W&F 1991/3

Gewalt und Frieden in der Kindersprache

von Karl Brose

Gewalt und Frieden sind Polaritäten, die das politische und soziale Leben der Gegenwart beunruhigen, besonders aber das pädagogische Denken und Handeln. Friedenspädagogisch bedeutsam ist, daß sich Gewaltpotentiale und Möglichkeiten der Friedfertigkeit bereits in der Kindersprache zeigen. Die folgenden Ausführungen haben besonders die Gewalt- und Friedensphänomene der Kindersprache in der Grundschule zum Thema. Denn hier liegt die Ausgangsbasis für Frieden oder Gewaltsamkeit der künftigen Jugendlichen und Erwachsenen, damit aber auch ihrer Instanzen und Institutionen im Rahmen der Gesellschaft und im Verhältnis zu anderen Staaten und Völkern.

Definitionen von Frieden und Gewalt

Brauchbar für einen friedenspädagogischen Aspekt der Kindersprache sind die philosophischen und politischen Maximen C.F. v. Weizsäckers: „Die Frage von Gewalt und Gewaltlosigkeit ist nicht eine Frage der formalen Erfüllung inhaltsneutraler Handlungsnormen. Sie ist selbst eine Frage der Substanz, also … der Wahrheit…Ich kann nicht Gewalt üben wollen, wenn ich nicht will, daß gegen mich Gewalt geübt wird… Deshalb führt die Frage der zulässigen Mittel weiter zur substanziellen Frage des angemessenen Gesellschaftssystems. Friedenspolitik im weiteren Sinne kann daher nicht umhin, zugleich Gesellschaftspolitik zu sein “ 1.

Diese Gesellschaftssicht muß stärker auf einen speziellen Gewaltbegriff eingeengt werden. Hier unterscheidet Habermas drei Gewaltbegriffe: gesellschaftliche oder strukturelle Gewalt bedeutet, „daß die asymmetrische Verteilung von legitimen Chancen der Bedürfnisbefriedigung in einem Normensystem festgeschrieben wird…Sobald jedoch der Glaube an die Legitimität einer bestehenden Ordnung schwindet, wird die ins Institutionensystem eingelassene latente Gewalt freigesetzt – entweder als manifeste Gewalt von oben (was nur temporär möglich ist) oder in Form einer Erweiterung der Partizipationsspielräume “ 2.

Diesen drei Begriffen der strukturellen, latenten und manifesten Gewalt muß noch der Begriff der personalen Gewalt hinzugefügt werden, wie ihn der Friedens- und Konfliktforscher Johan Galtung definiert: „Den Typ von Gewalt, bei dem es einen Akteur gibt, bezeichnen wir als personale oder direkte Gewalt; die Gewalt ohne einen Akteur als strukturelle oder indirekte Gewalt. In beiden Fällen können Individuen im doppelten Sinne der Wörter getötet oder verstümmelt, geschlagen oder verletzt und durch den strategischen Einsatz von Zuckerbrot und Peitsche manipuliert werden. Aber während diese Konsequenzen im ersten Fall auf konkrete Personen als Akteure zurückzuführen sind, ist das im zweiten Fall unmöglich geworden: hier tritt niemand in Erscheinung, der einem anderen direkt Schaden zufügen könnte; die Gewalt ist in das System eingebaut und äußert sich in ungleichen Machtverhältnissen und folglich in ungleichen Lebenschancen3“.

Das Hauptgewicht ist bei diesen Definitionen vor allem auf den Faktor der personalen oder direkten Gewalt zu legen. Denn im pädagogischen Handeln liegt hier der Schwerpunkt, während der strukturelle Faktor in den die Schule umgebenden gesellschaftlichen Verhältnissen gesucht werden muß. Die pädagogische Arbeit auf der Basis der Kindersprache zielt aber letztlich auf das unmittelbare persönliche Verhältnis zwischen den Menschen, d.h. hier ein friedliches Verhalten zwischen Kindern und Erwachsenen, Schülern urd Lehrern, Jungen oder Mädchen.

