W&F 2013/1

Grand Area

Ein imperiales Raumkonzept für die Weltmacht EUropa

von Jürgen Wagner

Im folgenden Beitrag wird argumentiert, dass die europäische außen- und sicherheitspolitische Debatte von verschiedenen »Versatzstücken« dominiert wird, die eine geostrategische Expansionspolitik unterschwellig anleiten. Um dies zu verdeutlichen, wird das aus der europäischen Debatte abgeleitete imperiale Raumkonzept der »Group on Grand Strategy« vorgestellt und mit der praktischen EU-Politik verglichen. In seinen Schlussfolgerungen fordert der Autor Politikwissenschaft und Friedensforschung auf, dem Thema mehr Aufmerksamkeit zu widmen.

Als Geostrategie wird im Folgenden der Einfluss der Geografie auf die Politik (Geopolitik) sowie die Androhung und Anwendung militärischer (und anderer) Mittel zur Erreichung bestimmter interessengeleiteter Ziele (Strategie) verstanden. Solche Begrifflichkeiten stehen für harte Machtpolitik und das Denken in Einflusssphären. Aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte wurde die Politik der Europäischen Union daher mit ganz anderen Begrifflichkeiten belegt: „Die Gründungsphilosophie der [Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft], aus der die [Europäische Gemeinschaft] und dann die EU wurden, richtete sich nach innen und entwickelte ein Gegenkonzept zu Geopolitik und zu geostrategischen Dimensionen: Befriedung, Aussöhnung und politische Kooperation durch wirtschaftliche Verflechtung als Antithesen zur Geopolitik und zum Imperialismus.“ 1 Die Europäische Union als eine Art geopolitischer Abstinenzler – dieses Bild wird bis heute sorgsam gehegt und gepflegt, wenn etwa der polnische Außenminister Radek Sikorski erklärt: „Die EU ist inhärent unfähig, strategisch zu denken. Denn wir sind wohl oder übel eine Gemeinschaft des Rechts und des Handels, nicht der Geopolitik.“ 2

Demgegenüber legen die Arbeiten der »Group on Grand Strategy« (GoGS) nahe, dass geostrategische Überlegungen innerhalb der EU durchaus eine wichtige Rolle spielen, womöglich im Hintergrund sogar handlungsleitend wirken. Offiziell gegründet wurde dieser Zusammenschluss europäischer Geopolitiker erst im Sommer 2011. Allerdings wurden erste Publikationen bereits im August 2009 auf der eng mit der Gruppe verbundenen Internetseite »European Geostrategy« (EUGeo)3 veröffentlicht. Im GoGS-Beirat finden sich prominente Vertreter zahlreicher einflussreicher EU-Denkfabriken,4 wobei im Folgenden vor allem die Publikationen der beiden GoGS-Direktoren, James Rogers und Luis Simón, näher betrachtet werden, da sie als repräsentativ für die Positionen der gesamten Gruppe gelten können.5 Sowohl Rogers als auch Simón arbeiteten u.a. für die wichtigste hauseigene EU-Denkfabrik, das European Union Institute for Strategic Studies (EUISS), sowie im Auftrag der Generaldirektion für Außenbeziehungen des EU-Rates (DG EXPO). Dass es sich bei beiden keineswegs um Hinterbänkler handelt, zeigt auch ihre Einladung als Sachverständige für den EU-Unterausschuss Sicherheit und Verteidigung (SEDE) sowie ihre Beratertätigkeit für die schwedische EU-Ratspräsidentschaft. Die »Group on Grand Strategy« ist also bestens vernetzt und in der Lage, den EU-Strategiediskurs teils mitzubestimmen.

Keineswegs soll hier aber der Eindruck erweckt werden, diese Gruppe würde »im stillen Kämmerlein« die Geschicke der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik lenken. Vielmehr ist sie so interessant, weil sie aus den wesentlichen Elementen der gegenwärtigen sicherheitspolitischen Debatte ein machtpolitisches Anforderungsprofil ableitet, diese Einzelelemente zu einer – zumindest aus ihrer Sicht – in sich kohärenten Geostrategie zusammengeknotet und in ein imperiales EU-Raumkonzept überführt.

