W&F 2024/4

Gerichtliche Streitbeilegung statt Gewalt

Der israelisch-palästinensische Konflikt vor der internationalen Justiz

von Kai Ambos

Im Juli 2024 hat der Internationale Gerichtshof in Den Haag sein lange erwartetes Gutachten zur israelischen Besatzungspolitik verkündet. Parallel dazu laufen die Klagen von Südafrika gegen Israel, wegen eines möglichen Genozids in Gaza, sowie von Nicaragua gegen Deutschland, wegen Beihilfe zu diesem und zu Verletzungen des humanitären Völkerrechts. Bei dem wenige Kilometer entfernten Internationalen Strafgerichtshof gibt es Ermittlungen wegen möglicher völkerrechtlicher Verbrechen in Gaza und darüber hinaus. Ein näherer Blick auf diese Verfahren lässt auch Schlüsse darüber zu, welche Bedeutung das Völkerrecht und seine Einrichtungen zur gerichtlichen Streitbeilegung für die Friedenssicherung haben bzw. haben könnten. Der reflexhafte Rekurs auf die Staatsräson kann jedenfalls das Völkerrecht nicht verdrängen.

Derzeit laufen vor zwei internationalen Gerichten Verfahren zum israelisch-palästinensischen Konflikt: dem Internationalen Gerichtshof (IGH) und dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH). Diese beiden Gerichte werden häufig verwechselt, sie haben aber unterschiedliche Aufgaben und Zuständigkeiten: Während der IGH – als Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen (VN) (Art. 92 VN-Charta) – für zwischenstaatliche Streitigkeiten (»contentious cases«) zuständig ist oder Gutachten (»advisory opinions«) verfasst, befasst sich der IStGH mit der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Einzelpersonen. Vor dem IGH geht es also um die kollektive Verantwortlichkeit von Staaten – als den primären Subjekten des Völkerrechts –, vor dem IStGH um die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit natürlicher Personen. Der IGH ist insoweit – was seine Adressaten angeht – mit regionalen Menschenrechtsgerichten wie dem Europäischen und Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte oder nationalen Verfassungs- und Verwaltungsgerichten vergleichbar, der IStGH hingegen mit der nationalen Strafjustiz.

Der IStGH verfügt zwar über eine eigene (unabhängige) Anklagebehörde (»Office of the Prosecutor«, OTP), nicht aber über eine eigene Polizei oder sonstige Vollstreckungsorgane. Er ist insoweit zur Durchsetzung eventueller Zwangsmaßnahmen, insbesondere der Vollstreckung eines Haftbefehls, auf die Kooperation von Staaten angewiesen. Diese Abhängigkeit ist allerdings ein allgemeines Merkmal völkerrechtlicher Institutionen und trifft deshalb ebenso den IGH. Völkerrecht wird von Staaten gemacht, muss aber auch von diesen befolgt und bei Nichtbefolgung durchgesetzt werden. Bestimmte Unterschiede in der Art und Weise der Durchsetzung – sei es im Rahmen eines kollektiven Vertragssystems oder bilateral – ändern daran nichts. Der Vorwurf eines Durchsetzungsdefizits des Völkerrechts ist also primär an die Staaten zu richten.

Der IGH ist grundsätzlich für alle Streitigkeiten von VN-Mitgliedstaaten zuständig (oder Nicht-Mitgliedstaaten, die sein Statut ratifiziert haben), jedoch muss die Zuständigkeit (»jurisdiction«) von dem betreffenden Staat anerkannt worden sein. Dies kann durch eine Unterwerfungserklärung, die allgemein oder für das jeweilige Verfahren abgegeben wird, oder durch eine entsprechende Streitbeilegungsklausel eines (vom jeweiligen Staat ratifizierten) völkerrechtlichen Vertrags erfolgen. Deutschland hat sich dem IGH (wie 73 andere Staaten) im Jahre 2008 allgemein unterworfen, jedoch seine Unterwerfungserklärung mit Vorbehalten versehen. So gilt diese nur gegenüber Staaten, die die Zuständigkeit ebenfalls allgemein anerkannt haben, und nicht für Streitigkeiten bezüglich ausländischer Truppenstationierung und militärischer Nutzung des deutschen Staatsgebiets.