Elemente der Kindersprache

Ohne jene theoretischen Positionen noch im einzelnen zu nennen, sollen sie im folgenden durch die Erfahrungen mit der gesprochenen Kindersprache der Grundschule angereichert werden. Inwieweit lassen sich Gewaltphänomene in der Kindersprache nachweisen? Jedes Gespräch mit den Kindern zeigt, daß das Gewaltphänomen nur im situativen Kontext möglich ist, d.h. im Gesamtzusammenhang von verbaler und nonverbaler Kommunikation. Es handelt sich um den grammatischen Zusammenhang von »Sprachspiel und Lebensform«, um das Regelfeld von „Oberflächen- und Tiefengrammatik “ 4, in dem die einzelnen Wörter und Sätze ihren Platz und funktionalen Stellenwert haben. Ohne dieses Regel- und Strukturgefüge bliebe die Kindersprache ein „empirischer Sandhaufen “ (James).

Zum Beispiel bezeichnen Wörter wie: auffressen, ausbrechen oder Giftbonbon erst in einer bestimmten Relationalität im Strukturgefüge der Alltagssprache Gewaltsamkeit. Der situative Kontext wird sichtbar in Gewalt signalisierenden Wörtern wie: zertrampeln, kaputtmachen oder schubsen. Dabei kennzeichnet die Vulgärsprache jene Gewaltwörter offenbar eindeutiger als die Hochsprache. Genauer: Gewaltsamkeit bezeichnende Wörter stammen meistens aus der Vulgärsprache. Oder sie sind derart tabuisiert und stigmatisiert, daß sie magisch für sich Gewalt beanspruchen oder suggestiv auf Gewaltsamkeit hinweisen: totmachen, Pistole, Befehl.

Bei diesen Phänomenen alltäglicher Gewalt ist die Rolle der Medien nicht zu vergessen, besonders des Fernsehens: „Die Gewalt kennzeichnenden Wörter kommen insgesamt gesehen aus dem Bereich der durch Massenmedien induzierten Vorstellungen (»Krimi«, »Verbrecher«), dem gesellschaftlich legitimierten Bereich (»Polizei«, »Kripo«), und vor allen Dingen aus dem persönlichen Bereich, in dem schon mannigfach gewaltsam gehandelt (»schubsen«, »kloppen«, usw.) bzw. mit Worten Gewaltsamkeit ersetzt wurde (»ausmeckern«, »schimpfen«)“ 5. In dieser Sphäre latenter Gewaltsamkeit kommen oft die Begriffe des Befehlens und Gehorchens vor. Sie werden in der heutigen Pädagogik zwar nicht mehr verwendet, sind aber der Sache nach vorhanden und müßten von der Friedenserziehung erörtert werden.

Gewaltsamkeit wird in der Hoch- und Schulsprache zumeist durch eine Beziehungskette von Wörtern hergestellt: „Wohnzimmer. Ich muß immer fragen, wenn ich da rein will “. Hier bezeichnet keines dieser Wörter an sich Gewaltsamkeit. Aber der Kontext und dessen Analyse würde die latente Gewaltsamkeit, den Mechanismus von Befehl und Gehorsam zeigen. Dabei scheint die Hochsprache die Gewaltsamkeit eher auf der Bewußtseinsebene zu beschreiben und vom unmittelbaren Vorgang abzutrennen. Hingegen nennt die Vulgärsprache die Gewaltsamkeit selbst beim Namen. Sie drückt sich plastisch gewaltsam im Sinn des Handlungsvollzugs aus. Das könnte dann aber heißen, daß die Hochsprache Gewaltsamkeit legitimiert; wenn auch verborgen und latent statt manifest.

Dennoch soll hier eine These lauten: die Veränderung der Wirklichkeit und deren Gewaltverhältnisse läßt sich durch Sprache bewerkstelligen. Haben Philosophen, Dichter und Wissenschaftler die Welt durch Gedanken verändert – wie hier die 11. Feuerbach-These von Marx umzukehren ist – so wäre dies doch nicht ohne Sprache möglich gewesen. Daß sich durch Sprache und Denken die Welt verändern könnte, davon lebt eine sprachphilosophisch fundierte, ethisch-kommunikative Friedenspädagogik. Der Abbau der Gewaltsamkeit in der Kindersprache ist dazu ein erster Schritt.

