W&F 2018/4

Grenzarbeiter*innen

Akteure und Ortsproduktionen im Grenzregime 2015

von David Scheuing

Der »Balkan-Routen-Korridor«, der sich 2015 im Zuge des »langen Sommers der Migration« von Griechenland bis Deutschland erstreckte, war eine neue Form der transnationalen Grenzziehung quer durch Europa. Die Entstehung dieser »Geographie der Grenze« war den spezifischen Gegebenheiten und dem Handeln der Akteure der damaligen Fluchtbewegungen geschuldet. Vielfach wurden Regierungen und Geflüchtete als diese Akteure identifiziert. Humanitären Akteuren wird oft keine eigene Akteurs-Rolle zugestanden, oder diese wird weitgehend ausgeblendet. Um dieser Verkürzung zu begegnen, untersucht dieser Artikel die Rolle der beteiligten intermediären Akteure am Beispiel der (ehemaligen jugoslawischen) Republik Mazedonien.

Es war ein kalter Januartag 2016, als ich das erste Mal vor dem Lager »TC Tabanovce« im Norden der (ehemaligen jugoslawischen) Republik Mazedonien (im Folgenden: (ej)RM)1 stand und mich mit Mitarbeitenden von UNICEF unterhielt. Das bis heute bestehende Lager ist ein kleiner Teil der neuen Grenzsituation in Europa, die unter dem Namen »Balkan-Routen-Korridor« bekannt wurde (Kasparek 2016; Speer 2017). Der »Korridor« führte von Griechenland durch die (ej)RM, Serbien, kurzzeitig Ungarn, später Kroatien, Slowenien und Österreich nach Deutschland.

Vom Zusammenbruch des Grenzregimes zum Korridor

Der Korridor entstand im langen Sommer der Migration“ (Kasparek/Speer 2015), als das bis dato gültige Grenzregime-Arrangement der Europäischen Union aus Dublin-Verordnung (Dublin III), Schengen-Abkommen und Grenzkon­trollen an der europäischen Außengrenze zusammenbrach (Hess et al. 2017).2 Der Korridor war ein Aushandlungsergebnis der beteiligten Akteure, das heißt die Antwort auf den Zusammenbruch verschiedener Elemente des Grenzregimes. Entgegen früherer Strukturen des Grenzregimes war der Korridor auf den erleichterten Transit vieler Geflüchteter nach EUropa3 ausgerichtet und nicht primär auf deren Abschreckung. Dafür setzte sich das Regime des Korridors als transnationaler Raum über Visa- und Asylprozesse hinweg und figurierte als eine durchgehende, nach innen gekehrte Grenze Europas, an der eine Vielzahl an Akteuren beteiligt war. Wie dieser Korridor als transnationaler Raum entstand, wird hier am Beispiel der (ej)RM analysiert.

»Korridor machen«

Der Korridor ist nicht einfach ein Raum – er wird zu einem solchen gemacht durch die Gestaltung des Diskurses und die Handlungen der beteiligten Akteure. Vertreter*innen handlungstheoretischer Zugänge in der Geographie (Werlen 2010) denken Räumlichkeit, Ort und Geographie stets von den Handlungen der Akteure her. Sie sind als solche ausschließlich soziale Konzepte und nicht materiell vorgeprägte Gegenstände. Es geht also darum, die verräumlichenden Handlungsausführungen, -motive und -legitimierungen der Akteure zu verstehen: ihr Tun und wie sie ihr Tun begründen. Hier kommt die Methode der (ethnographischen) Grenzregimeanalyse nach Tsianos/Hess (2010) zum Einsatz. Sie betrachtet die Konflikthaftigkeit der Positionen aller Akteure und deren gemeinsamen Aushandlungsprozess um die Grenze. Gemeinsam ermöglichen es diese Herangehensweisen, eine »Geographie der Grenze« zu entwickeln.

Zur Rolle und Funktion intermediärer Akteure

In Bezug auf den Balkan-Routen-Korridor fehlte bislang eine Analyse der Rolle und Funktion der intermediären Akteure.4 Daher steht deren spezifische Leistung bei der Herstellung des Korridors hier im Fokus.