Der IStGH ist grundsätzlich für Verbrechen zuständig, die auf dem Gebiet einer seiner 124 Vertragsparteien oder von einem ihrer Staatsangehörigen begangen wurden. Darüber hinaus kann ein Staat die Zuständigkeit ad hoc für eine bestimmte Situation anerkennen und der VN-Sicherheitsrat kann durch eine Überweisung aufgrund von Kapitel VII VN-Charta die Zuständigkeit begründen. Dies setzt allerdings neben einer einfachen Mehrheit der 15 Mitglieder voraus, dass keines der ständigen Mitglieder ein Veto einlegt. Ermittlungen der Anklagebehörde können von Amts wegen aufgrund von Anzeigen erfolgen oder durch eine Überweisung (»referral«) eines Vertragsstaats oder des VN-Sicherheitsrats ausgelöst werden.

Die Palästina-Situation vor IGH und IStGH

1. IGH

Der IGH hat schon im Jahre 2004 ein von der VN-Generalversammlung (GV) angefordertes Gutachten zur israelischen Grenzmauer (»Wall«) im »Occupied Palestinian Territory« (OPT) verkündet. Im Kern hat er die Mauer für völkerrechtswidrig erklärt, weil sie auf eine faktische Annexion großer Teile palästinensischen Gebiets hinauslaufe und damit das palästinensische Selbstbestimmungsrecht verletzt werde; der konkrete Verlauf der Mauer könne auch nicht durch israelische Sicherheitsinteressen gerechtfertigt werden. Israel wurde dazu aufgefordert, den Weiterbau der Mauer zu stoppen und diejenigen Teile zurückzubauen, die in das palästinensische Gebiet hineinreichen. Drittstaaten wurden dazu aufgefordert, jegliche Unterstützung des illegalen Mauerbaus einzustellen und zukünftig zu unterlassen (vgl. ICJ 2004).

Solche Gutachten sind zwar nicht förmlich bindend – wie die Entscheidungen in zwischenstaatlichen Streitigkeiten für die Parteien (inter partes) –, haben aber große Bedeutung als autoritative Auslegung der begutachteten Rechtsfragen und finden insoweit auch vor nationalen und internationalen Gerichten, sonstigen (vertragsgestützten) Spruchkörpern und im Rahmen internationaler, regionaler und nationaler Organisationen Beachtung. Deshalb kommt auch dem aktuellen Gutachten zu »Rechtsfolgen der Politik und Praxis« (»Legal Consequences arising from the Policies and Practices«) Israels im OPT vom 19.7.2024 (ICJ 2024a) eine erhebliche Bedeutung nicht nur für Israel und Palästina, sondern auch für Drittstaaten sowie internationale und regionale Organisationen zu.

