Gewaltprävention in Schulen
von Dieter Lünse
Wenn spektakuläre Ereignisse wie der Amoklauf in Winnenden Schlagzeilen machen, ist Gewalt an Schulen kurzfristig in aller Munde. Der Alltag an Schulen jedoch ist eher von vielen kleinen Vorfällen geprägt. Dabei ist entscheidend, wie die Kultur der Schule im Umgang mit Konflikten und Gewalt aussieht, denn dies kann innerschulischen Frieden fördern oder behindern. Mittels Programmen zur Gewaltprävention können Methoden, Kompetenzen und ein konstruktiver Umgang mit Konflikten erarbeitet werden. In Hamburg werden wie in allen anderen Bundesländern seit 15 Jahren entsprechende Programme entwickelt, die die Qualität dieser Arbeit zeigen.
Der Hamburger »Fachkreis Gewaltprävention« definierte in seiner Entstehungszeit »Prävention« wie folgt: „Gewaltprävention verstehen wir als die Summe aller Maßnahmen, die Kinder und Jugendliche befähigen, ihre Probleme, Unsicherheiten und Proteste so auszudrücken, dass anderen und ihnen selbst kein Schaden zugefügt wird.“ (Fachkreis Gewaltprävention 2000, S.71 f.) Auf der Basis dieser Definition wurden die ersten Konzepte für Gewaltprävention an Schulen und in anderen Bereichen entwickelt. Der Fachkreis ist ein übergeordnetes Gremium, dem Behördenvertreterinnen und -vertreter aus Schule, Jugend und Polizei sowie viele freie Träger angehören. Die Publikationsreihe »Konflikte und Gewalt«, die seit dem Jahr 2000 in bisher fünf Ausgaben erschienen ist, gibt einen ausführlichen Überblick über die Entwicklung der Gewaltprävention. Deutlich wird in allen Ausgaben, dass Präventionsprojekte vor allem in Schulen stattfinden und dort breiten Raum einnehmen.
Kinder und Jugendliche sind in Schulen gut erreichbar. Mit der Entwicklung hin zu Ganztagsschulen hat sich der Schulalltag in den letzten 15 Jahren stark verändert. Nahm der Schultag früher nur die Zeit bis 13 Uhr ein, verbringen in Hamburg inzwischen nahezu alle Schülerinnen und Schüler täglich die Zeit von 8 bis 16 Uhr in der Schule. Es ist nicht nur der Druck gestiegen, eine friedliche Gemeinschaft zu bilden, um eine das Lernen fördernde Umgebung zu ermöglichen, sondern– bei so viel Lebenszeit in der Institution Schule – auch der Druck zur Bildung einer tragfähigen sozialen Gemeinschaft. Keine Schule kommt mehr ohne Projekte zur Gewaltprävention aus.
Gleichzeitig sind die Qualitätsanforderungen an die Projekte deutlich gestiegen: Die systemische Implementierung ist von ebenso großer Bedeutung wie die Entscheidung, in welcher Altersstufe welches Projekt sinnvoll ist. Andernfalls werden unnötige Ressourcen verbraucht und die Akteure vor Ort entmutigt. Die Anforderungen bei vielen anderen Belangen des Lernens – beispielsweise der Umorganisation hin zur Ganztagsschule und in jüngerer Zeit auch der Inklusion – sind sehr hoch, so dass die Belastungsgrenze an vielen Stellen schon erreicht ist.
Eine Schule funktioniert diesbezüglich wie ein großer Tanker. Jede Schule hat ihren eigenen Kurs – ihre eigene Kultur im Umgang mit Konflikten und Gewalt –, und der lässt sich nur langsam ändern. Nachhaltige Projekte sowie Menschen, die mit Visionen arbeiten, können auf diesem Feld viel bewegen. Fehlt es allerdings an Hartnäckigkeit und Ausdauer, bewegt sich der Tanker nur wenig und kehrt bald wieder auf seinen alten Kurs zurück. Dann besteht die Gefahr, dass sich Konflikte verselbständigen, nicht wirklich gelöst werden und das System destabilisieren. Statt Förderung und Entwicklung wird dann Angst ein größerer Faktor im schulischen Leben.
