W&F 1992/4

Gewaltpotentiale in der ehemaligen UdSSR

von Andrej Fadin

Nach Einschätzung des russischen Generalstabes existieren gegenwärtig auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR mindestens 70 real oder potentiell gewaltförmige Konflikte. Dies sind keine Kriege im eigentlichen Sinne, Perioden aktiver Kampfhandlungen werden häufig durch längere Ruheperioden oder Zeiten »bewaffneten Friedens« abgelöst und die Gewalt in den Konfliktgebieten sind nicht nur auf Kampfhandlungen der verfeindeten Seiten beschränkt. Gewalt durchdringt das Innere der jeweiligen Gemeinschaften, erstreckt sich auf die »eigenen Leute«, wird zum Element ihres Alltags und zum organischen Bestandteil der politischen Kultur. Noch weniger kann man das, was vor sich geht, als »Revolution« bezeichnen, da in vielen der betroffenen Gesellschaften die soziale Hierarchie unverändert bleibt.

Deshalb verwende ich der Einfachheit halber bei der Analyse der gegenwärtigen Welle der Gewalt auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR den mit vielen Assoziationen verbundenen Terminus »Violencia«. Im Kolumbien der 40er Jahre entstanden, widerspiegelt dieser Begriff alle Sphären des Lebens durchdringende, brutale sozialpolitische Gewalt.

Das Geschehen auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR kann man als Prozeß der Reorganisierung dieses Gebietes im Zuge der Genese neuer, postimperialer nationalstaatlicher Hierarchien interpretieren. Dieser im 20. Jahrhundert in seinen Maßstäben, Tiefe und Dynamik beispiellose Umgestaltungsprozeß wird aller Wahrscheinlichkeit nach über viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte – real also die aktive Lebenszeit der heute lebenden Generation – andauern.

Langwierigkeit, Schärfe und scheinbare »Irrationalität« des Umstrukturierungsprozesses des euro-asiatischen Raumes werden nicht nur durch seine gigantischen Ausmaße, die kulturelle Heterogenität und seine Lage im Zentrum verschiedener weltpolitischer Kraftfelder bestimmt: Der Zerfall des Imperiums bedeutete eine Öffnung dieses Raumes, welcher nun durch mächtige äußere Kraftfelder quasi auseinandergerissen wird. Eine derartige Öffnung gegenüber äußeren Einflüssen zerstört die traditionell geopolitisch ausgerichtete national-politische Hierarchie und erschwert die Prozesse einer neuen Hierarchisierung.

Andererseits hat das Veschwinden des sowjetischen Pols tiefgreifende Veränderungen im Weltsystem ausgelöst. Der bis dahin stabile äußere Kontext, der die Rolle eines starken strukturierenden Kraftfeldes spielen konnte, gehört der Vergangenheit an. Damit stellt er bei weitem keinen eindeutig stabilisierenden Faktor mehr dar, sondern kann innere Kräfteverhältnisse nachhaltig destabilisieren. Anschaulich sichtbar ist diese Tendenz z.B. am Beispiel der rumänisch-moldowischen oder türkisch-aserbaidshanischen Bezeihungen.

Offensichtlich ist, das von der Dauer, Intensität und den Ausmaßen der Gewaltwelle auf den Trümmern des Imperiums in bedeutendem Maße das Schicksal Rußlands abhängt. Damit ist auch die Zukunft Europas und – in gewisser Weise – die gesamte Welt betroffen. Um die Chancen für ein Abflauen der scheinbar unendlichen Welle von nationalen Kriegen und Konflikten an den Grenzen Rußlands analysieren zu können, müssen Antworten auf eine Reihe von Schlüsselfragen gefunden werden:

Welche makrosozialen und politischen Prozesse bilden die Grundlage für Gewalt? Wer sind die sozialen Hauptakteure der Gewalt, wer kämpft wofür in den verschiedenen Konflikten auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR? Welche Prozesse und Akteure werden in welcher Situation eine »Befriedung« fördern?