Der IGH hat dabei, teilweise anknüpfend an das Mauer-Gutachten von 2004, aber auch darüber hinausgehend, nicht nur zahlreiche Völkerrechtsverletzungen der israelischen Besatzungspolitik festgestellt, sondern auch aus der Summe dieser Verletzungen auf die Rechtswidrigkeit der Besatzung insgesamt geschlossen und deren schnellstmögliche („as rapidly as possible“) Beendigung (mit 11:4 Stimmen) sowie die „unmittelbare“ („immediately“) Einstellung aller (weiteren) Siedlungsaktivitäten gefordert (14:1). Hinsichtlich der Rechtsfolgen betont der IGH Israels Entschädigungspflicht für alle im OPT verursachten Schäden (14:1) und die Verpflichtung von Drittstaaten, die rechtswidrige Besatzung nicht anzuerkennen und keinerlei Unterstützung zu ihrer Aufrechterhaltung zu leisten (12:3). Ebenso dürften die VN die Besatzung nicht anerkennen und müssten (vor allem die GV) weitere Maßnahmen zu ihrer schnellstmöglichen Beendigung erwägen (jeweils 12:3, vgl. für alle ICJ 2024a, S. 78f.). Auf dieser Grundlage erging die GV-Resolution vom 18.9.2024, mit der die Beendigung der israelischen Besatzung – spätestens innerhalb von 12 Monaten – gefordert wurde (mit 124 zu 14 Gegenstimmen bei 43 Enthaltungen, darunter Deutschland). Deutschland hat seine Enthaltung – bei Betonung der grundsätzlichen Unterstützung des IGH-Gutachtens – damit begründet, dass die Resolution darüber hinausginge sowie das Selbstverteidigungsrecht Israels und seine Sicherheitsinteressen nicht berücksichtigt habe. Die Resolution geht in der Tat in zwei Punkten über das IGH-Gutachten hinaus,1 folgt im Übrigen aber dem IGH, insbesondere was die Verdrängung der – grundsätzlich anerkannten – israelischen Sicherheitsinteressen durch das Verbot gewaltsamen Territorialerwerbs und das palästinensische Selbstbestimmungsrecht angeht (näher zum Ganzen Ambos et al. 2024c).

In einem weiteren – diesmal streitigen – Verfahren vor dem IGH hat Südafrika Israel wegen eines angeblichen Genozids im Rahmen des Gazakriegs verklagt (vgl. ICJ 2023). Der Grund, dass Südafrika den juristisch überaus anspruchsvollen Genozidvorwurf zum Gegenstand seiner Klage gemacht hat, liegt darin, dass sich die Zuständigkeit des IGH aufgrund der israelischen Nichtunterwerfung nur über einen völkerrechtlichen Vertrag begründen lässt. Ein solcher Vertrag ist die Genozidkonvention von 1948, denn Israel ist Vertragsstaat und Art. IX verweist zur Streitbeilegung auf den IGH. Südafrika nutzt also die Genozidkonvention, um die Tür zum IGH bezüglich des Gazakriegs zu öffnen – obwohl Verletzungen des humanitären Völkerrechts (Recht des bewaffneten Konflikts, ius in bello) viel plausibler erscheinen. Das zeigen auch die – unten behandelten – parallelen Ermittlungen am IStGH, denn dort geht es – jedenfalls bisher – nicht um Genozid, sondern vor allem um mögliche Kriegsverbrechen, also gerade um Kriminalisierungen von Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht.

Das Südafrika/Israel Verfahren befindet sich derzeit noch in der Phase des vorläufigen Rechtsschutzes (»provisional measures«). Südafrika hat versucht, die sofortige Einstellung der Kampfhandlungen mittels dreier Anträge zu erreichen, um damit einen (angeblichen) Genozid zu verhindern. Der Gerichtshof musste – entsprechend dem in diesem (vorläufigen) Verfahrensstadium geltenden Maßstab – prüfen, ob der Genozidvorwurf – genauer: die Verletzung der durch die Genozidkonvention geschützten Rechte der palästinensischen Bevölkerung – »plausibel« ist und ein ernsthaftes und irreparables Risiko solcher Rechtsverletzungen droht, wenn die beantragten Anordnungen nicht erlassen werden. In der ersten Anordnung vom 26.1.2024 hat der IGH insoweit grundsätzlich die Möglichkeit bestimmter Verletzungen der Genozidkonvention anerkannt und deshalb Israel dazu aufgefordert, dafür Sorge zu tragen, dass seine Truppen keinen Genozid begehen (15:2 Stimmen) und dass die (innerstaatliche) Aufstachelung zum Genozid verhindert und verfolgt wird (16:1). In seiner zweiten Anordnung vom 28.3.2024 hat der IGH – neben der Bekräftigung der früheren Anordnung – Israel dazu aufgefordert, Maßnahmen zur Verbesserung der humanitären Situation zu unternehmen (einstimmig) sowie dafür zu sorgen, dass seine Truppen keine genozidalen Handlungen begehen (15:1). In der dritten Anordnung vom 24.5.2024 wurde Israel zum Stopp der Rafah-Offensive sowie zur Öffnung des Rafah-Grenzübergangs aufgefordert (jeweils 13:2). Insgesamt hat der Gerichtshof damit den südafrikanischen Anträgen nur teilweise stattgegeben, insbesondere hat er nicht die Einstellung der israelischen Kampfhandlungen – jenseits der Rafah-Offensive – angeordnet. Im Laufe des Verfahrens haben sich mehrere Staaten der südafrikanischen Klage angeschlossen. Ob die israelischen Kampfhandlungen tatsächlich einen Genozid darstellen, wird erst im Hauptsacheverfahren nicht vor 2026 entschieden.