Ein Blick in das System
Die Grund- und Stadtteilschule »Erich Kästner« ist ein gelungenes Beispiel für Projekte zur Gewaltprävention, die an dieser Schule gut aufeinander abgestimmt sind und ein kohärentes System bilden. Jörg Kowalczyk, einer der Sozialarbeiter an der Schule und Leiter des Beratungsteams, berichtet, „dass Soziales Lernen an der Schule in allen Klassenstufen fester Bestandteil des Jahresplans und in aufeinander aufbauende Bausteine gegliedert ist“. Dazu zählt, dass der Klassenrat bereits in der Grundschule eingeführt wird und während der weiteren Schulzeit regelmäßig stattfindet. Er wechselt in den verschiedenen Alterstufen nur sein Gesicht, weil die Kinder selbstständiger werden, den Klassenrat mehr und mehr als ihr eigenes Gremium wahrnehmen und ihn damit in ihre eigene Verantwortung übernehmen. Der Klassenrat ist nicht nur Mitbestimmungsorgan der Lernenden, sondern auch ein wichtiges demokratisches Werkzeug für die Tagungen des Schülerparlaments. Hier treffen sich die einzelnen Vertreterinnen und Vertreter der Grundschule in regelmäßigen Abständen, um aktuelle Anliegen zu besprechen.
Punktuell werden Projekte durchgeführt, die zur Sensibilisierung für das Thema »Gewalt« beitragen. Auf dem Pausenhof der Grundschule können Konflikte unter Einbeziehung der Pausentröster (FairMittler), die als vermittelnde Instanz fungieren, gelöst werden. Durch die frühe Einführung von Partizipationsmöglichkeiten bekommen die Kinder nicht nur das notwendige Handwerkszeug zur Mitbestimmung beigebracht, sondern lernen auch, dass Verantwortungsübernahme zu einem demokratischen Schulalltag gehört.
In den älteren Jahrgängen führen altersgemäße Gremien mit erweiterten Kompetenzen diese Ansätze fort: Statt der FairMittler werden die Streitschlichterinnen und Streitschlichter tätig. Der Schülerrat nimmt den Platz des Schülerparlaments aus der Grundschule ein. Er setzt sich aus den Klassensprecherinnen und Klassensprechern zusammen.
Die Mittelstufen-Projekte an der Erich-Kästner-Schule haben unterschiedliche Schwerpunkte, wie Mobbing, Cybermobbing oder Zivilcourage. Aber auch Probleme wie Essstörungen und Drogenmissbrauch werden bearbeitet. Mit zunehmendem Alter wachsen sich Gewaltauffälligkeiten meist aus, wenn Hilfe aktiv ansetzt und Selbstständigkeit mit Verantwortungsübernahme einhergeht. Die älteren Schülerinnen und Schüler beschäftigen sich dann mit Berufs- und Lebensorientierung, Zeitmanagement, interkulturellen Kompetenztrainings und weiterführenden Inhalten zu den einzelnen vorausgegangenen Projekten. Damit wird auf die Verknüpfung von individuellen Problemen und gesellschaftlichen Hintergründen, die Gewalthandlungen zugrunde liegen, Bezug genommen:„Der Fachkreis Gewaltprävention sieht Gewalt sowohl als individuelles Problem von auffälligen Kindern und Jugendlichen und deren oftmals problematischem Umfeld als auch durch gesellschaftliche Hintergründe bedingt. Bedeutend ist demnach, dass gewaltpräventive Bemühungen sich sowohl an den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Gewalt als auch an der individuellen Verantwortlichkeit gewalttätiger Jugendlicher, deren Bezugspersonen und den Erfahrungen von Opfern orientieren müssen: Gewalttätigkeit ist eine Form menschlicher Kommunikation, die den Aspekt gegenseitiger, auf Kooperation und Vertrauen beruhender Akzeptanz nicht berücksichtigt.“ (Fachkreis Gewaltprävention 2000, S.71 f)
Gewaltprävention, Partizipation und Verantwortungsübernahme
Die Verzahnung der einzelnen Projekte und Bausteine mit den Mitbestimmungsorganen wird an der Erich-Kästner-Schule immer mitgedacht. Die Streitschlichterinnen und Streitschlichter bzw. die FairMittler berichten zum Beispiel im Schülerparlament und im Schülerrat, der auch Träger des Streitschlichterprogramms ist, regelmäßig über ihre Arbeit. Die Ausbildung wird von erfahrenen Streitschlichterinnen und Streitschlichtern begleitet und unterstützt.
Während viele Schulen einzelne Projekte zur Gewaltprävention auf die Beine bringen, fehlt oft die Verzahnung mit den gewählten Vertretern und Gremien der Schülerinnen und Schüler. Manchmal bleiben sie sogar Inselprojekte, weil ein Lehrer alleine dafür zuständig ist und niemand anderes sich aktiv um Fragen des sozialen Miteinanders kümmern möchte. Doch eine Schulkultur der Ignoranz, der mangelnden Wertschätzung und Konkurrenz liegt leider auch in der Natur des staatlichen Systems Schule mit seinen geringen Freiräumen. Daher braucht es Menschen, die mit Visionen arbeiten und die Schule zu einem insgesamt sozialen System ausbauen.
