W&F 2013/2

Grenzen: Konfliktlöser oder Konfliktursache?

Südsudan und Sudan

von Julia Kramer

Am 9. Juli 2011 wurde der aktuell jüngste Staat der Welt geboren: die Republik Südsudan. Voraus gingen zwei jahrzehntelange Bürgerkriege, ein »Umfassendes Friedensabkommen« 2005, Wahlen 2010 und das Unabhängigkeitsreferendum des Südsudan am 9. Januar 2011. Mit überwältigender Mehrheit von 98,83% entschieden sich die Südsudanes_innen für die Unabhängigkeit. Eine neue Grenze sollte einen Schlussstrich unter die blutige Geschichte setzen. Dieser Artikel untersucht, ob die Ziehung neuer Grenzen zwischen Sudan und Südsudan wirklich zur Lösung von Konflikten verhilft oder vielmehr diese nur verschiebt bzw. Anlass zu weiteren Konflikten ist.

Bei Abschluss des »Umfassenden Friedensabkommens«1 zwischen der Regierung in Khartum und der damaligen Rebellengruppe und jetzigen südsudanesischen Regierungspartei SPLM/A2 im Jahr 2005 war keineswegs klar, dass der Süden die Unabhängigkeit wählen würde. Zwar gab es innerhalb der SPLM/A spätestens seit 1991 mit dem zeitweilig abtrünnigen Dr. Riek Machar, einem Nuer, einen starken Vertreter für die Unabhängigkeit. Der Führer der SPLM/A, Dr. John Garang, der ethnischen Gruppe der Dinka angehörend, hingegen war ein Verfechter der Vision eines »neuen Sudan«, der Befreiung aller Marginalisierten im Süden wie im Norden. Er wurde mit Inkrafttreten des »Umfassenden Friedensabkommens« Vizepräsident des Sudan. Das Abkommen sah vor, dass beide Konfliktparteien die Einheit des Landes attraktiv machen sollten („Making Unity Attractive“), und nur im Fall, dass dies nicht gelänge, sollten die Südsudanes_innen sechs Jahre später die Unabhängigkeitsoption haben.

Neue Grenze: Historisches Korrektiv, Teilbefreiung oder machtpolitisches Kalkül?

Dass am 9.1.2011 die Unabhängigkeit gewählt wurde, liegt hauptsächlich in drei Faktoren begründet: Zum einen starb Dr. John Garang, der charismatische Visionär des »New Sudan«, wenige Monate nach Inkrafttreten des »Umfassenden Friedensabkommens« bei einem ungeklärten Hubschrauberabsturz. Trotz Ausschreitungen in Khartum hielt das Friedensabkommen, doch mit Garang, so sagen viele, starb auch die Einheit des Sudan, und in der SPLM/A wurde von nun an auf Unabhängigkeit Kurs gehalten. Dennoch spielt das Mausoleum von Dr. John Garang im »nation building« des neuen Staates Südsudan eine wichtige identitätsstiftende Rolle.

Der zweite und wahrscheinlich wichtigere Faktor ist die mangelnde Aufarbeitung historischer Entwicklungen und tief sitzender Traumata, die teils sogar weit vor den Bürgerkriegen gegen die Zentralregierung in Khartum begründet liegen.

Tausende von Jahren war das subsaharische »Hinterland« eine Quelle für Sklaven, zunächst für die ägyptischen Pharaonen, dann für den arabischen Markt. Die nilotischen Ethnien der Dinka, Nuer und anderer wurden immer weiter Richtung Süden verdrängt. Auch während der Kolonialzeit wurde der Südsudan vom britisch-ägyptischen Kondominium vernachlässigt: Der heutige Südsudan wurde geographisch zwischen vier Kirchen zur Mission aufgeteilt, mehr geschah kaum. Die etwa zwei Millionen Todesopfer und mehrere Millionen Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge während der beiden Bürgerkriege seit 1955 gingen ebenfalls hauptsächlich zu Lasten der Südsudanes_innen. Auch heute noch sind dort die akuten Auswirkungen des Krieges drastisch spürbar, z.B. anhand der fehlenden Infrastruktur oder der Verbreitung von Landminen.

