W&F 1998/4

Globale Ideologien, lokale Strategien

Zur Geschichte eines kurdischen Dorfes

von Lale Yalçin-Heckmann

Die Kurden gehören zu den alteingesessenen Völkern des Nahen Ostens, die sich einerseits mit anderen Völkern gemischt, andererseits aber immer eine »eigene Identität« behauptet haben. Die am häufigsten genannten Kriterien kurdischer Identität sind die kurdische Sprache (mit drei Hauptsprachgruppen/Dialekten), die Religion (die große Mehrheit gehört dem Islam - sunnitischer, shiitischer sowie alevitischer Richtung - an; es gibt aber auch eine christliche Minderheit), und das Siedlungsgebiet. Letzteres ist Kurdistan (das Land der Kurden), dessen historisch-geographische mit den politischen Grenzen nicht übereinstimmen und das heute nur im irakischen Teil - als Folge des Golfkrieges 1991 - einen politisch begrenzten anerkannten Status hat. Heute zählt man 24-27 Millionen Kurden im Nahen Osten.

Fast die Hälfte davon lebt in der Türkei, die übrigen verteilen sich auf fünf Länder: Irak, Iran, Syrien, Armenien und Aserbaidschan. Zahlen über die Kurden sind jedoch oft Ausdruck politisch motivierter Einschätzungen, da es keine genaue Volkszählung über die ethnische Zugehörigkeit gab und gibt. Zudem ist die kurdische Identität, wie auch andere Identitäten, anfechtbar und wandelbar; auch die Menschen selbst sind mobil und leben gezwungenermaßen oder freiwillig als Migranten oder Flüchtlinge in verschiedenen Ländern des Nahen Ostens, Europas und in den USA.

Die Kurden in der Türkei leben in letzter Zeit nicht mehr überwiegend in den traditionellen kurdischen Gebieten; sie sind durch erzwungene oder wirtschaftlich veranlaßte Binnenmigration meistens in die westlichen Großstädte der Türkei, aber auch in die östlichen und südöstlichen kleineren Städte umgezogen. Wie diese Binnenmigration abläuft und welche sozialen und individuellen Gründe sowie Konsequenzen diese haben kann, möchte ich anhand eines Beispiels darstellen. Das Beispiel bezieht sich auf ein Bergdorf in der Provinz Hakkari im Südosten der Türkei, wo ich meine ethnologische Feldforschung 1980-82 durchgeführt hatte. 1984 begann die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK, Partîya Karkerên Kurdistan) einen bewaffneten Krieg gegen den türkischen Staat und die führenden kurdischen Eliten in der Türkei. Die ersten bewaffneten Aktionen dieser Partei fanden in den Provinzen Hakkari und Sirnak statt. Seitdem wurden über 30.000 Menschen in diesem unerklärten Krieg (aus der Sicht des türkischen Staates gegen die »separatistischen Terroristen«, aus der Sicht der PKK gegen die »türkischen Kolonialisten« und gegen »Staatsterror«) getötet und mehrere tausend Dörfer zwangs- oder freiwillig evakuiert.

Das Dorf, das ich Sisin nenne, existiert nicht mehr. Die Dorfbewohner mußten Sisin verlassen und leben jetzt teilweise in den benachbarten Kleinstädten oder sind in ein anderes Dorf auf der Ebene gezogen. Ich berichte hier über die Geschichte dieses Dorfes, die Stammesgruppe und die Personen und möchte versuchen, deren Schicksale zu analysieren. Wer sind diese Dorfbewohner, die von so einem sinnlosen Krieg betroffen sind? Wie stehen sie zu ihrem Schicksal? Mit wem identifizieren sie sich? Inwieweit konnten sie die politischen Entwicklungen in ihrem Gebiet beeinflussen, wo waren die Grenzen? Inwieweit konnten sie gemeinsam handeln, wer waren ihre Alliierten und wer ihre Gegner?

