

Bernd Hahnfeld, Richter i.R., ist stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Sektion der International Association of Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA) und für diese im Vorstand der Zeitschrift Wissenschaft & Frieden.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2007/4 Europäische Sicherheitspolitik, Seite