Die soziale Basis der Gewalt

In sozialer Hinsicht – wie Konfliktforscher längst festgestellt haben – ernährt der Krieg sich selbst, ist es wesentlich einfacher, einen Krieg zu beginnen, als ihn später zu beenden. In den von Konflikten erfaßten Regionen der ehemaligen UdSSR haben sich bereits Interessensgruppen gebildet, deren Schicksal mit dem Krieg verbunden ist, einige sind direkt am Krieg interessiert. Dazu gehören nicht nur die neuen militär-politischen Eliten, sondern auch ein Teil der Geschäftswelt, welcher von der totalen Versorgungsknappheit, von Lebensmittel-, Treibstoff- und Waffenlieferungen an die Konfliktparteien profitiert.

Flüchtlinge

Wenig beachtet wird bisher der eigentlich offensichtliche Fakt, daß es bereits große Bevölkerungsgruppen gibt, die an der Festschreibung der bisherigen Ergebnisse der Konflikte interessiert sind. Das sind jene, denen es möglich war, das Land, Immobilien und das sonstige Eigentum der die jeweilige Republik verlassenden Flüchtlinge an sich zu bringen. Hunderttausende Osseten und Georgier, Armenier und Aserbaidshaner, Usbeken und Tadshiken haben auf der Flucht vor Verfolgung ihre bestellten Felder und Gärten, ihre Häuser und eingerichteten Wohnungen, Vieh und sonstiges Eigentum zurückgelassen. Alles dies fiel ihren früheren Nachbarn, besonders »aktiven Privatisateuren« oder mafia-artigen Organisationen zu.

Die Flüchtlinge selbst sollten als Betroffene eigentlich zu den entschiedensten Gegnern von Gewalt gehören. In Wirklichkeit ergibt sich jedoch ein völlig anderes Bild.

Die Flüchtlinge finden sich ohne reguläres Einkommen im Kellergeschoß der sozialen Pyramide wieder. Für die meisten bedeutet dies den Zusammenbruch ihres bisherigen Lebens, eine psychologische Katrastrophe, verschärft dadurch, daß es für sie keinerlei absehbare, reale Perspektiven der Wiederherstellung der früheren sozialen Stellung gibt. Die formal existierenden Systeme der Aufnahme und Integration von Flüchtlingen funktionieren faktisch nicht. Die Menschen leben jahrelang auf Bahnhöfen, in Zelten und überfüllten Aufnahmeheimen.

Die Tragik der Situation besteht darin, daß ihre objektiven Interessen (Rückkehr in die Heimatgebiete oder wenigstens eine entsprechende Kompensation) in den meisten Fällen nicht durch Kompromisse, sondern durch eine Revanche nach dem Sieg im Konflikt erreicht werden können. So bildet sich auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR das »palästinensische Paradigma« heraus: Nach ihrer Vertreibung werden die Flüchtlinge zu einer chronischen Quelle der Gewalt, ihrem Träger und demographischen Hauptpotential. Gerade aserbaidshanische Flüchtlinge waren die Hauptkraft der anti-armenischen Pogrome in Baku und Gindsho. Ihrerseits bildeten Flüchtlinge aus den von der aserbaidshanischen Armee eroberten Dörfern den Kern der armenischen bewaffneten Gruppen im Karabach und entlang der armenisch – aserbaidshanischen Grenze. Dasselbe geschah auf beiden Seiten der Front in Südossetien und Abchasien.

Verständlich wird in diesem Zusammenhang auch, warum beispielsweise Flüchtlinge aus Tadshikistan die Aufnahme in Usbekistan verweigert wurde: Die Regierung fürchtete, daß die Flüchtlinge wie ein Katalysator auf alle inneren Widersprüche der usbekischen Gesellschaft wirken würden.

Das Militär

Ein anderes, ebenso gefährliches, jedoch zahlenmäßig nicht so starkes soziales Produkt des Krieges sind die in den Strudel der inneren Konflikte hineingezogenenen Angehörigen der ehemaligen Sowjetarmee. Die vor ihnen stehenden Probleme sind beinahe unlösbar.