Bestandsaufnahme und Prognosen

Aus einer Reihe von Befunden postulieren Rogers und Simón die Notwendigkeit für eine Weltmachtrolle EUropas. Auf dieser Basis wird dann wiederum ein Anforderungsprofil abgeleitet, das seinerseits als Grundlage für die Ausarbeitung eines detaillierten geostrategischen Raumkonzeptes dient.

Bedrohte westliche Vormacht

Rogers und Simón teilen wie viele andere die Auffassung, dass die jahrhundertelange Vorherrschaft des Westens inzwischen ernsthaft gefährdet sei: „Da mittlerweile neue Mächte aufsteigen, ist der amerikanische und europäische Einfluss bedroht.“ 6 Für sie handelt es sich hierbei um ein Phänomen von wahrhaft historischer Tragweite: „Die Abnahme der westlichen Macht in den letzten Jahren könnte nicht nur das wichtigste Ereignis des vergangenen Jahrzehnts, sondern möglicherweise der letzten vier Jahrhunderte darstellen.“ 7

(Teil-) Rückzug der Vereinigten Staaten

Der Machtverlust der Vereinigten Staaten werde EUropa in besonderer Weise betreffen, so ein weitere Befund: „Für die Europäer ist es zentral, dass die aufkommende multipolare Ordnung unweigerlich die Macht der USA noch mehr verringern wird. Dies wird die Amerikaner dazu veranlassen, ihre Kapazitäten stärker auf Regionen zu fokussieren, die für ihre eigenen Interessen von strategischer Bedeutung sind. […] Die USA werden bereit sein, manchmal auszuhelfen, aber lediglich bis zu einem gewissen Grad: Sie sind nicht mehr in der Lage, die Europäer den ganzen Weg mitzuschleppen.“ 8 Dabei wird allerdings keinesfalls für einen Bruch mit den USA plädiert – im Gegenteil. Ein enges Bündnis mit den Vereinigten Staaten wird auch künftig als unerlässlich erachtet, um EU-Interessen effektiv durchsetzen zu können. Aus der prognostizierten abnehmenden US-Unterstützung wird jedoch die Notwendigkeit (oder: die Gelegenheit) abgeleitet, dass die Europäische Union auf militärischem Gebiet handlungsfähiger und eigenständiger wird, um die entstehende Lücke zu schließen.

Neue Großmachtkonflikte und Rückkehr der Machtpolitik

Vor allem die aufstrebende Supermacht China (mit Abstrichen auch Russland) wird als eine ernsthafte Gefahr für die vom machtpolitischen Abstieg bedrohte Europäischen Union eingestuft. So wird etwa vor „potenziell räuberischen Autokratien“ 9 und einem China gewarnt, „das künftig im politischen und wirtschaftlichen Bereich aggressiver werden wird“.10 Auf dieser Grundlage werde Machtpolitik künftig wieder an Bedeutung gewinnen: „Wir sollten uns an Folgendes gewöhnen: Ohne eine größere politische Entschlossenheit und Führungsfähigkeit Europas wird die Zukunft möglicherweise mehr wie Europas eigene Vergangenheit aussehen. Eine Welt, in der schiere Macht wichtiger wird und in der die etablierten Regeln gebrochen werden, falls oder wenn sie den nationalen Interessen der neuen Mächte ins Gehege kommen sollten.“ 11

Anforderungsprofil an eine »Weltmacht EUropa«

Die zuvor beschriebenen Befunde sind kein Selbstzweck, sie stecken den Rahmen für ein alarmistisches Bedrohungsszenario ab und liefern damit die Rechtfertigung, um ein eigenes expansiv-gewaltgestütztes Vorgehen zu legitimieren.

Abstieg vermeiden – Weltmacht werden – Pazifismus überwinden

Ungeachtet der zuvor beschriebenen eher pessimistischen Aussichten für die Europäische Union ist aus Sicht der GoGS noch nicht alles verloren: „[W]ir sind sicher, dass der europäische Niedergang nicht unausweichlich ist.“ 12 Um aber in die Riege der Supermächte aufsteigen zu können, sei die Forcierung des europäischen Einigungsprozesses unabdingbar: „Kurz gesagt, die Europäische Union muss ein Superstaat und eine Supernation werden, was sie dann wiederum in die Lage versetzt, eine Supermacht zu werden. 13 Die wesentlichen weiteren Stolpersteine auf dem Weg zur Weltmacht sind ebenfalls schnell ausgemacht: Es gelte, die „europäische Risikoscheu“ ebenso zu überwinden wie den „wachsenden europäischen Widerstand gegenüber dem Einsatz militärischer Macht“.14 Der Europäischen Union wird (fälschlicherweise) vorgeworfen, sie verfolge eine „Reinform des ungezügelten Pazifismus“.15