Die sechs Jahre des Friedensabkommens wurde jedoch kaum genutzt, um die tiefen Wunden zu heilen; erst im Kontext des Referendums schienen viele Nordsudanes_innen »aufzuwachen« und die Diskrepanz zwischen ihrer oftmals paternalistisch-rassistischen Haltung und der Realität der Südsudanes_innen zu erkennen. Die »Jihad«-Propaganda während des Krieges und die mangelnde Interaktion zwischen Süd- und Nordsudanes_innen haben eine frühere Auseinandersetzung mit den eigenen Vorurteilen und Identitätsfragen sicherlich mit verhindert, zumal nicht wenige Angehörige arabischer Ethnien im Nordsudan zwar ihrerseits von Seiten hellhäutigerer Araber Rassismen erfahren, selbst aber noch oft das Wort »Sklave« in Bezug auf »afrikanische«, sprich dunkelhäutigere, Südsudanes_innen in den Mund nehmen.

Angesichts der unmittelbaren Kriegserfahrung, der historischen Diskrepanz und der anhaltenden Rassismuserfahrung ist das fehlende Vertrauen der Südsudanes_innen in eine gemeinsame Lösung unter einer nordsudanesisch geprägten Regierung nicht überraschend.

Hinzu kommt als dritter Faktor, dass sich der Nordsudan faktisch kaum am »Aufbau Süd« beteiligte und damit die Einheit wenig attraktiv machte. Ob es bereits ein Kalkül war, dass man nicht in einen Landesteil investieren wollte, der ohnehin unabhängig würde, bleibt dahingestellt. Aufbauarbeiten im Süden wurde jedenfalls hauptsächlich von internationalen Akteuren vorangebracht.

Die Südsudanes_innen konnten ihr Schicksal im Referendum selbst entscheiden, es gab aber sowohl von Seiten des Westens wie von Seiten der sudanesischen Regierung unter Omar Al Bashir ein eigenes Interesse an einer Unabhängigkeit des Südsudan. Bashir bekam vom Westen für den Fall einer friedlichen Ablösung des Südsudan in Aussicht gestellt, dass das Land seinen Status als »Schurkenstaat« verlieren würde. Außerdem dürfte angesichts der Einsicht, dass er den Süden wohl nicht halten könne, der arabisch-muslimischen Regierung ein vordergründig monolithischer Staat zur Machtkonsolidierung eher dienlich erschienen sein.

Interessen des Westens

Immer wieder3 wird die Rolle der US-Regierung und bestimmter Think-Tanks als Wegbereiter der Unabhängigkeit betont, die vordergründig den Konflikt im Sudan als einen hauptsächlich religiösen Konflikt zwischen Christen und Muslimen dargestellt hätten.

Der Westen hoffte mit einem unabhängigen Südsudan Zugriff auf das dort geförderte Öl zu erhalten, denn Bashir verkaufte das Öl vorwiegend an malaysische und chinesische Firmen. Südsudan, so die Hoffnung, würde dem Westen zugewandter sein und eine geostrategische Bastion sowohl im »Kampf gegen den Terror« als auch im Wettlauf um die afrikanischen Ressourcen zwischen China und den USA sein. So gab es bereits 2010 Gerüchte, dass die USA die bislang in Stuttgart beheimatete militärische Kommandozentrale AFRICOM ggf. nach Südsudan übersiedeln wollten. Auch Israel unterstützte die Neugründung des Südsudan und flog z.T. heimliche Angriffe auf Strukturen im Sudan, die der Unterstützung der Hamas verdächtigt wurden.4

Entsprechend der Eigeninteressen war und ist die Sudanpolitik westlicher Staaten wenig konsistent. Während Bashir aufgrund des Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshofs wegen Genozids in Darfur geächtet ist und nicht als Gesprächspartner in Frage kommt, wird mit ihm als vermeintlichem »Stabilitätsfaktor« im »Kampf gegen den Terror« gleichwohl eng kooperiert oder im Falle von Deutschland wirtschaftlich angebandelt, zuletzt beim »Germany Sudan and South Sudan Business Day« im Januar 2013 im Auswärtigen Amt in Berlin.