Wege zum Aufbau einer konstruktiven Konfliktkultur
Durch die Vielzahl der Projekte und ihre altersgerechte Anwendung entwickelt sich mit der Verzahnung zur demokratischen Struktur ein hohes Maß an Selbstwirksamkeit für alle Beteiligten. Zusätzlich verändert sich die öffentliche Meinung, weil sich die Wirkung im konstruktiven Umgang mit Konflikten und Gewalt an sehr vielen Stellen zeigt. Diese Öffentlichkeit wiederum verändert die Kultur und setzt neue Standards. Eindrucksvoll zeigen die Schüler-Mediatoren, dass sie über einen langen Zeitraum Einfluss innerhalb, aber auch außerhalb der Schule haben. Schüler-Mediatoren sind in allen Bundesländern und in allen Schulformen unter unterschiedlichen Namen zu finden: Streitschlichtungsteams, Konfliktlotsen, Peer-Mediatoren, Pausenhelfer sind nur einige der Bezeichnungen. Alle haben gemeinsam, dass sie nach dem klassischen Fünf-Phasen-Modell der Harvard-Mediation (Fisher et. al. 2013) ausgebildet werden und aktiv an ihren Schulen mediieren.
Die Streitschlichter in Hamburg sind fast immer über die Grenzen ihrer Schule hinaus bekannt. Stadtteilmagazine berichten über ihre Arbeit. Sie führen ihr Können an anderen Schulen und bei Stadtteilfesten vor. Ihre Anerkennung wird für den guten Ruf der Schule genutzt, beeinflusst zusätzlich die öffentliche Anerkennung der Methode und verstärkt die Veränderung der Kultur im Umgang mit Konflikten und Gewalt.
2006 erschien erstmals eine bundesdeutsche Evaluation zur Mediation an Schulen (Behn 2006). Sie konnte damals schon knapp 1.500 Schulen in Deutschland mit Schülermediation lokalisieren, die sich seit den 1990er Jahren etabliert hatten. Seitdem ist in Hamburg die Zahl der »Streitschlichtungsschulen« von 65 im Jahr 2006 auf 110 im Jahre 2013 gestiegen, und es gibt inzwischen allein in Hamburg ca. 2.000 ausgebildete Schülermediatorinnen und -mediatoren. Die Mediationsfachgruppe Erziehung und Bildung des Bundesverbands für Mediation bestätigt, dass die bundesweite Zahl der Schülermediatoren bei über 10.000 liegt. Vor allem in Grundschulen weitet sich die Schülermediation aus.
Mediation und sozialer Friede
Für eine gelungene Gewaltprävention braucht es allerdings auch den Blick über den Tellerrand der Schule hinaus. Es reicht nicht aus, nur zu fragen „Was machen andere Schulen gut, die in Konkurrenz stehen?“, sondern es muss weitergehend gefragt werden „Was machen wir im Stadtteil zusammen gut, um allen Kindern und Jugendlichen eine Chance zu geben, friedlich und ohne Angst einen Lern- und Lebensmittelpunkt zu haben?“
Der Erfolg der Gewaltprävention nach innen (Erich-Kästner-Schule) wie auch über die Grenzen hinaus (Schüler-Mediatoren) zeigt sich an dem Projekt »Gemeinsam stark sein«, welches für einen Jahrgang gemeinsam mit allen Schulen im Stadtteil durchgeführt wird. In Form einer Projektwoche legt das Projekt »Gemeinsam stark sein« (Fachkreis Gewaltprävention 2006, S.23 f.) die Grundsätze im Umgang mit Konflikten und Gewalt fest und übt die praktische Umsetzung. Das Projekt wurde entwickelt als eine Art »Erste-Hilfe-Koffer« für alle sozialen Fragen, wenn es bei Auseinandersetzungen nicht mehr allein weitergeht. Es wurde 2006 von einem Arbeitskreis aus Hamburg-Harburg angestoßen, nicht von einer Schule. Inzwischen werden alle Jugendlichen im Alter von 13 bis 15 Jahren in dem Stadtteil im konstruktiven Umgang mit Konflikten und Gewalt geschult.