Militarisierung der Europäischen Union

Es ist nicht verwunderlich, dass die EU-Entscheidung aus dem Jahr 1999, eine EU-Eingreiftruppe im Umfang von 60.000 Soldaten aufzubauen, als entscheidender Schritt in die »richtige« Richtung erachtet wird: „Kurz gesagt: Seit den späten 1990er Jahren ist die Europäische Union von der »Zivilmacht« (oder »normativen Macht«) mit ihrem Fokus auf die innere Entwicklung abgerückt und begann, eine »globale Macht« zu werden […]. 16 Um diese Entwicklung weiter voranzutreiben, beschäftigen sich zahlreiche GoGS-Publikationen damit, wie die militärische Schlagkraft weiter »verbessert« werden kann. So werden etwa ein EU-Rüstungshaushalt, ein EU-Hauptquartier und ein einheitlicher EU-Rüstungsmarkt (der wiederum die Herausbildung eines europäischen militärisch-industriellen Komplexes befördern soll) sowie ein einheitlicher Geheimdienst für das europäische In- wie Ausland gefordert.17 Auch der Soldatenpool für die EU-Eingreiftruppe soll mehr als verdoppelt werden.18 Grundsätzlich sei es erforderlich, „eine neue Ära der europäischen Integration auf Grundlage militärischer Zusammenarbeit einzuleiten“.19

Machtmaximierende Geostrategie entwickeln

Im Juni 2011 forderte der ehemalige britische Premier Tony Blair die Europäische Union dazu auf, ihr Selbstverständnis grundlegend zu überdenken: „Für Europa ist es wesentlich, zu verstehen, dass die einzige Möglichkeit, heute Unterstützung für Europa zu erhalten, nicht auf einer Art Nachkriegssicht basieren kann, gemäß der die EU notwendig für den Frieden ist. […] Beim Grundprinzip von Europa geht es heute um Macht, nicht um Frieden. [… I]n einer Welt, in der sich vor allem China zur dominierenden Macht des 21. Jahrhunderts entwickelt, ist es für Europa vernünftig, sich zusammenzuschließen und sein kollektives Gewicht einzusetzen, um Einfluss zu erlangen.“ 20

Genau solch eine grundlegende Neuausrichtung strebt auch die »Group on Grand Strategy« an. Das Gerede von der „Zivilmacht Europa“ sei Schnee von gestern, „diese alte Vision spricht die Herzen der jungen Europäer nicht mehr an“.21 Aus diesem Grund sei es dringend erforderlich, diese „ideologische Leerstelle“ 22 aufzufüllen und das Zusammenspiel von Geografie und Macht in Form einer in sich kohärenten Geostrategie ins Zentrum zu rücken. James Rogers macht keinen Hehl daraus, worin er die Hauptaufgabe einer Geostrategie sieht – in militärgestützter Machtakkumulation: „Das ultimative Ziel einer Geostrategie ist es, Geografie und Politik miteinander zu verknüpfen, um die Macht und die Einflusssphäre des heimischen Territoriums zu maximieren […] Ein solcher Ansatz muss von subtilen, aber beeindruckenden militärischen Fähigkeiten unterstützt werden, die darauf abzielen, das Auftauchen möglicher Rivalen zu vereiteln […].“ 23

Imperiales Raumkonzept: »Grand Area«

Führt man sich die Konsequenzen vor Augen, so wird klar, dass es keine kleinen Brötchen sind, die von der »Group on Grand Strategy« gebacken werden: „Über eine europäische Geostrategie nachzudenken bedeutet, Neuland zu betreten. [… Hierfür] muss die EU vermeintlich »nationale« Interessen überwinden und diese europäisch definieren. Zum anderen muss die EU bereit sein, interessenpolitisch zu denken und gemeinsame außenpolitische Interessen durchzusetzen. Damit verließe die EU endgültig ihre Nische als »Zivilmacht«, um zum machtpolitisch bewussten Akteur mit internationaler Verantwortung zu werden.“ 24 Mit genau diesem Anspruch legte James Rogers im Januar 2011 eine Studie mit dem Titel »New Geography of European Power?«25 vor, die in bislang wohl einzigartiger Form aus einer Definition europäischer Interessen ein imperiales Raumkonzept ableitet.