Warum so ein partikularistisches Beispiel hier? Ich bin auf Grund meiner langjährigen Kenntnisse und Erfahrung mit den sozialen und politischen Entwicklungen in diesem Gebiet vorsichtiger bezüglich der Komplexität und Vielfältigkeit der politischen Lage in kurdischen Gebieten geworden. Es war schon vor dem Militärputsch von 1980 schwierig, über ein lokales Ereignis lückenlose und verläßliche Informationen zu erhalten. Eine harmlose Auseinandersetzung zwischen vielleicht zwei Nachbarn über das Wasserrecht im Dorf wurde zu einem blutigen Kampf zwischen mehreren Parteien »aufgeblasen«, bis die Nachricht das nächste Dorf erreichte. Oder es war umgekehrt; bestimmte Spannungen und Auseinandersetzungen wurden von dritten Parteien verheimlicht oder unterschiedlich interpretiert, je nachdem, wer der Berichterstatter war. Wenn z.B. eine Frau aus einem Dorf entführt wurde, verstanden ihre Verwandten und Nachbarn dies als Brautraub gegen den Willen der Frau. Im Dorf des Entführers war dies jedoch eine Entführung mit Zustimmung der Frau. Die Betrachtungsweise eines Ereignisses ist sicher immer von der Subjektivität des Erzählers geprägt; jedoch war dies besonders extrem in Hakkari. Die Zuverlässigkeit einer Information hing überwiegend von der Vertrautheit der Beziehung zwischen dem Erzähler und dem Zuhörer ab.

Des Weiteren bedeutet die Notwendigkeit, das »Lokale« im »Globalen« zu verorten, die Individuen aus dem herrschenden und depersonalisierten politischen Diskurs herauszuheben und ihnen ein Gesicht zu geben: Personen können nicht einfach als »PKK-Anhänger« oder »Regierungstreue und Kurdenverräter« gesehen werden. Sie handeln eher aus pragmatischen als aus ideologischen Gründen und versuchen im allgemeinen, den Krieg zu überleben. Sie sympathisieren bereits mit den Guerillas, jedoch wissen sie sehr genau, daß ihre Verwandten und Stammesangehörigen auch von Guerillas getötet werden.

Nun zur Geschichte des Dorfes. Sisin liegt in der Region Hakkari, es war ein Bergdorf mit ungefähr 250 Personen in 23 Haushalten im Jahr 1982. Hakkari ist ein bergiges Gebiet (ganz in der Nähe von Sisin ist der höchste Gipfel mit über 4000m), so daß Siedlungen sehr verstreut und klein sind und für die seminomadische Produktionsweise die Weiden und Heuwiesen das allerwichtigste sind. Die Bergdörfer lebten hauptsächlich von Kleinviehwirtschaft. Die Bewohner brachten ihre Schafe und Ziegen meist illegal über die Grenze in den Irak und Iran zum Verkauf. Die wirtschaftlichen grenzüberschreitenden Verbindungen waren für die Beziehungen zum türkischen Staat und dessen Vertretern in Hakkari von großer Bedeutung, ebenso wie für die Kontakte zu den Kurden in Irak und Iran, besonders da diese zugleich den Informationsaustausch über Politik und Wirtschaft in beiden Ländern ermöglichten. Der Ursprung des Mißtrauens zwischen der lokalen Gendarmerie und den Dorfbewohnern hing mit dieser »illegalen« Viehwirtschaft zusammen. Die Dorfbewohner beobachteten jede Bewegung des Gendarmeriekommandeurs, die Gendarmerie war ihrerseits mißtrauisch gegenüber jeder Reise in Richtung Grenze. Es gab sporadische Kontrollen, wobei manchmal im Irak gekaufter Tee oder andere Konsumwaren als Schmuggelware beschlagnahmt wurden. Jedoch konnte man das Verhältnis zwischen der lokalen Gendarmerie und den Dorfbewohnern auch als eine Art erzwungene Symbiose bezeichnen, weil die ökologischen und entwicklungsspezifischen Bedingungen die Kooperation von beiden Seiten notwendig machten. Im Winter z.B. waren die Soldaten der Gendarmeriehauptwache genauso von der Kälte und vom Schnee eingeschlossen, wie die Dorfbewohner. Sie mußten ihre Wintervorräte genauso mit Mauleseln transportieren, wie die Dorfbewohner. Dadurch gewann der menschliche Kontakt und die Zusammenarbeit zwischen den Dorfbewohnern und den Soldaten eine Normalität, auch wenn dieses Gebiet die Geschichte eines Aufstandes und dessen Unterdrückung in den 30er Jahren erlebt hatte.