Dem Begehren Nicaraguas, vorläufige Maßnahmen gegen Deutschland zu erlassen (vgl. ICJ 2024b), insbesondere um dessen (militärische) Unterstützung Israels zu unterbinden, hat der IGH per Anordnung vom 30.4.2024 nicht stattgegeben. Er hat allerdings auch den Gegenantrag Deutschlands abgelehnt, das Verfahren wegen offensichtlicher Unzuständigkeit generell einzustellen. Insoweit wird also auch hier eine Entscheidung in der Haupt­sache ergehen, sofern Nicaragua seine Klage nicht zurückzieht.

2. IStGH

Am 20.5.2024 hat IStGH-Chefankläger Khan Haftbefehle gegen den israelischen Premierminister Netanjahu und Verteidigungsminister Gallant sowie die drei Hamas-Führer Yahya Sinwar, Mohammed Diab Ibrahim Al-Masri und Ismail Haniyeh beantragt (vgl. ICC-OTP 2024). Mit der Tötung aller drei Hamas-Führer durch Israel bleiben nur noch die Anträge gegen die beiden israelischen Tatverdächtigen relevant. Allen fünf Tatverdächtigen wurden sowohl Kriegsverbrechen als auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen, im Einzelnen unterscheiden sich die Tatvorwürfe jedoch erheblich. So wird Netanjahu und Gallant etwa das Aushungern der Zivilbevölkerung in Gaza und Angriffe auf Zivilist*innen (als Kriegsverbrechen) vorgeworfen, dem Hamas Führungspersonal demgegenüber Geiselnahme (als Kriegsverbrechen) sowie Ausrottung, Vergewaltigung und Folter (als Verbrechen gegen die Menschlichkeit). Die insbesondere hierzulande kritisierte Gleichzeitigkeit der Verkündung der Haftbefehlsanträge darf also nicht mit deren Gleichwertigkeit verwechselt werden. Im Übrigen entspricht es üblicher staatsanwaltschaftlicher Praxis, dass die im Rahmen eines Tatkomplexes gestellten Anträge auch gleichzeitig bekanntgegeben werden.

Über die Haftbefehlsanträge hat eine dreiköpfige Vorverfahrenskammer (Pre-Trial Chamber I) zu entscheiden. In der Regel ergeht die gerichtliche Entscheidung innerhalb weniger Wochen (im Fall des russischen Präsidenten Putin erging der Haftbefehl drei Wochen nach Antragstellung), doch hier kam es zu Verzögerungen aufgrund der Intervention zahlreicher Staaten (darunter Deutschland), von Organisationen und Privatpersonen als sogenannte »amici curiae«. Das ist zu Recht kritisiert worden, denn bislang hat der IStGH noch nie solche Interventionen in einem so frühen Verfahrensstadium zugelassen (Ambos 2024a). Jedenfalls ist mit der Entscheidung nun quasi täglich zu rechnen.