Während ihres manchmal jahrzehntelangen Dienstes in den Unionsrepubliken der UdSSR sind sie buchstäblich mit der Erde dort verwachsen, besitzen Haus und Land. Für viele bedeutet der Abzug aus diesen Gebieten minimal den Verlust des Wohnraumes, oft eine irreparable Lebenskatastrophe, den Zusammenbruch des mit viel Mühe hergestellten Lebensstiles, ein kolossales Absinken von Lebensqualität und -standard. Der Tausch einer Wohnung in Riga, Tallinn oder Tblissi gegen ein einfaches Zelt im Gebiet Pskow oder eine kalte Kaserne ohne Wasserleitung und Kanalisation in Abakan – dies ist für die meisten die reale Perspektive. Die Einheiten des berühmt-berüchtigten Rigaer OMON (Sondereinheiten des sowjetischen Innenministeriums) wurden, beispielsweise, nach Surgut und Tjumen (Westsibirien) verlegt. Ihr Schicksal zeigt anschaulich, gegen welche Zukunft diese Kräfte real gekämpft haben.

Weiterhin hängt ein Großteil der Lebensqualität (Wohnraum, Wochenendhäuser, Grundstücke, die Versorgung mit allen möglichen ansonsten knappen Waren) der provinziellen Generäle traditionell von den örtlichen zivilen (früher: Partei-) Verwaltungen ab. Ein offener Konflikt mit diesen Kräften bedeutet für die Generalität einen automatischen Entzug all dessen und stellt unter Umständen eine Bedrohung ihrer Familien dar. Fälle von Erpressung der Militärs mit Drohungen gegen ihre Familien werden regelmäßig in nahezu allen Konfliktregionen bekannt.

Gerade der Kompromiß der provinziellen Generäle (früher der sowjetischen, heute der russischen) mit den örtlichen politischen Eliten führte mehrfach zur Teilnahme von Armeeeinheiten in national-staatlichen Konflikten auf Seiten der Republik ihrer Stationierung. Das anschaulichste Beispiel hierfür sind die Operationen der 4. Armee (seit fast 20 Jahren in Aserbaidshan stationiert) gegen armenische Siedlungen in Karabach (Mai 1991). Ihrerseits führten Kampfhubschrauber der in Armenien stationierten russischen 7. Gardearmee in der Folgezeit (Herbst 1992) Schläge gegen Positionen der aserbaidshanischen Armee. Es entsteht also eine Situation, in der russische Militärangehörige (nicht nur ehemalige, sondern in Ausübung ihres Dienstes!) gleichzeitig auf beiden Seiten aktiv an einem Konflikt teilnehmen.

Die beiden am meisten verbreiteten Formen der Teilnahme von Militärs an den Konflikten sind jedoch die Übergabe (der Verkauf) von Waffen und Söldnertum.

Bei der Tiefe des gegenwärtigen Chaos' und Desorganisation der Verwaltung ist es unmöglich festzustellen, welcher Teil der Waffen in den Händen von Dutzenden verschiedenen »Regierungen«, unterschiedlichen nationalen »Milizen«, militarisierten pollitischen Gruppierungen und einfach Banden von ihnen geraubt (»nationalisiert«) wurde, welcher Teil einfach beim Abzug der Truppen verloren ging, und welcher Teil an die örtlichen Machthaber verkauft oder gegen irgendeine »Vergütung« überlassen wurde. Fakt ist, daß das Niveau der Bewaffnung vieler dieser Regierungen weit über den Erwartungen der Militärspezialisten liegt. Einige von ihnen haben durchaus das Niveau eines kleinen europäischen Staates erreicht. Die russische Armee ließ allein beim Abzug aus dem kleinen Tschetschenien, dessen selbsterklärte Unabhängigkeit von keinem Staat der Erde anerkannt wurde, immerhin 165 Panzer (darunter modernste), ca. 25 Flugzeuge, Millionen Einheiten Munition und eine ungezählte Anzahl von Handfeuerwaffen zurück.