Das Dorf Sisin lag in einem Stammesgebiet, das von einem Stamm als traditionelles Siedlungs- und Sommerweidegebiet beansprucht wurde. Dies ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Das Dorf war bis 1915 ein nestorianisches d.h. christliches Dorf, so wie viele andere Dörfer in diesem Stammesgebiet. An der Stelle, wo noch eine Moschee steht, gab es vor 80 Jahren eine nestorianische Kirche. Die Nestorianer wurden zu dieser Zeit - im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen des ersten Weltkrieges und der Gründung der türkischen Republik - von den Stammesangehörigen und anderen Kurden und türkischen Militärkräften aus diesem Gebiet vertrieben. (Die Abkömmlinge dieser Nestorianer lebten bis zum Golfkrieg 1991 im Nordirak und flüchteten - zurück - Richtung Hakkari nach dem gescheiterten Aufstand der Kurden im Nordirak gegen Saddam Hussain.) Die Stämme in Hakkari haben unterschiedliches Gewicht und verschiedenartige Größe. Sie sind eigentlich eher lose, fiktive Verwandtschaftsgruppen, die in bestimmten Situationen zusammenhalten und -handeln können, aber nicht immer müssen. Jedoch ist und war die Wahrnehmung von Stämmen immer ein politischer und sozialer Akt. Aus der Sicht der türkischen zentralen Regierung sind die Stämme entweder ein Überbleibsel von alten »feudalen« Strukturen, die eine wichtige Rolle in diesem Gebiet spielen, und/oder enthalten die Symbolik des anti-zentralistischen Widerstands und des kurdischen Nationalismus. Man glaubt, daß die Stammesgruppen fast immer zusammenhalten und -handeln, und darüber hinaus, daß sie von ihren Führern gnadenlos kontrolliert und ausgebeutet werden. Die Beziehungen innerhalb einer Stammesgruppe enthalten allerdings diverseste Strukturen und Züge: Sie können egalitäre Praktiken innerhalb der Gruppe darstellen oder eben hierarchische Strukturen widerspiegeln. Was die Vertreter der zentralen Regierung schlecht nachvollziehen und verstehen konnten, war die Tatsache, daß es in jedem Gebiet verschiedene Stämme, aber auch keinem Stamm angehörende Personen und Schichten gab, und daß es zwischen diesen Gruppen ein delikates Gleichgewicht von Macht und Einfluß geben konnte. Verwandtschaftliche Beziehungen und die dadurch entstandenen Netzwerke deckten sich mit Stammesbeziehungen, weil diejenigen, die keinem Stamm angehörten und selbst außerhalb von Hakkari stammende Menschen in diesen Beziehungen eingebunden werden konnten. Jedoch bestanden zwischen städtischen und ländlichen Gruppen Vorurteile und Distanz, auch wenn sie demselben Stamm angehörten.

Die kognitiven Kategorien von Dorfbewohnern über die »Türken« wurden hauptsächlich von Erfahrungen mit Soldaten während des Militärdienstes oder mit Lehrern, Hebammen und Bürokraten in der Stadt geprägt. Trotzdem gab es vielfältige Kontakte, besonders wenn diese »Türken« im Dorf lebten und dienten.

Die Bauern von Sisin wurden von ihren eigenen Stammesleuten als besonders religiös bezeichnet. Sie sind fromm und waren bestrebt, ihren Ruf als aufrichtige Dorfgemeinde weiter zu behalten. Es gab unter ihnen eine Mehrheit von Familien, deren Vorfahren beim Aufstand in den 30er Jahren auf Seiten der Regierung standen. Sie waren nur in den 70er Jahren gespalten, als die Mehrheit der Männer Demirel (damaliger Vorsitzender der Adalet Partisi, der Gerechtigkeitspartei und jetziger Präsident) und eine Minderheit Ecevit (damaliger Vorsitzender der Cumhuriyet Halk Partisi, der Republikanischen Volkspartei und jetziger Chef der Sozialdemokraten in der Regierungskoalition) unterstützten. Sie hatten Waffen, die sie von ihren Vätern erbten und die zu ihrem männlichen Selbstverständnis gehörten. Sie hatten Konflikte mit anderen Klans des Stammes, aber diese Konflikte diskutierte man nicht mit Fremden. Man erfuhr darüber nur in privaten Gesprächen oder während einer Krise. Die Bewohner in Sisin waren konservative Bauern, die mit der für sie abenteuerlichen linken Politik ihres Stammesführers und seines Bruders nichts zu tun hatten. Sie erhofften eher Unterstützung und Patronage von einem anderen Stammesführer, der immer zu der jeweiligen regierenden Partei gehörte.