Schon vor diesen Haftbefehlsanträgen sind die aktuellen Gaza-Ermittlungen auf ein großes internationales Interesse gestoßen, was sich u.a. daran zeigte, dass einige Staaten (neben – dem auch insoweit eine Führungsrolle einnehmenden – Südafrika Bangladesch, Bolivien, Komoren und Djibouti sowie Chile und Mexiko) von der (oben erwähnten) Möglichkeit einer (kollektiven) Überweisung dieser Situation an den IStGH Gebrauch gemacht haben. Die Parallele zu den IGH-Verfahren ist hier sicherlich nicht rein zufällig.

Allerdings ist zu beachten, dass die betreffende »Palästina-Situation« vor dem IStGH keineswegs auf mögliche Verbrechen seit dem 7.10.2023 beschränkt ist, sondern auf Taten von vor über 10 Jahren zurückgeht: Die ursprünglichen (Vor-)Ermittlungen umfassten mutmaßlich seit dem 13.6.2014 im palästinensischen Gebiet begangene völkerrechtliche Kernverbrechen. Am 20.12.2019 kam die damalige Anklägerin Fatou Bensouda auf der Grundlage ihrer Vorermittlungen (»preliminary examination«) zu dem Schluss, dass vernünftige Gründe für die Begehung von Kriegsverbrechen sprächen. Bensouda bezog sich – in den 2021 veröffentlichten Ergebnissen der Vorermittlungen – insbesondere auf mögliche Kriegsverbrechen der israelischen Streitkräfte (Israel Defence Forces, IDF) im Zusammenhang mit den Feindseligkeiten im Gazastreifen 2014, den Demonstrationen am Grenzzaun des Gazastreifens 2018 und der Besatzung des Westjordanlands. Sie bezog sich auch auf Kriegsverbrechen, die von der Hamas und anderen palästinensischen bewaffneten Gruppen begangen wurden und betonte, dass die genannten Taten „nur illustrativer Natur“ („illustrative only“, ICC-OTP 2021, S. 4) seien.

Die Zuständigkeit des IStGH für im OPT begangene Völkerrechtsverbrechen hat eine Vorverfahrenskammer des Gerichts im Jahre 2021 bejaht. Dabei war nicht die (umstrittene) Staatlichkeit Palästinas nach allgemeinem Völkerrecht für die territoriale Zuständigkeit des Gerichtshofs ausschlaggebend, sondern die Auslegung des Begriffs des »Vertragsstaats« in Art. 12 des IStGH-Statuts. Diese Entscheidung ist bindend, denn Zuständigkeitsentscheidungen trifft der IStGH selbst (Art. 119 Abs. 1 IStGH-Statut). Zudem haben bis auf Australien und Kanada alle IStGH-Vertragsparteien, insbesondere auch Deutschland, den Beitritt Palästinas zum Statut (dem nur Staaten beitreten können!) widerspruchlos akzeptiert. Dieselben Vertragsstaaten haben ferner die Wahl Palästinas in die IStGH-Vertragsstaatenversammlung und seine aktive Mitarbeit darin unterstützt. Demnach gilt Palästina als ein IStGH-Vertragsstaat und deshalb ist der Gerichtshof für Verbrechen auf palästinensischem Gebiet oder durch palästinensische Staatsangehörige (wie jetzt im Fall der Anklagen von Hamas-Mitgliedern) zuständig (Ambos et al. 2024b).