Mit intermediären Akteuren ist grob umrissen die Gruppe nicht-staatlicher (inter-) nationaler (Hilfs-) Organisationen gemeint, deren Logos beispielsweise auf allen Zelten, Schlafsäcken, Essensrationen oder Medikamenten prangten. Intermediäre Akteure sind also alle Akteure, die nicht Geflüchtete und nicht direkt zentralstaatliche Akteure sind – egal wie groß dieser Akteur dann jeweils ist. Intermediär nenne ich sie, da sie als »Block« zwischen den oftmals in empirischen Studien einander entgegengesetzten Positionen von Staat und Geflüchteten agieren. Sie vermitteln zwischen den Positionen, sind aber keine durchführenden Mittler, sondern eigenständig agierende Zwischenglieder. Sie sind also nur intermediär, soweit sie ihre Arbeit auf die Geflüchteten hin ausrichten. Akteure sind dabei Individuen oder Organisationen.5

Entwicklungsphasen des Korridors in der (ej)RM

Die Entwicklung des Balkan-Routen-Korridors verlief in drei Phasen, die sich grob wie folgt abgrenzen lassen:

I: Ringen um die Menschlichkeit

Spätestens im Frühjahr 2015 begannen die intermediären Akteure mit ihrer jeweiligen Intervention in der (ej)RM, abhängig von ihrer spezifischen Definition eines »Notfalls«. Für viele war dabei einerseits die politische Krise um das Abschiebegefängnis »Gazi Baba« ausschlaggebend (HRW 2015, Global Detention Project 2017), andererseits die Zahl der täglich ankommenden Flüchtenden.

Zunächst stand das Ringen um die Menschlichkeit im Zentrum: Die autonomen Bewegungen der Geflüchteten hatten den Korridor „aufgebrochen“ (Legis, Interview 17.8.2016), nun galt es die neu entstehenden Routen zu organisieren und für legislative Schritte zu werben.

Intermediäre Akteure intervenierten aufgrund der mazedonischen Gesetzgebung zu Menschenschmuggel zunächst vor allem durch »direkte Hilfe« entlang der Routen: durch Essensausgabe, medizinische (Notfall-) Versorgung oder Fahrradreparaturen. In dieser Phase entstanden zentrale, aber zunächst kurzlebige Anlaufstellen, die dem später etablierten Korridor vorausgingen und weitestgehend vom Staat toleriert wurden (beispielsweise die Versorgung der Geflüchteten in der Sinan-Pascha-Moschee in Kumanovo oder ein vorübergehend genutzter Unterstand am Bahnhof in Gevgelija). Staatliche Akteure waren in dieser Phase nicht organisierend präsent, mit Ausnahme der Polizei als vornehmlich repressivem Akteur.

Parallel lobbyierten nationale wie internationale Nichtregierungs- und Hilfsorganisationen (UNICEF, UNHCR, Legis, Helsinki Committee) und politische Aktivist*innen dafür, eine ähnliche 72-Stunden-Regelung wie Serbien einzuführen. Geflüchteten stand es hiernach in den 72 Stunden nach Einreise frei, Asyl zu beantragen oder das Land wieder zu verlassen. Mit der Gesetzesänderung Ende Juni 2015 war diese Lobbyarbeit der intermediären Akteure erfolgreich.

Die Gesetzesänderung hatte unmittelbar raumkonsitutive Wirkung, indem intermediäre Akteure nun helfen konnten, ohne als vermeintliche Schmuggler*innen kriminalisiert zu werden; Geflüchtete wiederum konnten sich frei bewegen und so versuchen, das Land auf legalem Wege binnen dreier Tage zu durchqueren. Die Orte des Transits blieben allerdings zunächst weiterhin provisorisch – Essen wurde beispielsweise beim Bahnhof Tabanovce weiterhin auf dem Parkplatz ausgegeben. Dieser Ort sollte später zum Durchgangslager Tabanovce werden.