Infolgedessen nahmen sie 1986 die Waffen des türkischen Staates, um Dorfwächter (korucu) zu werden. Bei meinem Besuch 1987 begrüßten die Männer in Sisin mich mit Schüssen aus ihren automatischen Waffen. Sie waren besonders glücklich, wieder Waffen zu haben, weil sie ihre eigenen Waffen nach dem Militärputsch 1980 abgeben mußten. Sie waren fast die ersten ihres Stammes, die Dorfwächter geworden waren. Dafür erhielten sie Kritik auch aus ihrer eigenen Stammesgruppe. Der gebildete Stammesführer, welcher sich immer für eine linke kurdische Politik einsetzte, war eine dieser kritischen Stimmen. Die Bewohner von Sisin ihrerseits hofften auf Vermittlung und Einflußnahme von Seiten Barzanis, des Führers der Kurdistan Demokratischen Partei - Irak. Das Gebiet, wo Sisin liegt, war vor dem Militärputsch im Jahr 1980 relativ ruhig in bezug auf politische Gewalt. Jedoch fand die Barzanibewegung der 70er Jahre und deren Zusammenbruch viel Resonanz in und aktive Teilnahme aus diesem Gebiet. Viele Dorfbewohner und Stammesangehörige wurden besonders durch Barzanis Bewegung und den Krieg im Nordirak stark politisiert. Die politische Kultur, die vom Bild romantischer Banditen (eskiya) geprägt wurde, fand in dem Bild des pesmerges (Totgeweihte, d.h. kurdischer Kämpfer) Kontinuität. Heute pflegt die Sprache den euphemistischen türkischen Begriff dagdakiler, d.h. diejenigen die in den Bergen kämpfen. (Dies ist der Terminus für PKK Kämpfer, wenn man sie nicht namentlich nennen möchte.)

Zurück zu Sisin: Die Dorfwächter von Sisin ahnten die Schwierigkeit ihrer Aufgabe, hofften aber, daß eine direkte Konfrontation vermeidbar wäre, wenn sie ihren Kontakt zu Barzani weiter pflegten. Ich habe natürlich nicht die Möglichkeit, hier eine lückenlose Darstellung der Absichten und internen Ansicht der Dorfbewohner aufzuzeigen. Immerhin blieben die Dorfwächter von Sisin in ihren Ämtern bis Juni 1994, d.h. sie haben fast sieben Jahre lang als Dorfwächter zusammen mit den türkischen Soldaten, gegen die PKK gekämpft.

1994 passierte dann folgendes: Im Juni gab es eine gewaltige militärische Auseinandersetzung ganz in der Nähe von Sisin, an der alle zehn Dorfwächter aus Sisin und andere aus dem Nachbarndorf beteiligt waren. (1992 hatten die Dorfwächter die gleichen Uniformen, wie die Kommandos der türkischen Armee bekommen.) In diesem Kampf gab es zahlreiche Tote unter den Soldaten; von zehn Dorfwächtern fiel ein ganz junger Mann, den ich als kleinen Jungen gekannt hatte. Er war Waise und da er alleine mit seiner uralten Oma nicht leben konnte, wurde er sehr früh verheiratet. Damals war er 13 Jahre alt. Zübeyd war der einzige Gefallene unter den Dorfwächtern. Obwohl dies für sie kein geringer Verlust war, sah das Militär gegenüber seinen eigenen Verlusten dies offensichtlich anders und mit Mißtrauen. In der selben Auseinandersetzung wurden vier Dorfwächter von der PKK als Geisel genommen. Die vier Geiseln wurden nach zwei Wochen freigelassen. Laut Hüseyin, mein Gastgeber im Dorf, den ich 1994 traf, behauptete der Kommandeur des Kommandobataillons, daß er sein Vertrauen in die Bewohner von Sisin verloren hätte, weil es unter ihnen nur ein Opfer gab. Er hätte deswegen beschlossen, die Bewohner aus dem Dorf zu vertreiben.