Die Kartografie des EU-Imperiums

Bei dem von James Rogers definierten europäischen Großraum – der „Grand Area“ – handelt es sich um nicht weniger als um eine Kartografie eines »Imperium Europa«. Es umfasst große Teile Afrikas, die ölreiche kaspische und zentralasiatische Region und den Mittleren Osten, reicht aber auch bis weit nach Ostasien, wo es gilt, die Schifffahrtsrouten zu kontrollieren (siehe Abb.)

A New Geography of European Power?

Nachweis: Rogers, James: A New Geography of European Power?, Egmont Paper Nr. 42, January 2011

„Aus einem geopolitischen Blickwinkel muss diese Zone fünf Kriterien genügen: Sie muss

1. über alle grundlegenden Ressourcen verfügen, die notwendig sind, um die europäische Industrieproduktion und künftige industrielle Bedürfnisse zu decken;

2. alle wesentlichen Handelsrouten, insbesondere Energiepipelines und maritime Transportrouten, aus anderen Regionen ins europäische Heimatland umfassen;

3. möglichst wenige geopolitische Problemfälle einschließen , die zu einer Desintegration der Region führen und damit die künftige wirtschaftliche Entwicklung Europas schädigen könnten;

4. bezogen auf ihre Bedeutung für die Wirtschaft und die geopolitischen Interessen Europas die geringste Wahrscheinlichkeit signifikanter Übergriffe durch mächtige ausländische Akteure aufweisen;

5. eine Region sein, die die Europäische Union am kosteneffektivsten durch eine Ausweitung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik […] verteidigen kann.“ 26

Imperium der Militärbasen

Die »Grand Area« soll mit einem dichtmaschigen Netz aus europäischen Militärbasen überzogen und so unter Kontrolle gebracht werden: „[D]as Konzept der »Grand Area« würde versuchen, diese Länder in ein beständiges System unter Führung der EU zu integrieren, das durch Militärbasen, bessere Kommunikationsverbindungen und engere Partnerschaften untermauert wird – eine europäische »Vorwärtspräsenz« –, um die Notwendigkeit sporadischer Interventionen zu reduzieren.“ 27 Mit diesem Militärbasennetz soll vor allem folgenden beiden Zielen Nachdruck verliehen werden: „Erstens, um ausländische Mächte davon abzuhalten, sich in Länder in der weiteren europäischen Nachbarschaft einzumischen, und zweitens, um Halsstarrigkeit und Fehlverhalten auf Seiten der lokalen Machthaber vorzubeugen“.28 Konkret wird daraufhin die Errichtung einer ganzen Reihe neuer Basen vorgeschlagen: „[N]eue europäische Militäranlagen könnten im Kaukasus und in Mittelasien, in der Arktis und entlang der Küstenlinie des indischen Ozeans benötigt werden. Das Ziel dieser Einrichtungen wäre es, […] innerhalb der »Grand Area« eine latente aber permanente Macht auszuüben“.29

In zwei viel beachteten Studien für das EUISS und die DG EXPO präzisierten James Rogers und Luis Simón diese Überlegungen für den Bereich einer maritimen EU-Geostrategie und schlugen gleichzeitig eine Europäisierung bislang nationalstaatlicher Anlagen vor, um so die Fähigkeiten zur globalen Machtprojektion zu vergrößern: „Die Europäische Union muss die kontinentale Vorherrschaft anstreben, indem sie von Militärstützpunkten innerhalb des EU-Territoriums Luft- und Seemacht in die maritimen Randgebiete an den EU-Küstengebieten projiziert. [Hierfür] müssen die Europäer ihre überseeischen Militärbasen integrieren, um so eine umfassende globale Präsenz der Europäischen Union zu gewährleisten und ihre Vorwärtspräsenz zu maximieren und so zum Weltfrieden beizutragen.“ 30