II: Institutionalisierung und Ausnahmezustand

Ende August 2015 verkündete das mazedonische Parlament den lokal begrenzten Ausnahmezustand an den Grenzübergängen bei Gevgelija im Süden und Tabanovce im Norden. Durch den Ausnahmezustand wurde die faktische Bewegungsfreiheit der Geflüchteten wieder stärker staatlich kontrolliert (Legis, Interview 17.8.2016). Zugleich passierten weiterhin mehrere Zugtransporte pro Tag (mit bis zu 700 Menschen pro Zug) das Land.6

Erneut fühlten sich die intermediären Organisationen zur Intervention »gezwungen«, vor allem da der Staat inaktiv blieb, den Transit in irgendeiner Weise leichter oder annehmbarer zu gestalten. Das UNHCR – als der wohl zentralste Akteur – begann, die Durchgangslager zu planen und nach entsprechenden Lokalitäten zu fragen. Aufgrund der Transportsituation schienen Lager nahe der Bahnstrecke vonnöten. So wurden Orte gewählt, die sich in den vorangegangen Monaten durch die Autonomie der Migration herauskristallisiert hatten, wie Tabanovce und Gevgelija, obwohl dies keineswegs selbstevident war: So konnte UNDP als vermittelnder Akteur sogar die Verlegung des Lagers Gevgelija vom Bahnhof in Richtung griechischer Grenze erreichen (UNDP, Interview 15.8.16). Planung, Aufbau und Strukturierung der Lager wurde weitestgehend den intermediären Akteuren überlassen (UNHCR, Interview 31.3.16; UNICEF, Interview 29.3.16; Legis 2015, S. 12). Das UNHCR sah sich gar vor eine vermeintliche Koordinationsverantwortung gestellt, scheute aber davor zurück, quasi-souveräne Rechte innerhalb des Lagers gegenüber lokalen Initiativen auszuüben: „Auf der einen Seite lag die Verantwortung plötzlich bei uns, auf der anderen Seite […] haben wir [hier] gar keine Befugnisse.“ (UNHCR, Interview 31.3.2016) Das Interesse des Staates reduzierte sich in dieser Zeit vornehmlich auf »geordnete Migration« (orderly migration). Im Kern hieß das die möglichst vollständige Registrierung der Flüchtenden (IOM, Interview 20.09.2016). Doch selbst diese hochamtliche Arbeit wurde am Ende von der Nichtregierungsorganisation (NGO) MYLA übernommen, die selbst im Bereich des Asylrechts arbeitet. Sie wurde dafür vom UNHCR bezahlt (UNHCR II, Interview 20.07.16) und von den USA mit Geräten ausgestattet (Deutsche Botschaft, Interview 19.09.16).

Als zum Ende des Jahres 2015 dann doch staatliche Akteure – vornehmlich das mazedonische Ministerium für Arbeit und Sozialpolitik (MLSP/MTSP) und das Krisenkoordinationszentrum – die Verwaltung der Korridorstrukturen übernahmen, mussten Geflüchtete und intermediäre Akteure ein sich zunehmend fortifizierendes Arbeitsumfeld hinnehmen. Zunächst wurden die Lager mit 3 m hohen Zäunen und Nato-Stacheldraht abgesperrt; schließlich wurden auch die Eingangs- und Ausgangskorridore nach Serbien und von Griechenland her eingezäunt. Das UNHCR sprach im Interview von einem zunehmenden „Gefängnis-Design“ (UNHCR II, Interview 20.7.16). Dennoch blieb der Korridor in dieser institutionalisierten Form bis zum Frühjahr 2016 offen.

