W&F 1989/1

Gewissensfreiheit im Beruf

von Gregor Witt

Am 16. März 1989 urteilt das Bundesarbeitsgericht (BAG) über die Frage, inwieweit das Grundrecht auf Gewissensfreiheit nach Artikel 4 Absatz 1 Grundgesetz die Arbeitsverweigerung aus Gewissensgründen schützt. Konkret geht es um die Kündigungsschutzklage zweier Neusser ÄrztInnen; Bedeutung hat das Verfahren jedoch für alle, die über praktische Konsequenzen aus ihrer beruflichen Verantwortung nachdenken.

Im Auftrag des Pharmakonzerns Beecham-Wülfing arbeitete eine Forschergruppe an einem Medikament BRL 43694, das die Nebenwirkungen bei bestimmten Krebsbehandlungsmethoden eindämmen soll. Die Substanz sollte Übelkeit und Erbrechen verhindern. Gleichzeitig ist es aber auch ein Mittel, mit dem im Falle eines Atomkrieges die tödlichen Folgen von Strahlenbelastungen hinausgezögert und dadurch Soldaten ein paar Stunden länger kampffähig gehalten werden können.

Anhand firmeneigener Dokumente stellten die beteiligten drei ÄrztInnen fest, daß der Pharmakonzern auch die militärische Verwendbarkeit im Auge hat: „Falls sich die Strahlenkrankheit, hervorgerufen durch die Strahlentherapie des Krebses oder als Folge eines Nuklearkrieges, durch einen 5-HT-Rezeptor-Antagonisten als behandelbar oder verhütbar erweisen sollte, würde das Marktpotential für solch eine Substanz signifikant erhöht werden“, heißt es in einem Forschungsbericht der Firma. Von einem „riesigen Markt bei Nato-Soldaten“ ist die Rede. Die weitere Entwicklung der Substanz erhält oberste Prioriät.

Daraufhin meldeten die ÄrztInnen Bedenken gegen die Entwicklung der Substanz an. Bernd Richter, damals stellvertretender Forschungsleiter des Konzerns, befürchtet, daß das Medikament „die psychologische Hemmschwelle in puncto eines Nuklearkrieges herabsetzt, weil den Soldaten vorgemacht werden kann, daß eine Hilfe im Nuklearkrieg für sie möglich wäre.“ Da er und seine KollegInnen Brigitte Ludwig und Norbert Neumann durch die Mitarbeit an der Substanz den Sinn ihres ärztlichen Tuns pervertiert sahen, verweigerten sie ihre weitere Mitarbeit. Ihrer Forderung, bei anderen Forschungsaufgaben eingesetzt zu werden, kam ihr Arbeitgeber nicht nach, sondern kündigte ihnen bzw. stellte Neumann, der sich noch in der Probezeit befand, nicht ein.

Bernd Richter und Brigitte Ludwig strengten daraufhin eine Kündigungsschutzklage gegen Wülfram-Beeching an. In den beiden ersten Instanzen gaben die Richter jedoch dem Konzern recht. Im Urteil des Landesarbeitsgerichtes (LAG) Düsseldorf kristallisieren sich die Streitpunkte heraus, über die im anstehenden BAG-Verfahren aller Voraussicht nach entschieden werden wird. Streitpunkte, die für Gewissensentscheidungen in allen Berufen - Wissenschaft, Technik, Forschung, Produktion - und für alle Konflikte - Rüstung, Umwelt, Technologieentwicklung, Informatik - so oder so Bedeutung haben, wenn die allenthalben diskutierte »Ethik der Verantwortung« über theoretische Einsichten hinausgehend für die Beteiligten auch praktische Konsequenzen begründet:

1. Wer entscheidet über die Verantwortbarkeit von Forschung?

Das LAG akzeptiert nicht die Gewissensentscheidung der ÄrztInnen, sondern begibt sich in die Rolle eines »außenstehenden Dritten«, um die Gewissensentscheidungen einer vermeintlich objektiven Prüfung zu unterziehen. Da das Gericht im Gegensatz zu den ÄrztInnen weder einen Atomkrieg für wahrscheinlich hält, noch meint, durch ein solches Medikament würden Überlegungen zur Führbarkeit eines Atomkrieges gefördert, hält es die Arbeitsverweigerung für unbegründet.

Aber wenn das Grundrecht der Gewissensfreiheit einen Sinn hat, dann nur, wenn das Gewissen des jeweiligen Individuums Maßstab ist. Dieses entzieht sich einer gerichtlichen Prüfung, gerade weil es staatlichen oder gesellschaftlichen Normen nicht entspricht. Anderenfalls bedürfte es eines solchen individuellen Schutzrechtes nicht!

2. Wo beginnt die Verantwortung der Forschenden, wo endet sie?

Das LAG will die Verantwortung auf den unmittelbaren Tätigkeitsbereich der Betroffenen reduzieren. Seinem Urteil nach ist der Anteil der ÄrztInnen an der Gesamtforschung und einer möglichen Anwendung so gering, daß ihr Forschungsbeitrag als »wertneutral« zu beurteilen sei. Außerdem fehle es an der „Nähe zu denjenigen, die über die Anwendung des fertigen Produktes entscheiden“.

Erneut macht das LAG das eigene Werturteil zum Maßstab für fremdes Gewissen. Die Konstruktion von vermeintlich unbeachtlichen Teil-Verantwortlichkeiten ist faktisch ein Plädoyer für jenen Typus von Schreibtischtätern und Mitläufern, mit dem Deutschland und die Welt 1933 - 1945 seine grausigen Erfahrungen gemacht haben.

3. Darf individuelles Gewissen gesellschaftliche Bedeutung erlangen?

Das LAG meint nicht zuletzt deshalb hohe Maßstäbe anlegen zu müssen, weil sich möglicherweise auch andere ÄrztInnen in vergleichbaren Situationen auf einen Gewissenskonflikt berufen und dies im Falle des beklagten Konzerns „zu unzumutbaren Schwierigkeiten führen“ könnte.

Das Gericht folgt damit einer Art »Dammbruchtheorie« nach dem Motto: da könnte ja jeder kommen. Praktisch wird an den ÄrztInnen ein Exempel statuiert, damit gegenüber allen, die ihrer Verantwortung im Beruf folgen wollen, juristische Schranken gesetzt werden. Wo kämen wir denn hin, wenn viele Menschen ihre Mitarbeit an friedensgefährdenden, sozial unverträglichen oder ökologisch schädlichen Forschungen, Produktionen usw. verweigerten?!

Das BAG wird am 16. März entscheiden, welche Bedeutung die Gewissensfreiheit nach seinem Urteil in dieser Republik haben soll. Wie auch immer das Urteil lautet: ethisch und politisch bedeutsamer wird die weitere Diskussion über die Ethik der Verantwortung angesichts globaler Gefährdungen und die Bereitschaft zu praktischen Konsequenzen von vielen Menschen sein, denn nicht die Gerichte, jede/r entscheidet heute mit, wohin die weitere Entwicklung geht.

Gregor Witt lebt als Publizist in Köln und ist Mitglied des Bundesvorstandes der DFG/VK.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1989/1 1989-1, Seite