Das Vorhandensein einer derartigen Zahl von Waffen in einem Land, dessen gesamte männliche Bevölkerung während des Wehrdienstes eine insgesamt nicht schlechte militärische Ausbildung erhielt und teilweise (über eine Million Menschen) Kampferfahrung im Afghanistan-Krieg sammeln konnte, läßt die Aufstellung einer Vielzahl verschiedener »Armeen« wahrscheinlich erscheinen.

Auch die für die Durchführung komplizierter taktischer Operationen (etwa den Angriff der Abchasen auf Gagra im Oktober 1992) und die Bedienung moderner Waffensysteme (etwa die »georgischen« und »aserbaidshanischen« Bomber SU-25 oder Hubschrauber Mi-24) nötigen hochqualifizierten militärischen Spezialisten stellt die zerfallende Sowjetarmee im Überfluß zur Verfügung.

Die Rede ist hier nicht nur von purem Söldnertum, oft stellt der Dienst in fremden Armeen lediglich die Lösung jener lebenswichtigen Probleme dar, welche die russische Regierung nicht zu lösen im Stande ist.

Die Entwurzelten

Die Dauer und das Ausmaß der Konflikte sind selbst schon Faktoren, die ihnen selbsttragenden Charakter verleihen. In den bisher langandauernsten Konflikten (im Berg-Karabach und in Ossetien) ist bereits eine ganze Generation herangewachsen, die ins bewußte Leben mit der Waffe in der Hand eingetreten ist und außer an Waffen keinerlei Ausbildung erfahren hat. Ein gewöhnliches Arbeitsleben erscheint diesen Jugendlichen nüchtern und langweilig im Vergleich mit den heldenhaften Kriegstagen. Diese Menschen sind nicht mehr in der Lage, selbst die Waffen niederzulegen.

Augenzeugen berichten, daß in Südossetien bereits nach Verkündung des Waffenstillstands eine Gruppe von fünfzehnjährigen Halbwüchsigen nachts abwechselnd die Stellungen der georgischen und ossetischen Truppen beschossen hat und, als zwischen beiden der Schußwechsel begann und die örtliche Bevölkerung sich in Kellern in Sicherheit brachte, in aller Ruhe Wohnungen ausraubte. Diese Jungen endeten tragisch – sie wurden von ossetischen Truppen aufgegriffen und erschossen, vorher jedoch waren in den von ihnen provozierten Schußwechseln Dutzende Menschen gestorben.

Der Zerfall der sozialen Hierarchie, der Verlust von Autoritäten, das Chaos und der Krieg aller gegen alle bringen aus traditionellen Gemeinschaften neue Führerpersönlichkeiten hervor. Der Krieg verleiht den Feldkommandeuren und militärischen Führern unbedingte Autorität und macht ihre Stellung in der Gesellschaft unangreifbar. Für viele von ihnen würde der Frieden automatisch den Abstieg – und nicht nur um eine Stufe – in der sozialen Pyramide bedeuten. Ohne die Garantie, daß ihnen nach dem Krieg ein neuer, gleichwertiger Status sicher ist, werden sie die Waffen nicht niederlegen.

Die Eliten

Von den verschiedenen Kriterien, unter denen man die »Violencia« betrachten kann (geopolitisch, politisch, kulturell, sozial-psychologisch, juristisch usw.) wurde bisher der soziologische am wenigsten betrachtet. Die Frage nach dem sozialen Sinn des Geschehens auf Grundlage der Interessen und Lage verschiedener Gruppen der nationalen und regionalen Gesellschaften wurde nicht durchdacht und erst gar nicht gestellt.

Dabei spricht die Analyse von Struktur und Dynamik der postsowjetischen Konflikte eindeutig für eine enorm starke organisierende Rolle der nationalen (lokalen, regionalen) Eliten in diesen Konflikten.