III: Willkürlicher Arrest und das Ende des Korridors

Am 8. März 2016 endete der Korridor weitestgehend. Als Reaktion auf die angekündigte Schließung der Grenzen in Österreich und Slowenien stoppte die mazedonische Regierung die 72-Stunden-Regelung. Für die Geflüchteten bedeutete dies eine willkürliche Quasi-Gefangennahme in den Durchgangslagern (Global Detention Project 2017). Im April 2016 passte das mazedonische Parlament die Asylgesetzgebung entsprechend an. Die Geflüchteten, die nach dem Ende des Korridors noch in den Lagern verblieben, befanden sich im Limbo der Legalität: Innerhalb der Lager konnten sie (nach Ablauf der 72 Stunden) keinen Asylantrag mehr stellen, „da die Lager sich nicht an der Grenze befinden“ (MLSP/MTSP, Interview 29.9.16). So wurden die Lager zu „legalen Orten für illegalen Aufenthalt“ (MYLA, Interview 27.9.16). Der extraterritoriale Status der Lager vertiefte sich dadurch noch mehr, anstatt beendet zu werden.7

Die intermediären Akteure veränderten folglich ihre Arbeitsweise, blieben aber zu großen Teilen präsent, solange im Lager noch Menschen lebten. So wurde versucht, die Lager auf die Bedingungen eines längeren Aufenthaltes hin umzubauen. Allerdings waren die Lager dafür nicht ausgelegt (UNHCR II, Interview 20.7.2016). Zusätzliche Wohncontainer wurden aufgebaut, Wege gepflastert und Spielplätze angelegt, Wasseraufbereitungsanlagen installiert und das Lager Tabanovce nochmal signifikant vergrößert und verstetigt (hier lebten Anfang März über 1.000 Menschen in widrigen Umständen). Die Ressourcen für den Umbau mobilisierten intermediäre Akteure weitgehend aus internationalen Nothilfe-Töpfen.

Obwohl der Staat nun große Kontrolle ausübte, halfen die NGOs durch ihre Präsenz und Arbeit »solange es eben sein muss« beim Erhalt der Lager mit.

Die Situation wurde auch als Chance begriffen. Einige Interviewte meinten, es sei einfacher geworden, Geflüchteten zu helfen, da sie nun längerfristig vor Ort waren. Erst mit zunehmender Dauer des Limbo wurde die Kritik an der Situation auch unter den Interviewpartner*innen lauter. Außerhalb der Lager begann in dieser Phase überhaupt nur eine NGO mit dem Monitoring der illegalisierten Fluchtbewegungen (Legis 2017), alle anderen Organisationen fokussierten sich auf die Arbeit in den Lagern. Diese Entscheidung hatte konkrete Folgen für die Unterstützung der Geflüchteten: Die Überreste des »Korridors« galten als die »gute« und »legitime« Räumlichkeit, Strukturen zur Unterstützung illegalisierter Fluchtbewegungen bekamen keinen Rückhalt.

„Das ist unser Job“: Bedingungen und Legitimierung des Handelns

Doch nicht nur die konkreten Taten der einzelnen Organisationen und ihr Zusammenwirken sind für die Produktion des Korridors von Interesse. Vielmehr spielt für handlungszentrierte Geographie auch eine Rolle, wie die Organisationen begründen, auf welche Weise und warum sie intervenierten. Hierbei rückten die folgenden Faktoren in den Vordergrund:

  • Die Art des (vorherigen) Engagements: Akteure, die ein langfristiges, sektorales Interesse an Migrationsarbeit hatten, waren in ihren standardisierten Prozessen geübt und bekannte sowie mächtige Akteure. Organisationen, die eher spontan auf den Plan traten, erschienen beinahe willkürlich in ihrer Schwerpunktsetzung. Andererseits waren sie flexibel genug, um ihre Arbeitsfelder der jeweiligen Situation anzupassen. Doch mussten sie sich ihren Status erst erarbeiten (z.B. Legis).
  • Kompetenz und Kapazität im Aufgabenfeld: Die Akteure befanden sich miteinander in einem Ringen um Kompetenzfeststellung und Kapazitäten. Die eigene Effektivität immer wieder neu zu betonen, diente vor allem dazu, sich selbst zu legitimieren. Je mächtiger und zentraler die Akteure, desto eher betonten sie die Notwendigkeit zur Koordination der Intervention. Die zentrale Stellung dieser Akteure wurde zusätzlich gefestigt, da fast alle Gelder in die Hände der bekannten internationalen NGOs und Organisationen flossen.
  • Die Rolle des Staates: Der Staat wurde von fast allen Interviewpartner*innen als „unfähig“ oder „nicht im Stande zu handeln beschrieben.8 Dies erlaubte es den intermediären Akteuren wiederum, relativ frei zu agieren und vielerorts eigenständig zu bestimmen, wie und wo Ressourcen zum Einsatz kamen.