Kategorien der Gewaltsamkeit in der Kindersprache

Sprachliche Gewalt kann vordergründig vulgär oder hintergründig reflektiert sein, unmittelbar aggressiv oder systematisch geplant, eintönig stereotyp oder gesellschaftlich verankert. Solche Unterscheidungen sagen nur oberflächengrammatisch etwas über die Intensität von Gewalt aus, wenn sie auch Horizont und Umfeld sprachlicher Anwendung von Gewalt andeuten. Vielleicht würde hier eine Semantik oder Tiefengrammatik der Alltagssprache für friedenspädagogische Gewaltanalysen weiter führen. Mit einem eher praktisch-empirischen Blick auf die gesprochene Kindersprache der Grundschule lassen sich jedoch möglicherweise vier Arten von Gewaltwörtern unterscheiden6:

  1. Wörter, die direkt Gewalt verbalisieren: totschießen, streiten, ärgern, schubsen, kaputtmachen, zertrampeln, hauen, boxen. Weniger eindeutig: auffressen, brechen, ausbrechen, angreifen, betäuben, anpacken. Letztere Wörter bezeichnen keine geringere oder subtilere Art von Gewalt, sondern ihr Verwendungscharakter wird erst im Zusammenhang der gesamten Sprech-, Denk- und Handlungssituation deutlich: Gerade die vielfältigen undurchschauten Gebrauchsaspekte der Sprache, der Wörter und Sätze der Gewalt lassen Situationen zu, in denen Aggressivität und Gewaltsamkeit als normal empfunden werden.
  2. Instrumentelle Wörter, die Gewalt bezeichnen: Pistole, Pfeil, Pulverplättchen, Kanone, Gewehr, Knüppel.
  3. Institutionelle Wörter des Gewaltbereichs: Polizei, Kripobeamter, Cowboy, Tarzan, Pirat, Bundeswehr, Verbrecher, Marschall, Winnetou. Die Bedeutung dieser Wörter ergibt sich aus ihrer gesellschaftlichen Legitimierung oder Sanktionierung von Gewaltanwendung. Bei dieser handeln nicht Einzelmenschen, sondern Träger von positiv oder negativ besetzten Rollen der gesellschaftlichen Institutionen. Solche instrumentellen wie institutionellen Gewaltwörter haben den Charakter der Eindeutigkeit und Abgeschlossenheit. In ihrer Verbundenheit sind sie Ausdruck struktureller Gewalt.
  4. Gewaltwörter der Vulgärsprache: ausmeckern, klauen, umlegen, Fresse, stibitzen; aber auch hier nicht zu nennende Fäkalwörter. Schon die Lautmalerei dieser Wörter zeigt auf deren Verwendungssinn. Die Äußerungen der Vulgärsprache sind Ausdruck einer Gewaltsituation, die dem Sprechenden selten bewußt ist. Sie tritt kaum deutlich in Erscheinung und müßte erst durch die Friedenspädagogik voll ins Bewußtsein gehoben werden.

Um zusammenzufassen: Gewalt muß als Relation im alltäglichen Kontext der Umgangssprache lokalisiert, analysiert und möglichst auch beseitigt werden. Nur in diesem Kontext kann sie erforscht werden. Hier entsteht sie, drückt sich aus und vergeht auch wieder. Dies gilt besonders für die ständig sich wandelnde Kindersprache.

Faktoren der Angst und Gewalt in der Kindersprache

Das normale Grundschulkind scheint die ihm zustoßende sowie die es ausübende Gewalt in seiner Umgebung bzw. der gegenwärtigen Gesellschaft unauffällig zu verarbeiten. Ein Großteil der kindlichen Äußerungen bezieht sich auf die täglichen Streitereien und Rangordnungskämpfe. Anteile erfahrener Gewalt sind in den einzelnen Elternhäusern verschieden aufgrund unterschiedlicher Sozialisation. Manche Kinder überkompensieren Gewalt, andere lassen sich einschüchtern. Sie äußern sich in dem Grad über Gewalt, als sie sie erleiden oder selbst ausüben.