Die durch die UN-Missionen auf eine beträchtliche Zahl angewachsene »international crowd« ist, je mehr sie verdient, i.d.R. umso weiter von der sudanesischen bzw. südsudanesischen Realität entfernt und wird somit auch von der jeweiligen Bevölkerung eher als Problem denn als Lösungsfaktor angesehen. Preissteigerungen z.B. im Immobilienbereich, ein Brain-drain hin zu internationalen Akteuren wie den Vereinten Nationen usw. verstärken diese Dynamik noch.

Die Hoffnung auf die uneingeschränkte West-Nähe Südsudans bekam einen Dämpfer, als der frisch gebackene Staat ebenfalls einen Öl-deal mit China abschloss. Weiterhin wird jedoch über den möglichen Bau einer Ölpipeline zur kenianischen Küste spekuliert. Diese »Lamu-Pipeline« würde ggf. mit Beteiligung der deutsch-österreichischen Firma ILF Consulting Engineers Ltd. gebaut und ist, da sie durch ein Naturschutzgebiet führen würde, u.a. wegen ihrer ökologischen Auswirkungen umstritten. Auch weitere Bodenschätze wie Uran und Kupfer könnten u.U. im Südsudan abgebaut werden. Wie ein Großteil Afrikas ist Südsudan ebenfalls massiv von »Landgrabbing« – nicht nur durch westliche Akteure – betroffen, wobei die Instabilität und die ungeklärten Landrechte auf verschiedenen Ebenen den »Grabbern« zugute kommen.

Grenzziehung und Ressourcen: Stolpersteine für den Frieden zwischen den Nachbarn

Ist durch die neue Grenze nun Frieden zwischen Süd und Nord? Bei weitem nicht. Zwischenstaatliche Konflikte entzünden sich genau an den Themen, die im »Umfassenden Friedensabkommen« nicht abschließend geklärt wurden:

  • der Verbleib des Bundesstaats Abyei,
  • die genaue Grenzziehung,
  • die Kosten für den Transport südsudanesischen Erdöls durch die nordsudanesische Pipeline.

Für den Bundesstaat Abyei, ein erdölreicher und fruchtbarer Landstrich zwischen Nord und Süd, war im »Umfassenden Friedensabkommen« ein separates Referendum vorgesehen, in dem dessen Bewohner_innen entscheiden sollten, ob sie zu Sudan oder zu Südsudan gehören wollen. Dieses Referendum fand nie statt, weil sich die beiden Seiten nicht darauf einigen konnten, wer als Bewohner_in Abyeis wahlberechtigt wäre. Sowohl südsudanesisch zugeordnete Dinka als auch nordsudanesisch zugeordnete Messeriya leben dort – über weite Strecken durchaus friedlich –, oftmals nomadisch oder halbnomadisch. Am Zankapfel Abyei entzündete sich folglich auch bereits im Mai 2011, zwei Monate vor der Unabhängigkeit Südsudans, ein weiterer bewaffneter Konflikt zwischen der sudanesischen Armee und der Sudanese People’s Liberation Army (SPLA).5 Die sudanesische Armee marschierte damals für ca. zwölf Monate in Abyei ein und vertrieb zeitweilig zehntausende Menschen.

Die Grenzziehung ist an verschiedenen Stellen darüber hinaus umstritten. An mehreren Hotspots kam es seit der Unabhängigkeit zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, so zum Beispiel in Süddarfur oder um das Ölfeld »Heglig«, das bei den Südsudanes_innen die Bezeichnung »Pan Thau« trägt. Im April 2012 besetzte die SPLA das Ölfeld für zehn Tage. Der Konflikt um Heglig/Pan Thau war einer der bisherigen Höhepunkte der Eskalation zwischen den beiden Staaten.