Was die Frage der Immunität von Ministerpräsident Netanjahu angeht, so hat die IStGH-Berufungskammer schon am 6.5.2019 – die Nicht-Festnahme des ehemaligen sudanesischen Präsidenten Al-Bashir durch Jordanien betreffend – festgestellt, dass Jordanien als IStGH-­Vertragsstaat den per IStGH-Haftbefehl gesuchten Al-Bashir auf seinem Hoheitsgebiet hätte festnehmen müssen (ICC 2019). Die persönliche Immunität des Staatsoberhaupts steht dem nicht entgegen, denn sie gilt vor dem IStGH nicht. Ebenso wenig steht dem entgegen, dass der Heimatstaat des Beschuldigten nicht IStGH-Vertragsstaat ist (was auf Israel, aber auch u.a. Sudan oder Russland zutrifft). Diese Rechtsprechung befindet sich nicht nur im Einklang mit der bereits 2002 – anlässlich eines belgischen Haftbefehls gegen den kongolesischen Außenminister – vom IGH getroffenen Feststellung, dass persönliche Immunität von hochrangigen Regierungsmitgliedern eine Strafverfolgung durch „bestimmte internationale Strafgerichte“ (ICJ 2002, S. 26), insbesondere den IStGH, nicht hindert. Sie wird vielmehr auch durch eine schon auf das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal zurückgehende Praxis zahlreicher internationaler Straftribunale gestützt. Diese Nicht-Anerkennung persönlicher Immunität der sogenannten Trias (Staatspräsident, Premierminister, Außenminister) kann damit inzwischen völkergewohnheitsrechtliche Geltung beanspruchen und IStGH-Vertragsstaaten sind verpflichtet, IStGH-Haftbefehle auch gegen Mitglieder der Trias zu vollstrecken (Ambos et al. 2024b).

Gerichtliche Streitbeilegung als Instrument der Friedenssicherung

Internationale Gerichte sind ein wichtiges Mittel zur friedlichen Streitbeilegung. Art. 33 VN-Charta sieht ausdrücklich eine „gerichtliche Entscheidung“ als Möglichkeit der Streitbeilegung vor. Zwar kann man dem entsprechenden Kapitel VI VN-Charta insoweit einen gewissen Vorrang des VN-Sicherheitsrats entnehmen, doch schließt dies eine gerichtliche Klärung strittiger Fragen nicht aus. Überhaupt schließen sich die rechtliche und diplomatisch-politische Streitbelegung nicht gegenseitig aus, sondern ergänzen sich. Sie stellen die bessere Alternative zu (rein) militärischer Konfliktlösung dar (die eben gerade nicht zu einer nachhaltigen Lösung des betreffenden Konflikts führt). Zugleich kann die gerichtliche Klärung bestimmter Streitfragen einen völkerrechtlichen Rahmen für eine Verhandlungslösung liefern (»ruling through advice«). Jedenfalls wird es den berechtigten Interessen einer rechtsuchenden Partei (wie der palästinensischen Autonomiebehörde) nicht gerecht, ja erscheint sogar zynisch, wenn sie auf den diplomatische Verhandlungsweg und/oder den VN-Sicherheitsrat verwiesen wird (und damit die Nichtbefassung des IGH propagiert wird), obgleich dieser Weg sie nicht nur nicht näher an die Verwirklichung ihres Selbstbestimmungsrechts gebracht, sondern eher noch – wegen der parallel fortschreitenden Besiedlung und Fragmentierung des ihr eigentlich zustehenden Gebiets – weiter davon entfernt hat. Zu Recht hat der IGH im jüngsten Gutachtenverfahren deshalb den vor allem von den USA vorgebrachten Antrag seiner Nicht-Befassung, weil diese den aktiven politischen Verhandlungsprozess in Israel/Palästina unterlaufen würde, knapp als bloße „Mutmaßung“ (ICJ 2024a, para. 40) zurückgewiesen.