In der Anfangsetappe (Beginn der Perestroika Gorbatschows) erreichten die örtlichen Eliten in ihrem Tauziehen mit dem reformistischen Zentrum ein höheres Niveau der regionalen Selbstständigkeit. Das Zentrum seinerseits versuchte die traditionelle sowjetische Elite zu spalten und ihr ein Gegengewicht in Gestalt der Bürgerbewegungen entgegenzusetzen, indem sie diesen einen politischen Schirm durch das Verbot von Repressionen und den offiziell verkündeten Pluralismus zur Verfügung stellte.

Im Ergebnis dessen spaltete sich die alte sowjetische Elite in verschiedene Lager (nach dem Verhältnis zu Moskau, der Orientierung nach außen, der Basis in verschiedenen Bevölkerungsgruppen). Der Eintritt der neuen, sich an der Peripherie bildenden »Gegeneliten« in den Machtkampf bewirkte, daß der »natürliche« Gegensatz zwischen den imperialen und nationalen Eliten sich rasch zu einem eskalierenden Konflikt entwickelte.

In der folgenden Etappe führte die Eskalation zu nationaler Gewalt, danach zum Krieg. Der Krieg seinerseits ermöglichte die Tabuisierung von Gewaltanwendung bei inneren Konflikten aufzuheben. Eine anschauliche Illustration für dieses Modell ist der Ablauf der Ereignisse in Georgien: Zunächst eine »nationale Revolution«, danach der äußere Krieg gegen Süd-Ossetien, dann ein kriegerischer innerer Konflikt (Sturz von Präsident Gamsachurdia und Kampf seiner Anhänger für die Restauration). Danach wiederum versucht das neue Regime (Schewardnadse) angesichts des wachsenden Widerstandes, die mit militärischen Mitteln errungene Macht durch »ein Schließen der Reihen gegen den gesamtgesellschaftlichen Feind« durch neuen Krieg zu legitimieren. Die Lage erfordert ein Hinaustragen des inneren Konfliktes »nach außen«: Es entsteht das Bedürfnis nach dem »Abchasien – Feldzug«. So werden im relativ kleinen Georgien gleich drei Kriege geführt, die sich gegenseitig entfachen. Ein klassisches Beispiel von »Violencia«.

Die Veränderungen, die während der langandauernden und tiefgehenden kriegerischen Konflikte (vergleichbar mit dem afghanischen) innerhalb der Hierarchie der Eliten vor sich gehen, sind unumkehrbar. Damit hängt der Befriedungsprozeß der »Violencia« direkt von der Stabilisierung der durch sie gesprengten sozialen Ordnung ab. In der neuen Hierarchie müssen sich die während des Konfliktes emporgekommenen neuen Gruppierungen organisch in die alten Eliten einordnen und die von ihnen im Krieg eroberte »hohe Position« einnehmen. Diese Erscheinung ist gut bekannt, z.B. aus dem Beispiel Afghanistan: Bei Fehlen einer starken und einheitlichen Staatsmacht können und wollen sich die »Emporkömmlinge des Krieges« in das friedliche Leben nicht auf Grundlage der alten, »Vorkriegsrollen« eingliedern. Eine einmal gestörte soziale und politische Hierarchie kann sich selbst bei einem vollständigen Sieg einer Seite nicht wieder in alter Form herstellen, auch nicht beim Sieg der für die Restauration kämpfenden Seite.