Die Intermediären Akteure legitimierten ihre Intervention im Kern mit drei Argumentationslinien:

  • Die humanitäre Notlage der Geflüchteten: Es galt, die Menschenwürde (humanity) der Geflüchteten zu sichern. Die Art dieser Legitimation variierte je nach Ansatz und reichte von emotionaler Opferdarstellung über Ansätze des Migrationsmanagement bis hin zu einer an den Menschenrechten orientierten prinzipiell-humanitären Einstellung, die Geflüchtete als diskriminierte Gruppe betrachtet. Um die Dringlichkeit der Intervention zu verstärken, griffen Akteure auch auf drastische Raumbilder zurück: »Afrika und Asien« mussten als Vergleichsräume herhalten – Metaphern für vermeintlich ewige humanitäre Krisen.
  • Die notwendige Kontrolle: Hier wurde argumentiert, dass ein menschenwürdiger Verlauf der Migration nur unter Kontrolle effektiv sicherzustellen sei. Sich auf diese Ebene der Sachzwang-Argumentation zu begeben, diente der Entpolitisierung der Interventionen. Dies ging in einigen Fällen so weit, dass Akteure selbst mit den Sicherheitskräften die Grenzen patrouillierten. Damit fallen diese Akteure in eine aus der Literatur wohlbekannte Verschränkung aus Sicherheitslogik und Humanitarismus (Malkki 1995; Fassin 2010; Mezzadra/Neilson 2013, S. 187).
  • Sichere Räume: Da in dieser Logik der Raum, in dem sich Geflüchtete bewegen konnten, ebenfalls kontrolliert werden musste, griffen einige wenige Akteure auf explizite „raumbezogene Semantiken“ (Redepenning 2006) zurück. Der Raum des Korridors wurde als der Ort des Schutzes und der Unterstützung entworfen. »Gefahr« und »Kriminelle« wurden allesamt außerhalb des Korridors lokalisiert, was dieses »Draußen« als per se gefährlich für Geflüchtete markierte. Dies war damit auch Grund, »dort draußen« nicht zu intervenieren. Gleichzeitig funktionierte der Korridor durch seinen räumlichen Ausschluss aus der Nation: Die Lager wurden von den Akteuren als artifizielle Orte markiert, die eigentlich nicht zum Staat gehören. Die Orte der Lager sind damit aus der territorialen Logik des Staates ausgeschnitten, dies macht allerdings wiederum die Intervention der Akteure scheinbar dringlich notwendig.

Intermediäre Akteure in den Geographien der Grenze

Intermediäre Akteure hatten also im Kontext der (ej)RM für die Etablierung des Korridors eine zentrale Rolle und waren relativ handlungsmächtige Akteure, allen voran das UNHCR. Es ist jedoch ersichtlich, dass der Korridor letztlich nur dort zugelassen wurde, wo er den Interessen des Staates (Souveränität, Territorialität, Gewaltmonopol, wirtschaftliche Prosperität) nicht entgegenstand. Später wurden diese Handlungsmöglichkeiten durch staatliche Autorität und deren ausschließende (halb-) legale Regulierung teilweise verunmöglicht. Der Korridor als Grenzregime ist dennoch in seiner Gänze nur zu verstehen, wenn alle beteiligten Akteure in ihrer Rolle und Bedeutung für seine Entstehung betrachtet und kritisch gewürdigt werden. Der übermächtigen Rolle des Staates sind hier zumindest in Teilen Handlungen von Geflüchteten und intermediären Akteuren entgegen- beziehungsweise beigestellt worden.