Fast alle Kinder spüren Gewaltsamkeit durch Angst, die sie vor Eltern, Nachbarn, großen Tieren oder heimlichen Orten haben7. Ihren Heimlichkeiten und schlechtem Gewissen hinsichtlich der Eltern stehen deren Verbote oder Gebote gegenüber. Auch die Geschwister sind Versuchsobjekte und Vorboten künftiger gesellschaftlicher Gewaltsamkeit. Dabei tritt die Rolle des Fernsehens als Vermittler von Angst und Gewalt hervor. Viele Kinder sehen gerne gewaltsame Fernseh- und Videofilme. Eine erzieherische Verarbeitung findet oft nicht statt. Die unterdrückte Angst führt dann zu Horror- und Gewaltphantasien, die sich in offenen Aggressionen gegenüber der Umwelt entladen können. Auch die Angst vor Tieren und deren Gewaltsamkeit wird oft von den Medien angeregt. Tiere als Kameraden werden heute mit Recht von der ökologischen Friedenspädagogik ernstgenommen.

Schwieriger gestaltet sich das Verhältnis der Kinder zu den Nachbarn. Deren Aggressionen gegenüber Ruhestörungen durch die Kinder ist ein Abbild der kinderfeindlichen Gesellschaft der Gegenwart: Auto und sauberer Rasen werden über die Spielmöglichkeiten der Kinder gesetzt. Besonders ältere Leute schimpfen mit ihnen und üben mit ihren Vorstellungen von Ruhe und Ordnung eine gleichsam privilegierte und institutionalisierte Gewalt aus. Freilich gehört ein Großteil der Spiele der Kinder in den Gewaltbereich. Das zeigen immer wiederkehrende Wörter wie: Verbrecher, überfallen, Krieg, Polizei oder Bundeswehr. Derartige Wort- und Satzketten werden von den Erwachsenen nicht genügend korrigiert. Das liegt wohl an der Ohnmacht gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen. Diese sollte der Friedenspädagoge bewußt machen, sonst schreiten sie über den Einzelnen hinweg. Opfer dieses Prozesses ist dann das schwächste Glied der Gesellschaft, das Kind.

Für Kinder ist Gewalt nicht nur etwas im Spiel zu Verarbeitendes. Sie ist für sie auch eine Realität, der sie sich bedienen können. Dabei zeigt sich in entsprechenden Aussagen, wie mit der Zunahme der Gewalt auch die Sprache verroht. Die allzu natürlichen und rigorosen Formulierungen einer solchen Kindersprache scheinen die Gewaltstrukturen der tatsächlichen Welt abzubilden, ja fast zu rechtfertigen. Von Standpunkt der Sprache und deren Korrekturen aus muß hier der Friedenspädagoge sehr vorsichtig vorgehen, um von den Kindern nicht nachteilig erlebt zu werden. Letztere handeln ihren Verhältnissen entsprechend. Sie scheinen bei allzu starken Eingriffen durch die Pädagogen sonst ihre Identität zu verlieren: „Ich hab` doch keine Angst, guck mal was ich für Muskeln habe. Ja denks nicht, das mach ich immer alleine, das macht jeder alleine“.

Schulangst und pädagogische Gewalt in der Kindersprache

Diesen individuellen Rigorismus und Durchsetzungsmechanismus kindlicher Gewaltsamkeit zu relativieren, ist eine friedenspädagogische Aufgabe schlechthin. Daß die kritische Analyse der Kindersprache einen Ansatz zur Erkenntnis und damit auch zum Abbau verbaler und schließlich tatsächlicher Gewalt liefern könnte, sei als eine Hauptthese dieser Ausführungen nochmals wiederholt. Denn neben den negativen Äußerungen der Kinder finden sich auch positive oder zumindest offene Ansätze zur Veränderung der Gewaltanwendung, Einsicht in die Willkür gewaltsamer Handlungen und verbaler Kraftakte. Diese erweisen sich bei Kindern oft als überflüssig und peripher, obgleich sich ein Großteil des Schulalltags in solchen Gewaltformen abspielt.

Pädagogisch auffällig sind die oft unrealistischen Vorstellungen der Kinder über die Macht der Schule und Lehrer, ähnlich wie bei Polizei oder Bundeswehr verdrängen sie ihre Ängste in Verharmlosungen oder Übersteigerungen. Diese können dann in verbale oder tatsächliche Gewalt umschlagen, wenn sie nicht korrigiert werden. Flüche, Vorurteile oder Pejorationen hinsichtlich der religiösen oder Intimsphäre der Lehrer, aber auch der Eltern oder Klassenkameraden können die Folge sein. Reflexion über Gewalt in der Sprache ist dann oft nicht mehr möglich. Statt sprachlichem Lernen und Erfinden neuer Wörter in zivilen Umgangsformen findet sich ein Ritual naheliegender Termini aus der Analsphäre mit sadistischer Komponente. Erst im Reflektieren der Kinder auf ihren Wortschatz könnte sich die Möglichkeit friedenspädagogischer Korrektur von Gewalt eröffnen.