Geostrategie: Realitätscheck

Die »Group on Grand Strategy« ist der Auffassung, dass sich aufgrund der geostrategischen Diskussion innerhalb der EU allmählich ein „strategischer Konsens“ herausbildet, zu dem sie wesentlich beigetragen habe.31 Und tatsächlich ist es frappierend, wie omnipräsent die Einschätzungen und Politikempfehlungen der Gruppe im europäischen Strategiediskurs sind.32 Doch auch was die praktische Politik anbelangt, wurde mit der Expansion der EU-Einflusssphäre und der Etablierung eines imperialen Großraums bereits längst begonnen. Ursächlich hierfür ist, dass die Kontrolle des südlichen und östlichen Nachbarschaftsraums als notwendige Bedingung für EUropas Aufstieg zur Weltmacht erachtet wird, wie etwa GoGS-Beirat Thomas Renard betont: „Selbstverständlich muss die EU sich zuerst als Macht in ihrer eigenen Region etablieren, wenn sie eine globale Macht werden will.“ 33

Hierfür wurde im Jahr 2003 die »Europäische Nachbarschaftspolitik« (ENP) ins Leben gerufen, die sich auf 16 Staaten südlich und östlich der EU-Grenzen erstreckt. Ihr Ziel ist es, die umliegenden Länder fest an die EU zu binden (sprich: zu kontrollieren), ohne ihnen allerdings eine Beitrittsperspektive zu eröffnen. Mit dieser „Expansion ohne Erweiterung“ (Georg Vobruba) hat die Europäische Union einen wesentlichen Schritt hin zur Etablierung eines imperialen Großraums im Sinne der »Grand Area« von James Rogers unternommen. Die ambitionierte ENP-Agenda wurde kurz nach ihrem Start von der damaligen EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner folgendermaßen beschrieben: „Um die politischen und wirtschaftlichen Vorteile der Erweiterung mit unseren neuen Nachbarn zu teilen, haben wir die Europäische Nachbarschaftspolitik konzipiert. Mit dieser Politik etablieren wir einen »Ring von Freunden« entlang der Grenzen der erweiterten EU. Das ist ein geostrategisches Schlüsselprojekt für Europa. Diese Zone der Stabilität und des Wohlstandes soll von Osteuropa über den Kaukasus und den Nahen Osten quer durch den gesamten Mittelmeerraum reichen.“ 34

Dass dabei mittlerweile immer offener gefordert wird, die »Freunde« notfalls mit Gewalt an die Kandare zu nehmen, sollten sie aus der Reihe tanzen, entspricht ebenfalls ganz dem »Grand Area«-Konzept. Es entbehrt allerdings nicht einer gewissen Ironie, wenn dies ausgerechnet von jemandem wie dem eingangs zitierten polnischen Außenminister Radek Sikorski getan wird, der einerseits der EU geostrategische Inkompetenz attestiert, andererseits aber unmissverständlich betont, dass Gewalt zur Aufrechterhaltung des imperialen Großraums einen integralen Bestandteil der Europäischen Nachbarschaftspolitik darstellt: „Wenn die EU eine Supermacht werden will – und Polen befürwortet dies –, dann benötigt sie die Kapazitäten, um Einfluss in der Nachbarschaft auszuüben. […] Manchmal müssen wir Gewalt anwenden, um unsere Diplomatie zu unterstützen.“ 35

Auch wenn sie augenscheinlich eine wichtige Rolle spielen, tun sich Spitzenpolitiker wie Sikorski derzeit wohl noch schwer, offen auf geostrategische Strategien und Erklärungsmuster zu rekurrieren. Es stellt sich allerdings die Frage, ob dies noch lange so bleiben wird. Im Juli 2012 riefen die Außenminister Polens, Spaniens, Italiens und Schwedens das »European Global Strategy Project« aus.36 Sein Ziel ist es, bis Mai 2013 eine EU-Globalstrategie vorzulegen – und bei der Ausarbeitung spielen Mitglieder der »Group on Grand Strategy« eine sehr prominente Rolle.

Die Debatte um die Zukunft der EU-Globalstrategie ist also in vollem Gange: Dass dabei große Teile der Politikwissenschaft und Friedensforschung der Auffassung zu sein scheinen, Begriffe wie Geostrategie, Macht- und Expansionsstreben seien allenfalls für Historiker von Belang, als Erklärungsmuster für die aktuelle EU-Politik jedoch irrelevant, ist ebenso blauäugig wie verantwortungslos. Die Augen hiervor zu verschließen und sich aus einer kritischen Auseinandersetzung um Macht und Interesse zu verabschieden, bedeutet, Geopolitikern wie der »Group on Grand Strategy« das Feld zu überlassen – mit allen Folgen, die dies nach sich ziehen wird.