Kritisch bleibt zu bemerken, dass die meisten der humanitären intermediären Akteure auch in den Lagern aktiv blieben, als der Korridor endete, zumeist in den Feldern Monitoring, Versorgung und Bildung. Die damit einhergehende Komplizenschaft in der Aufrechterhaltung repressiver Systeme wurde allerdings von keinem der Akteure selbst thematisiert. Da der Korridor der legitime Ort für diese Form der Intervention zu sein schien, hinterfragten diese Akteure auch nicht, ob es nicht andere Möglichkeiten geben könnte, sondern hielten an Form und Charakter der Lager fest – auch als sie quasi-Gefängnisse waren. Die Intervention der Akteure lässt sich hier am besten als eine Abwägung der Balance von humanitärer Intervention und Zugeständnissen an staatliche Souveränität fassen. Dies gilt freilich nicht für alle Akteure im Handlungsfeld, die interviewt wurden.

Die Betrachtung der lokalen Aushandlungsprozesse in der (ej)RM verdeutlicht die Einflussmöglichkeiten und die Vielstimmigkeit der Rollen intermediärer Akteure bei der Entstehung des Korridors. Es bleibt festzuhalten: Wenn die »Geographien der Grenze« in Zukunft betrachtet werden, kann das Feld der intermediären Akteure nicht weiter ausgeblendet werden.

Anmerkungen

1) Der Namensstreit um die Benennung des Staates »Mazedonien« hält seit Langem an. Weder zum Zeitpunkt des Forschungsprojekts noch jetzt gibt es eine Entscheidung, die von allen Akteuren international akzeptiert wird bzw. demokratisch abgesichert ist. Daher wird hier das Akronym verwendet.

2) Ein Grenzregime wird in den Handlungen zur und Konflikten um die Grenze einer Vielzahl daran beteiligter Akteure etabliert. Ein Grenzregime muss seine Stabilität stets aufs Neue unter Beweis stellen. Siehe dazu Mezzadra/Neilson 2013, S. 182; Panagiotidis/Tsianos 2007, S. 71

3) Für die Begründung dieser Schreibweise siehe Bialasiewicz 2011.

4) Bis heute ist die einzige vergleichbare Forschung eine Akteursanalyse in Kroatien; vgl. Demir/Larsen/Horvat 2016. Für die Bedeutung der Perspektive vgl. diese Arbeit mit dem konträren Ansatz der Studie von Beznec/Speer/Stojic Mitrovic 2017.

5) Für die Untersuchung wurden Interviews geführt mit Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen/UNDP, Helsinki Committee, Hohe Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen/UNOHCHR, Hohes Flüchtlingeskommissariat der Vereinten Nationen/­UNHCR, Human Rights Watch, International Organization for Migration/IOM, Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen/UNICEF, LaStrada/Open Gate, Legis, Macedonian Young Lawyers Association/MYLA, Regionales Krisenkoordinationszentrum, Rotes Kreuz, ausserdem Vertreter*innen der EU-Mission, der deutschen Botschaft, des Vizbegovo Center for Asylum Seekers, des Ministeriums für Arbeit und Sozialpolitik (MLSP/MTSP) sowie ein Anwohner und politische Aktivist*innen. Für einen Blick auf die bestehende Landschaft der intermediären Akteure in der (ej)RM vor 2011 siehe Geddes/Taylor 2016, S. 601.

6) Das staatliche Bahnunternehmen der (ej)RM verlangte pro Person im Schnitt 25 Euro. Da der Transport im Herbst 2015 quasi auf die Bahn monopolisiert wurde, hat diese mit dem Transport der Geflüchteten vermutlich mehrere Millionen Euro eingenommen.

7) Der Ausnahmezustand, der für die Aufrechterhaltung dieser Situation notwendig ist, wurde seither immer rechtzeitig vom Parlament verlängert, auch nach der Parlamentswahl und dem Regierungswechsel von 2017. Der Ausnahmezustand ist im Oktober 2018 weiterhin in Kraft.

8) Hier ist die nationale mazedonische Politik als Kontextfaktor zu berücksichtigen. Die politische Krise um die nationalkonservative Regierungskoalition VMRO-DPMNE 2015 band viele Ressourcen. Trotz Beilegung des politischen Konfliktes (Przino Agreement vom Juli 2015) kam es auch 2016 zu Protesten (?????? ??????????/Bunte Revolution April-Juli 2016, vgl. Ozimec 2016), sodass auch in dieser Zeit die politischen Kräfte auf andere Themen fokussierten.