Die Kindersprache der Grundschule zeigt, welches Gewaltpotential auf die späteren Schulklassen und schließlich die gesamte Gesellschaft zukommt. Jedoch sind für die Manifestationen direkter und verbaler Gewalt nicht nur die Kinder allein verantwortlich, sondern auch die indirekte und strukturelle Gewalt der gesellschaftlichen Unfriedensverhältnisse. Diese Art von legalisierter und institutionalisierter Gewalt rückt den Kindern täglich in der Schule zu Leibe und drückt sich auch in ihrem Sprachkodex aus. Dabei ist das personale Zwangsmoment des Lehrers kaum von den institutionellen Sanktionen der Schule zu trennen. Die Angst vor dem Leistungsprinzip der Schul- und Hausarbeiten sowie die erwähnte mangelnde pädagogische Aufarbeitung des von den Kindern im Fernsehen Erlebten zeigt die Versäumnisse der Schule und Lehrer.

Zwar können sich die Kinder an bestimmten Schwachstellen des Schulsystems wehren, ja ihre schlechten Schulleistungen als einen immanenten Protest gegen Überforderungen und unfähige Lehrer darstellen. Aber das geschieht selten und meistens zu ihrem eigenen Schaden. Vor allem läßt bei derartigen Protesten von Gegengewalt und Durchsetzung im Sinn von Lohn und Strafe die sprachliche Genauigkeit und pädagogische Sensibilität nach, Vulgärwörter, unverständlicher Dialekt und Jargon stellen sich ein. Letzterer wird oft aus dem Amerikanischen entlehnt und ist dem Außenstehenden kaum noch verständlich. Es werden Klischees, Idiome und Verhaltensnormen von Erwachsenen übernommen, die nicht durchschaut und daher oberflächlich oder abfällig gebraucht werden. Was beim Erwachsenen als nicht mehr korrigierbar erscheint, kann jedoch beim Kind auf ein Sensorium für Sprache und Abscheu vor verbaler Gewalt stoßen. Hier könnte eine erzieherische Friedensethik die Gewaltsamkeit in der Kindersprache eindämmen. Ja das Ziel einer sprachphilosophisch fundierten Friedenspädagogik müßte eine solche Ethik sein. Diese hat sich letztlich in der Verantwortlichkeit des Einzelnen gegenüber seiner eigenen Sprachführung zu zeigen; wenn auch bei wechselndem Sprachkodex und Kontext.

Resümee über Gewalt und Frieden in der Kindersprache

Ein Resümee des bisher Gesagten stellt zunächst die Frage nach der Aufarbeitung von Gewalt in der gesprochenen Kindersprache. Gewalt muß, wie erwähnt, für die Kinder als ein normales und natürliches Phänomen aufgefaßt werden. Wenn sie als personale und direkte Gewalt auftritt, reagieren die Kinder meistens mit Aggressionen und Gegengewalt. Manchmal antworten sie mit Ersatzhandlungen, Fiktionen und Projektionen auf ältere Geschwister, bewunderte Freunde oder Idole, deren Gewaltverhalten sie nachahmen. Fast nie aber reagieren sie mit rationalen Lösungsversuchen. Die meisten sprachlichen Äußerungen der Kinder erscheinen dann egozentrisch und undistanziert gegenüber Gewalt. Dieser sind sie ausgeliefert und reagieren eher reflexiv als reflektiert. Sie folgen einer Hack- und Gewaltordnung, der sie sich anpassen; oder sie schlagen zurück.

Die Kinder besitzen nicht die Verdrängungs-, Verschiebungs- und Sublimierungsmechanismen, mit denen Erwachsene ihren eigenen infantilen Bedrohungsängsten entgehen und Gewaltsamkeit verarbeiten. Zwar verfügen die Kinder noch über das freie Spiel, auch das „Sprachspiel“ (Wittgenstein), das sie oft weit von ihren tatsächlichen Erfahrungen einsetzen. Das Gewaltphänomen ist dann als realitätsferne Phantasie mit einem abenteuerlichen Reiz versehen, das die Neuen Medien ausbeuten8. Gerade wegen solcher phantastischen und irrationalen Momente im Gewaltverhalten ist jedoch dem Kind die Differenzierung von Gewaltsamkeit im Umgang mit Sprache und Menschen zuzumuten.