Leider ist in diesen Situationen das logische Endergebnis nicht der demokratische Protest des Volkes gegen den Krieg, sondern die Errichtung straffer national-autoritärer Regimes. Unter pluralistischen Bedingungen ist es für die entsprechenden Regierungen unmöglich, die zur Erreichung des Friedens notwendigen Kompromisse zu machen, da die Opposition sie sofort des Verrates der nationalen Interessen bezichtigen würde. Beispiel dafür sind u.a. die Unmöglichkeit für die Regierung Moldowas, dem Dnjestr-Gebiet einen politischen Status zu verleihen und den föderativen Staatsaufbau festzuschreiben. In ähnlicher Lage befinden sich die Regierungen Armeniens und Aserbaidshans, was die Regulierung des Karabach-Problems betrifft. Das Paradoxe der Situation besteht darin, daß nur ein autoritäres Regime, welches entweder die Opposition ignoriert oder aber mit Repressalien unterdrückt, Frieden schließen kann, ohne dabei gestürzt zu werden.

Der Prozeß der Formierung derartiger Regimes hat bereits begonnen. Es ist nachzuvollziehen, wie sich die Strukturen der Exekutive (zuungunsten der Legislative) während des Konfliktes in Moldowa und in Armenien bzw. Aserbaidshan verstärkten. Vor unseren Augen wird ein autoritäres Militärregime in Georgien aufgebaut.

Von diesem Standpunkt aus gesehen können die Kriege nur von denen beendet werden, die sie begonnen haben: von den nationalen politischen Eliten; Und nur nachdem die von ihnen verfolgten realen Kriegsziele erreicht sind. Ihr reales Ziel war überall die Übernahme der Macht von den alten, kommunistischen Eliten, ihre Konsolidierung und Legitimierung.

Volkskriege werden bis zum Sieg geführt, politische jedoch nur bis zur Erreichung der gewünschten, rationalen Resultate. Ein endloser »Volkskrieg« wird also für die neue Elite unnötig, da er die Nutzung der im Krieg neu gewonnenen Stellung in der Gesellschaft behindert. Deshalb ist die »Wiederherstellung der Ordnung« nach innen auf jeder der beteiligten Seiten eine unausweichliche Folge des Krieges. Mit anderen Worten: Die Beseitigung des Obersten Kostenko im Dnjestr-Gebiet durch die Führung des Gebietes selbst, die Liquidierung der ossetischen Jugendlichen durch ossetische Truppen.

Dieser Fakt erlaubt seltsamerweise einen gewissen Optimismus: Sobald also die Ziele erreicht sind, beginnen die Seiten, nach Auswegen aus der Situation zu suchen – natürlich möglichst ohne Macht- oder Gesichtsverlust. Dies an sich ist jedoch – zugegeben – eine schwierige Aufgabe.

Die menschliche Dimension der »Violencia«

Im Prozeß eines langanhaltenden und wenig intensiven Konfliktes bildet sich ein aus allen Bürgerkriegen, einschließlich des ersten russischen und des mexikanischen, bekannter spezifischer Persönlichkeitstyp heraus: Der Typ des Atamans, eines örtlichen oder regionalen charismatischen Kriegshelden, wie des Obersten Kostenko oder des Führers der Kuljaber Aufständischen in Tadshikistan, Safarow. Andererseits ist für die einfachen Mitglieder der zahllosen Armeen, Volksmilizen, militarisierten Organisationen die Zugehörigkeit zu diesen Organisationen und das Recht, in der Öffentlichkeit Waffen tragen zu können, ein bestimmtes Privileg und ein starker sozialer Stimulus.

Eine solche Einstellung zum Krieg und zu Waffen ist jedoch nur solange möglich, wie der Konflikt nicht in einen »vollwertigen« Krieg übergegangen ist, der das äußerste Anspannen aller physischen und moralischen Kräfte des Individuums und der Gemeinschaft erfordert.

In dieser Hinsicht unterscheidet sich die »Violencia« von einem »totalen« Krieg, wo Tod eher die Regel als die Ausnahme ist. Gerade solche Kriege konnten bisher von den nationalen Eliten vermieden werden. Die Konflikte auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR eskalieren interessanterweise nicht zu »totalen« Kriegen (mit der Ausnahme, vielleicht des Konfliktes um Berg-Karabach). Die Gesamtzahl der Getöteten in allen Konflikten übersteigt nach allen Schätzungen bisher 15-20.000 nicht.