Literatur

Beznec, B.; Speer, M.; Stojic Mitrovic, M. (2017): Governing the Balkan Route – Macedonia, Serbia and the European Border Regime; bordermonitoring.eu.

Bialasiewicz, L. (ed.) (2011): Europe and the World – EU Geopolitics and the transformation of European Space. Hampshire/Berlington: Ashgate.

Fassin, D. (2010): Noli me tangere – The Moral Untouchability of Humanitarianism. In: Bornstein, E.; Redfield, P. (ed.): Forces of Compassion – Humanitarianism between Ethics and Politics. Santa Fe: SAR Press, S. 35-52.

Geddes, A.; Taylor, A. (2016): In the shadow of fortress Europe? Impacts of European migration governance on Slovenia, Croatia and Macedonia. Journal of Ethnic and Migration Studies Vol. 42, No. 4, S. 587-605.

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Hess, S.; Kasparek, B.; Kron, S.; Rodatz, M.; Schwertl, M.; Sontowski, S. (Hrsg.) (2017): Der lange Sommer der Migration – Grenzregime III. Berlin/Hamburg: Assoziation A.

Human Rights Watch/HRW (2015): “As Though We Are Not Human Beings” – Police Brutality against Migrants and Asylum Seekers in Macedonia.

Kasparek, B. (2016): Routes, Corridors, and Spaces of Exception – Governing Migration and Europe. Near Futures Online, Issue 1 (März 2016), »Europe at a Crossroads«.

Kasparek, B.; Speer, M. (2015): Of Hope – Ungarn und der lange Sommer der Migration. Bordermonitoring.eu, 7.9. 2015.

Larsen, M.; Demir, E.; Horvat, M. (2016): Humanitarian responses by local actors – Lessons learned from managing the transit of migrants and refugees through Croatia. London: IIED.

Legis (2017): Irregular migration in Macedonia – 6 months outreach report in Lipkovo Municipality (villages Vaksince and Lojane); legis.mk.

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Malkki, L. (1995): Purity and Exile – Violence, Memory, and National Cosmology among Hutu Refugees in Tanzania. Chicago/London: University of Chicago Press.

Mezzadra, S.; Neilson, B. (2013): Border as Method, or, the Multiplication of Labor. Durham/London: Duke University Press.

Ozimec, K. (2016): Macedonia – »Colorful Revolution« paints raucous rainbow. DW.com, 21.04.2016.

Panagiotidis, E.; Tsianos, V. (2007): Denaturalizing »Camps« – Überwachen und Entschleunigen in der Schengener Ägäis-Zone. In: TRANSIT MIGRATION Forschungsgruppe (Hrsg.): Turbulente Ränder – neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas. Bielefeld: transcript, S. 57-85.

Redepenning, M. (2006): Wozu Raum? Systemtheorie, critical geopolitics und raumbezogene Semantiken. Leipzig: IfL – Leibniz-Institut für Länderkunde.

Speer, M. (2017): Die Geschichte des formalisierten Korridors – Erosion und Restrukturierung des Europäischen Grenzregimes auf dem Balkan; bordermonitoring.eu.

Tsianos, V.; Hess, S. (2010): Ethnographische Grenzregimeanalyse. In: Hess, S.; Kasparek, B. (Hrsg.) (2010): Grenzregime – Diskurse, Praktiken, Institutionen in Europa. Berlin/Hamburg: Verlag Assoziation A, S. 243-264.

Werlen, B. (2010): Gesellschaftliche Räumlichkeit 2 – Konstruktion geographischer Wirklichkeiten. Stuttgart: Franz Steiner.

David Scheuing studierte Friedens- und Konfliktforschung in Marburg und ist Preisträger des Christiane-Rajewsky-Preis 2018. Dieser Artikel baut auf seiner prämierten Masterarbeit auf.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2018/4 Kriegsführung 4.0, Seite 45–49