Friedenspädagogische Konsequenz aus diesen Problemen ist, daß die Fähigkeit zur Gewaltanwendung gelernt und eingeübt wird. Deren Ursachen liegen in Erfahrungen der Sozialisation und mißlungenen Kommunikation. Die Kinder werden die von ihnen erlittene und auch ausgeübte Gewalt in ihr späteres Erwachsenenleben mitbringen. Dieses Potential kann je nach Erziehung und Umwelt eskalieren oder sich sublimieren. Unkorrigierte und unreflektierte kumulative Gewalterfahrungen werden jedoch zur Steigerung der infantilen Verhaltensweisen führen: bis hin zur personalen Gewalt der Erwachsenen im privaten Bereich oder zur strukturellen Gewalt im sozialen Raum von Staat und Gesellschaft.

Schluß

Aus der Kindersprache der Grundschule lassen sich unter friedenspädagogischem Aspekt etwa folgende Konsequenzen und Diskussionspunkte ziehen9:

  1. Rationales und logisches Sprechen macht das Kind kritik- und widerstandsfähiger gegenüber Gewalt. Es reflektiert auf seine eigene Sprachlichkeit und relativiert dadurch seine Handlungen. Es bemächtigt sich also nicht sofort seiner Umgebung, sondern lernt in kritischer Distanz den adäquaten Stellenwert seiner Wörter und Sätze in offenen und komplexen Situationen zu durchschauen, einzuüben und anzuwenden. Friedenspädagogischer Ansatzpunkt ist also die Einübung kritisch-analytischer und logischer Fähigkeiten beim Kind mit dem Ziel praktischer Sprachkompetenz im Umgang mit der Unfriedlichkeit der gesellschaftlichen Umgebung.
  2. Obgleich das Kind im Sprechen und Handeln ein spezifisch naives und infantiles Verhalten zur Gewalt ausdrückt, zeigt es doch oft eine richtige Einschätzung der eigenen und fremden Kräfte sowie einen empfindlichen Gerechtigkeitssinn. Friedenspädagogischer Ansatzpunkt ist hier die Bestärkung dieser Sensibilitäten durch Erfolgserlebnisse, durch entsprechende Strukturierung der Umwelt sowie Einübung der Distanz zu unmittelbarer Befriedigung aggressiver Bedürfnisse.
  3. Gewaltverhältnisse werden vom Kind oft schicksalhaft und passiv empfunden und im Sinn von Befehl und Gehorsam erlitten und akzeptiert. Das eigene Verhalten wird dabei als normal und natürlich aufgefaßt, Die Situation, meistens repräsentiert durch Erwachsene oder Gruppen, erscheint dem Kind oft als übermächtig. Es paßt sich an, flüchtet in Projektionen oder reagiert mit Gegengewalt. Friedenspädagogisch bedeutet dies das Lernen und Einüben konkreter Verhaltensweisen in solchen Gewaltsituationen. Das heißt aber auch deren sprachliche Aufarbeitung: mit den Kindern sollte ein Analysieren, Üben und Anwenden passender Wörter und Sätze in den entsprechenden sozialen und kommunikativen Lebensformen stattfinden. Dies könnte schließlich auch die Kritik und Beseitigung der Gewalt durch die Kinder selbst bedeuten.

Die Einbindung dieser Programmpunkte in eine noch weiter voranzutreibende Analyse der Gewalt wäre eine wichtige Aufgabe bei der Darstellung der gesprochenen Kindersprache in erweiterten Projekten, z.B. durch die Analyse der Lehrersprache. Solche Projekte müßten schließlich in einer entwickelten Friedensethik und Philosophie der Kindersprache ihren Höhepunkt finden, der sich über der Unfriedlichkeit und Friedlosigkeit des Alltags erhebt. Dadurch würde die Gewaltsamkeit der noch immer nicht voll miteinander kommunizierenden Menschen beseitigt oder zumindest gemildert.

Prof. Dr. phil. Karl Brose ist Privatdozent an der Univ. Münster.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1991/3 Zukunft der Rüstung, Seite