Auch der IStGH kann als Friedensprojekt verstanden werden. Denn wenn man mit der Präambel des Statuts davon ausgeht, dass die in seine Zuständigkeit fallenden Verbrechen „den Frieden, die Sicherheit und das Wohl der Welt bedrohen“, so kann ihre „wirksame Verfolgung“ diese Bedrohung zumindest vermindern. Tatsächlich hat der VN-Sicherheitsrat ja selbst die Friedens- und Sicherheitsfunktion internationaler Straftribunale anerkannt, hat er diese (etwa das VN-Jugoslawientribunal) doch zu Beginn der 1990er Jahre im Rahmen von Kap. VII VN-Charta errichtet, also als Maßnahme gegen eine Bedrohung oder einen Bruch des Friedens. Dahinter steht der Gedanke, dass die mögliche Präventivwirkung der von solchen Tribunalen betriebenen völkerstrafrechtlichen Ermittlungen zur Verringerung völkerrechtlicher Verbrechen – auch während eines bewaffneten Konflikts – beiträgt und damit friedenssichernd wirkt. Am deutlichsten wird das am Beispiel des Aggressionsverbrechens, sollen damit doch Verletzungen des Gewaltverbots – der Fundamentalnorm der VN-Charta (Art. 2 Abs. 4) und damit der gesamten völkerrechtlichen Ordnung – durch deren Kriminalisierung verhindert oder doch zumindest nachträglich strafrechtlich sanktioniert werden. Aber auch bei der Verfolgung der anderen völkerrechtlichen Verbrechen (Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen) lässt sich eine mehr oder wenig ausgeprägte Friedens- bzw. Befriedungsfunktion des Völkerstrafrechts ausmachen.

Anmerkung

1) Zum einen wird in der Resolution der Zeitpunkt des Endes der Besatzung auf höchstens 12 Monate seit Verabschiedung der Resolution konkretisiert, zum anderen auch die israelische Befolgung der IGH-Anordnungen im Verfahren Südafrika v. Israel, dazu sogleich, gefordert. Siehe Resolution A/ES-10/L.31/Rev.1.

Literatur

Ambos, K. (2024a): Staatsräson vor Völker(straf)­recht? Komplementarität und die deutsche Stellungnahme im IStGH-Haftbefehlsverfahren Palästina/Israel. Verfassungsblog, 19.8.2024.

Ambos, K. et al (2024b): Ohne Ansehen der Person. Für einen effektiven Internationalen Strafgerichtshof. FAZ, 13.6.2024, S. 6.

Ambos, K. et al. (2024c): The 2024 ICJ Advisory Opinion on the Occupied Palestinian Territory – An Introduction. In: Symposium ICJ Advisory Opinion 2024. Verfassungsblog, 9.10.2024.

ICC (2019): Al-Bashir Case: ICC Appeals Chamber confirms Jordan’s non-cooperation but reverses the decision referring it to the ASP and UNSC. Pressemitteilung, 6.5.2019.

ICC-OTP (2021): Situation in Palestine. Summary of Preliminary Examination Findings. Office of the Prosecutor, 3.3.2021.

ICC-OTP (2024): Statement of ICC Prosecutor Karim A.A. Khan KC: Applications for arrest warrants in the situation in the State of Palestine. Office of the Prosecutor, 20.5.2024.

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ICJ (2004): Legal Consequences of the Construction of a Wall in the OPT. Advisory Opinion, 9.7.2004. URL: icj-cij.org/case/131.

ICJ (2023): Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide in the Gaza Strip (South Africa v. Israel). URL: icj-cij.org/case/192.

ICJ (2024a): Legal Consequences arising from the Policies and Practices of Israel in the Occupied Palestinian Territory, including East Jerusalem. Advisory Opinion, 19.7.2024. URL: icj-cij.org/case/186.

ICJ (2024b): Alleged Breaches of Certain International Obligations in respect of the Occupied Pa­lestinian Territory (Nicaragua v. Germany). URL: icj-cij.org/case/193.

Kai Ambos ist Universitätsprofessor für Straf- und Strafprozessrecht, Rechtsvergleichung, internationales Strafrecht und Völkerrecht an der Universität Göttingen, Richter an den Kosovo Specialist Chambers (Den Haag) sowie Direktor der Forschungsstelle für lateinamerikanisches Straf- und Strafprozessrecht (CEDPAL).

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2024/4 Eskalationen im Nahen Osten, Seite 34–37