Dies ist selbstverständlich die subjektive Wahrnehmung Hüseyins über die Gründe ihrer Vertreibung aus dem Dorf. Der Kommandeur habe sicher seine Gründe gehabt. Die Denklogik von Hüseyin ist aber bemerkenswert: Er glaubt fast Glück gehabt zu haben. Nach der Aufforderung des Militärs mußten alle Dorfwächter ihre Waffen zurückgeben. Da sie nun nicht mehr unbewaffnet im Dorf wohnen könnten, müßten sie auch alle das Dorf verlassen. Hüseyin empfindet Glück im Unglück: Sie durften ihre Vorräte mitnehmen. Die Häuser wurden von ihnen abgerissen und einige nahmen die Balken und andere Baumaterialien mit sich, um neue Häuser in anderen Dörfern bauen zu können. Andere zogen in die Stadt. Laut Hüseyin haben sie die Verschlechterung der Lage und die Eskalation der Gewalt täglich gespürt und voraussehen können. Deswegen trafen einige bereits vor Juni 1994 Vorbereitungen für einen Umzug. Anderen erging es schlechter. Einen weiteren Bekannten aus dem Dorf Sisin, Hasan, habe ich im Herbst 1994 in der Stadt besucht. Er hat eine große Familie; z.Zt. wohnen acht Kinder und die Eltern in einem ärmlichen Einzelzimmer eines alten Hauses und Hasan ist der einzige Geldverdiener. Er verdient zirka vier Mark Tageslohn als unqualifizierter Bauarbeiter bei der städtischen Straßenbaufirma und da er nicht fest angestellt ist, muß er immer um neue Arbeitsverträge bangen.

Im September 1998 erfuhr ich weiter, daß die Familien, die in das Dorf auf der Ebene umgezogen waren, auch ihre Kleinviehwirtschaft aufgeben mußten. Der Grund ist, daß die PKK Guerillas häufig die Schaf- und Ziegenherden stehlen. Jetzt möchten sie Rinder züchten, denn sie müssen die Rinder nicht auf die Weide bringen. Unter der jungen Generation von Sisins Familien gibt es unterschiedliche Entwicklungen: Einerseits gingen zum ersten Mal aus dem Dorf junge Männer als Lohnarbeiter über eine große Entfernung nach Istanbul. Andererseits waren unter den jungen Menschen, auch Frauen, die ersten aus dem Dorf, welche zu den Guerillas gingen.

Ausblick für das »Lokale« in der »globalisierten Welt

Die seminomadische Lebensweise mit Subsistenzlandwirtschaft der Bewohner von Sisin vor zwanzig Jahren war von Traditionen und Unterentwicklung, aber auch von einem gewissen Maß an Selbstständigkeit gekennzeichnet. Mit der Zwangsmigration in die Kleinstadt ist vorerst die Landwirtschaft und Kleinviehwirtschaft, auch wenn sie sehr traditionell und unterentwickelt waren, zerbrochen. Die Land-Stadt-Binnenmigration, die bereits durch Bevölkerungswachstum und Modernisierung stattfand, wurde rasend schnell und völlig unvorbereitet beschleunigt. Die neuen Stadtbewohner können nur schwer ins Stadtleben integriert werden; sie sind zum einen unqualifiziert für städtische Beschäftigungsmöglichkeiten, zum anderen sind diese Möglichkeiten ohnehin begrenzt. Der Prozeß der Verstädterung beinhaltet auch die Auflösung alter Familien- und Stammes-Strukturen, wobei die heranwachsende Generation nicht mehr Diskriminierung und Benachteiligung hinnehmen wird. Für sie ist die Entfremdung von alten, vertrauten Gesellschaftsstrukturen angesagt: entweder auswandern in die Metropole oder aktive Teilnahme an der Guerillabewegung.

Lale Yalcin-Heckmann arbeitet als Ethnologin an der Universität Bamberg

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1998/4 Türkei, Seite