In ihrer Intensität, den Maßstäben der Kampfhandlungen und Verlusten und dem Grad der Mobilisierung von inneren Ressourcen sind alle diese Konflikte vergleichbar etwa mit dem Krieg in Jugoslawien oder dem Konflikt auf Sri Lanka. Geht man jedoch von der Größe der betroffenen Territorien und der Gesamtzahl der in die Konflikte verwickelten Kräfte, von der Bewaffnung und vor allem von der Gefahr eines Ausweitens nach dem Domino-Prinzip aus, so ist das Gewaltpotential in den postsowjetischen Staaten präzedenzlos in der Nachkriegsgeschichte.

Rußland

1991 realisierte sich die fünf Jahre zuvor geäußerte metaphorische Prognose eines Redakteurs der Zeitschrift »Mir-XX Wek« (Die Welt im 20. Jahrhundert): Die Grenzen Afghanistans verschoben sich bis an die Grenzen des Gebietes Krasnodar, d.h. bis ins russische »Mutterland«.

Die blutigen Ereignisse in Abchasien eröffneten die scheinbar ausweglose Perspektive eines langanhaltenden Krieges unmittelbar an der russischen Grenze. Die Einbeziehung der nordkaukasischen Autonomie in der Russischen Förderation wurde aktueller Fakt. Der Konflikt zwischen Georgien und Ossetien ist ungelöst, es schwelen der ossetisch-inguschische Konflikt und – am gefährlichsten – die chronische Drohung einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Tschetschenien. All das gestattet es, von der Gefahr der Verschmelzung all dieser Konflikte in einem Zweiten Kaukasuskrieg zu sprechen, der für Rußland selbst schwere Folgen auf eigenem Territorium bedeuten würde.

Unausweichlich sind gewaltige Flüchtlingsströme (schon heute gibt es ca. 500.000 registrierte Flüchtlinge, die Zahl der nicht registrierten wird auf eine Million geschätzt). Die gesellschaftlichen Folgen dieser Fluchtbewegungen muß man vor dem Hintergrund der schweren sozialen Krise in Rußland selbst betrachten: Absinken der Produktion 1992 fast um ein Viertel, bis Mitte 1993 wird die Arbeitslosigkeit auf 4-7 Millionen ansteigen, eine zumindest für die nachstalinistische Periode ungekannte Welle der Kriminalität usw.

Vor einem solchen Hintergrund stellen sich die Folgen der »Violencia« entlang der Grenzen Rußland mit furchtbarer Klarheit dar: Zunächst erfolgt eine Militarisierung des gesamten Lebens, die Zerschlagung jeglicher Opposition und die Verstärkung der totalitären Kontrolle in den an die Konfliktregionen angrenzenden Gebieten. Schon heute realisieren sich derartige Tendenzen im Zusammenspiel von Kosakentum, örtlichen Machtzentren und der Armee. In einigen Orten wurden bereits mit der Losung »Rußland den Russen« Menschen anderer Nationalität vertrieben.

Danach durchdringen diese Merkmale aus den Grenzgebieten das gesamtrussische politische Leben, werden immer einflußreicher bei der Fällung von Entscheidungen durch das Parlament und die Exekutive. Das logische Ergebnis einer solchen Entwicklung kann leicht als autoritäres Regime modelliert werden, welches unter der Losung des Überlebens, der »Aufrechterhaltung der Ordnung« errichtet wird. Ein Teil der inneren Widersprüche wird hierbei nach außen getragen; Rußland beginnt, auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR eine aktive Machtpolitik zu betreiben und – möglicherweise nicht ohne Zustimmung des Westens – die Rolle des regionalen Gendarmen zu erfüllen.

Denkbar ist jedoch auch ein anderes Szenario: Anwachsen des sozialen Chaos, Zerfall der zentralstaatlichen Strukturen und Beginn der »Violencia« in Rußland selbst. Dieses Szenario erfordert eine gesonderte Analyse.