Mit bestimmten Verhaltensnormen und Regeln sowie Mitbestimmung von Schülerinnen und Schülern lässt sich die Gewalt an den Schulen und im gesamten Stadtgebiet Schritt für Schritt abbauen. Die Schulen äußerten sich positiv: „Ohne dass uns die Gewalt auf den Nägeln brennt, haben wir die Auseinandersetzung mit dem Thema geprobt, weil jetzt unsere Wahrnehmung für Konflikte, Spannungen und unterschwellige Auseinandersetzungen geschärft ist. Und ein Handlungskatalog ist entstanden, so dass wir vielen Eskalationen vorbeugen können.“ (Fachkreis Gewaltprävention 2006, S.25) Die Schulen erfahren, dass sie Vorfälle, in denen Schülerinnen oder Schüler Gewalt in unterschiedlichster Form ausüben, mit Unterstützung kompetent bearbeiten können. Die Projektwoche wird jeweils zu Beginn eines Schuljahres durchgeführt; anschließend berichten Schülerdelegierte dem Stadtteilgremium über die Wirkung und den Veränderungsbedarf aus ihrer Sicht. Öffentlichkeit wird aktiviert, um Probleme zu lösen; zusätzlich etabliert sich flächendeckend eine neue Praxis und Erfahrung, die auch die Kultur nachhaltig beeinflusst und einen friedlichen Umgang miteinander stabilisiert.
Lernen ohne Angst
Die Einführung von Schüler-Mediatoren, Gewaltprävention im System einer Schule oder auch »Gemeinsam stark sein« im Verbund eines ganzen Stadtteils sind fast ausschließlich Projekte von Erwachsenen. Das Projekt »Lernen ohne Angst« (Plan 2009) bindet die Sicht der Kinder und Jugendlichen selber ein und nimmt sie zum Ausgangspunkt der Planung. »Lernen ohne Angst« setzt auf Beteiligung und ist ein Projekt für die ganze Schule. Ziel ist es, die Erfahrungen und Veränderungsideen der Jugendlichen in den Mittelpunkt zu stellen und sie zu ermutigen, sich aktiv für eine spürbare Verringerung der Gewalt an ihrer Schule einzusetzen. Zudem sollen die Schulgremien eingebunden werden, um die demokratische Struktur zu nutzen und Ergebnisse abzusichern.
Der Ablauf ist dem Projekt »Gemeinsam stark sein« zunächst sehr ähnlich. Die Erkenntnisse werden jedoch über einen Fragebogen abgefragt, um von allen Beteiligten in der Schule zu erfahren, wo aus ihrer Sicht Angst das Lernen und Zusammenleben einschränkt und was sich verändern müsste. Die Schüler analysieren auf diesem Weg die Bedingungen an ihrer Schule und entwickeln einen Aktionsplan zur Verbesserung der Situation. Der Plan wird den Schulgremien vorgelegt und in einem Aushandlungsprozess zur Umsetzung gebracht. Das Projekt besteht aus mehreren Phasen und ist auf zwei Jahre angelegt, verändert die Schulgemeinschaft und das Selbstverständnis der Schülerinnen und Schüler aber noch weit darüber hinaus. Nachhaltigkeit steht im Vordergrund. Sensibilisierung, soziales Miteinander, Zusammenhalt, Gewaltprävention, Perspektivwechsel, Demokratisierung, politisches Lernen, Aktiv-Werden und Ernst-genommen-Sein machen »Lernen ohne Angst« aus.
Ob ein Jahrgang, eine Klasse, eine Profiloberstufe, der Schülerrat oder eine Streitschlichtungsgruppe: Wo auch immer Jugendliche Interesse haben, ihre eigene Schule aus Schülersicht zu analysieren, können sie das Projekt »Lernen ohne Angst« durchführen. Mit diesem Projekt schließt sich der Kreis für Gewaltprävention an Schulen. Die Untersuchung bringt nicht nur neue Dinge hervor. Es wird auch die Qualität der bisherigen Projekte zur Gewaltprävention überprüft, und es werden Verbesserungsvorschläge gemacht. Sobald von einer neuen Schülergeneration wieder ein entsprechendes Projekt aufgebaut wird, überprüfen sie die Ideen und die Praxis ihrer Vorgänger. Und gleichzeitig ist immer die Öffentlichkeit an der Schule oder, wenn es Projekte im Verbund sind, die des Stadtteils eingebunden, so dass die Standards für die stetige Entwicklung von Frieden hoch gehalten werden können.
Literatur
Sabine Behn et. al. (2006): Evaluation von Mediationsprogrammen an Schulen. Empfehlungen und Ideen für die Praxis. Hamburg/Berlin/Mainz.
Fachkreis Gewaltprävention (Hrsg.) (2000-2013): Reader »Konflikte und Gewalt – präventive Konzepte, praktische Hilfen und Adressen«. Ausgaben 1 bis 5, Hamburg.
Roger Fisher, William Ury und Bruce Patton (2013): Das Harvard-Konzept: Der Klassiker der Verhandlungstechnik. Frankfurt am Main: Campus, 24. Auflage.
Plan (2009): Lernen ohne Angst – Aktiv gegen Gewalt an Schulen. Eigenverlag.
Dieter Lünse ist Dipl. Sozial-Ökonom und Leiter des Instituts für konstruktive Konfliktaustragung und Mediation e.V. in Hamburg.