Anmerkungen

1) Guérot, Ulrike/Witt, Andrea: Europas neue Geostrategie. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 17/2004), S.6-12, S.6f.

2) Führen heißt nicht dominieren. Interview in: Internationale Politik, Mai/Juni 2012, S.8-13, S.13.

3) europeangeostrategy.ideasoneurope.eu.

4) Dazu gehören u.a. Sven Biscop und Jo Coelmont vom belgischen Egmont Institute; Giovanni Grevi von der spanischen Foundation for International Relations (FRIDE); Eva Gross vom Institute for European Studies (IES); Jolyon Howorth (Jean Monnet Professor of European Politics) und Stefani Weiss von der Bertelsmann Stiftung.

5) So stellt etwa das »Manifest« (grandstrategy.eu/manifesto.html) der Gruppe, dem die einzelnen Beiratsmitglieder augenscheinlich zustimmen, eine Zusammenfassung der Positionen der beiden Protagonisten Rogers und Simón dar.

6) Rogers, James/Simón, Luis: The new »long telegram« – Why we must re-found European integration. GoGS, Long Telegram No. 1/Summer 2011, S.4.

7) Rogers, James/Simón, Luis: The top ten geopolitical events of the last decade. EUGeo, 05.01.2011.

8) Rogers/Simón: The new »long telegram«, op.cit. S.3, S.5.

9) Rogers/Simón: The new »long telegram«, op.cit., S.8.

10) Rogers, James/Simón, Luis: Forecasting the next decade, EUGeo, 06.01.2010.

11) Rogers/Simón: The new »long telegram«, op.cit., S.4.

12) Group on Grand Strategy: Manifesto. o.J.; grandstrategy.eu/manifesto.html.

13) Rogers/Simón: The new »long telegram«, op.cit., S.8.

14) Group on Grand Strategy: Manifesto, op.cit.

15) Rogers/Simón: The new »long telegram«, op.cit., S.2.

16) Rogers, James: A diagram of European »grand strategy«. EUGeo, 14.09.2011.

17) Rogers/Simón: The new »long telegram«, op.cit., S.12.

18) Biscop, Sven/Coelmont, Jo: Europe Deploys Towards a Civil-Military Strategy for CSDP. Egmont Paper 49, June 2011, S.26.

19) Rogers/Simón: The top ten geopolitical events of the last decade, op.cit..

20) Hough, Abdrew: Tony Blair: EU needs elected president, former PM says. The Telegraph, 09.06.2011.

21) Rogers/Simón: The new »long telegram«, op.cit., S.5.

22) Ebd.

23) Rogers: A New Geography of European Power?, op.cit, S.16.

24) Guérot/Witt: Europas neue Geostrategie, op.cit., S.6.

25) Rogers: A New Geography of European Power?, op.cit.

26) Ebd., S.21.

27) Ebd., S.5.

28) Ebd., S.4.

29) Ebd., S.23.

30) Rogers. James: From Suez to Shanghai. EUISS Occasional Paper No. 77/2009; Rogers, James/Simón, Luis: DG EXPO Briefing Paper, February 2009. Das Zitat stammt aus einer im Unterausschusses für Sicherheit und Verteidigung (SEDE) des Europäischen Parlamentes von James Rogers verwendeten Präsentation, die dem Autor vorliegt.

31) Balogh, István: Crafting a »grand design«. GoGS, Strategic Snapshot No. 1/July 2011, S.3f.

32) Siehe hierzu ausführlich Wagner, Jürgen: Die EU als Rüstungstreiber. IMI-Studie 2012/08.

33) Renard, Thomas: Libya and the Post-American World: Implications for the EU. Egmont Security Policy Brief No. 20, April 2011, S.5.

34) Ferrero-Waldner, Benita: Europa als globaler Akteur. Berlin, 24.01.2005.

35) Five EU countries call for new military »structure«. EUobserver, 16.11.2012.

36) euglobalstrategy.eu.

Jürgen Wagner ist geschäftsführender Vorstand der Tübinger Informationsstelle Militarisierung (IMI) und in der Redaktion von W&F.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2013/1 Geopolitik, Seite 11–14