Die Hauptfrage hierbei ist, ob die Gewalt an den Grenzen Rußlands haltmachen wird oder als politisch-ideologischer (wie der Erste Russische Bürgerkrieg) oder als interregionaler (wie in China Anfang des Jahrhunderts), in sein Inneres vordringen wird.

Meiner Meinung nach wirken zwei Faktoren einer solch katastrophalen Entwicklung entgegen: Der erste besteht darin, daß sich die alten russischen Eliten größtenteils erhalten haben, vor allem in der Provinz. Die traditionelle sowjetische Hierarchie ist hier faktisch nicht zerstört, irgendwelche starken Gegenkräfte sind nicht entstanden und konnten so auch nicht als destabilisierender Faktor in Erscheinung treten.

Ein noch wichtigerer Faktor ist jedoch die sozial-demographische Veränderung Rußlands: Das neue, nicht-traditionelle Rußland ist eine urbanisierte Gesellschaft mit der für die Stadtbevölkerung typischen niedrigen Geburtenrate. Psychologisch ist der Verlust des einzigen Kindes eine völlig irreparable Katastrophe für die Familie. Aus dieser Sicht stellen die neuen Familien mit nur einem Kind (vor allem in den städtischen Mittelschichten) eine die Vorstellungen vom Wert des menschlichen Lebens revolutionierende Erscheinung dar, die bewirkt hat, daß der Wert des menschlichen Lebens seit Beendigung des Weltkrieges um mehrer Stufen höher eingeschätzt wird.

Die negative Bevölkerungsentwicklung in den meisten Gebieten Rußlands wird von den meisten Publizisten als nationale Tragödie beschrieben, ist jedoch in Wirklichkeit lediglich das unausweichliche Resultat der Modernisierung der Gesellschaft (vergleichbar mit dem Bevölkerungswachstum in Deutschland und Schweden) und vielleicht eine der stabilsten Grundlagen für das niedrige Gewaltpotential im heutigen Rußland.

Keine auch noch so ideologisierten Systeme ermöglichen heute eine Akzeptanz von Blutvergießen großen Ausmaßes in der urbanisierten Gesellschaft. Trotz der großen Versuchung, Gewalt zum Sturz des nicht legitimen Regimes im kleinen Tschetschenien anzuwenden, haben selbst die radikalsten Patrioten nicht zur Intervention aufgerufen: Die Erinnerung an die Kaukasuskriege der Geschichte und die nicht verheilten Wunden des Afghanistan-Krieges haben eine Immunität gegenüber derart »einfachen Lösungen« geschaffen.

Es gibt im Land nicht mehr die Massen von jugendlicher Dorfbevölkerung, die in der Vergangenheit ein ideales Kanonenfutter in jedem Kriege, einschließlich des Bürgerkrieges, darstellten. Es gibt – bisher – noch nicht die Massen von arbeitslosen lumpenproletarischen Schichten innerhalb der jugendlichen Stadtbevölkerung. Gerade dieses soziale Material lieferte den Sprengstoff für die blutigen Explosionen im Nordkaukasus und Transkaukasien sowie auf dem Balkan.

Seine geopolitischen Ziele könnte Rußland in dieser Situation nur mit Hilfe einer Berufsarmee, von Söldnern oder Freiwilligen erreichen. Söldnertum war bisher für Rußland untypisch. Die Teilnahme der Kosaken an praktisch allen Konflikten auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR relativiert diese Trradition jedoch spürbar.

Die Gefahr eines sozialen Chaos, der wirtschaftlichen Krise, massenhafter Langzeitarbeitslosigkeit kann die Tendenz »des steigenden Wertes« des menschlichen Leben durchaus umkehren, die ersten Alarmsignale gibt es bereits.

Andrej Fadin ist Redakteur der Zeitschrift »Mir-XX Wek« (Die Welt im 20. Jahrhundert) in Moskau. Übersetzung aus dem Russischen: Andreas Schön.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1992/4 Facetten der Gewalt, Seite