Zuvor war der Streit um den Transport des von Südsudan geförderten Erdöls durch die Pipelines, die durch den Nordsudan verlaufen, soweit eskaliert, dass Südsudan die Ölförderung fast vollkommen einstellte und damit den nördlichen Nachbarn Sudan wie sich selbst in eine schwere ökonomische Krise stürzte. Mangels Einigung über den Preis, den Südsudan für die Nutzung der Pipelines durch den Sudan zahlen sollte, hatte Sudan kurzerhand Schiffsladungen mit Öl im Wert von bis zu 815 Millionen Dollar im Hafen von Port Sudan konfisziert. Der Konflikt zeigt, wie interdependent die beiden Regierungen nach wie vor sind.

Während der Westen rasch auf eine Lösung pochte, spekulierte Südsudan wohl auf eine raschere Destabilisierung des Regimes in Khartum. Letzteres wiederum geriet durch den Akt Südsudans aufgrund des Verlusts der Öleinnahmen und des Wegfalls von Einkommen durch die Pipeline bei gleichbleibend immensen Militär- und Sicherheitsausgaben tatsächlich in eine Wirtschaftskrise und versuchte, diese für kriegstreiberische Propaganda zu nutzen. Dank der Bewusstseinsbildung und Mobilisierungskampagnen sozialer Bewegungen wie der Jugendbewegung Girifna (»Wir haben es satt«, girifna.com) kam es im Sommer 2012 zu massiven Protesten, den so genannten »Sudan Revolts«, in allen großen Städten Sudans. Diese hatten zwar die wirtschaftliche Krise mit als Auslöser und Thema, legten diese aber nicht dem Südsudan, sondern der eigenen Regierung zur Last –und verhinderten damit vielleicht einen neuen vollen Krieg, wenn sie auch ihr Ziel eines Regimewechsels bislang nicht erreichten.

Die zähen Verhandlungen zwischen den Regierungen beider Staaten in Addis Abeba führten im September 2012 zur Unterzeichnung von Abkommen u.a. zum Thema Sicherheit, die am 12. März 2013 mit der »Addis Implementation Matrix« konkretisiert wurden. Diese regelt u.a. den Abzug beider Armeen aus einer 14 Meilen breiten demilitarisierten Zone an der gemeinsamen Grenze sowie die Wiederaufnahme der Ölförderung und der Ölbeförderung durch die sudanesischen Pipelines.

Am 26. März 2013 bestätigte die U.N. Interim Security Force for Abyei (UNISFA), dass beide Seiten als ersten Schritt ihre Streitkräfte aus Abyei zurückgezogen hätten; der Rückzug entlang der gesamten Grenze soll bis 5.April folgen.

Grenze als Spiegelachse: Verschiebung der Probleme in zwei Entitäten?

Inwieweit diese Abkommen nachhaltig sind, ist fraglich, auch wenn es gute Gründe für beide Seiten gäbe, Stabilität anzustreben. Doch die neue Grenze rückt gleichermaßen innenpolitische Konfliktfelder in den Fokus, die nicht nur die Regierungen der beiden Länder belasten, sondern auch mit dem jeweiligen Nachbarland zumindest potentiell verwoben sind:

So beschuldigen sich die Regierungen beider Länder, im jeweils eigenen Land bewaffnete oppositionelle Gruppen zu unterstützen: Von Südsudan wird die Regierung in Khartum verdächtigt, u.a. abtrünnige SPLM/A-Generäle zu unterstützen, wohingegen der Norden dem Südsudan vorwirft, Rebellen der SPLM/A-Nord zu unterstützen.

Die SPLM/A-Nord ist ein wichtiger Faktor, um die Bedeutung der neuen Grenze zu ermessen: Große Landstriche im heutigen Sudan kämpften während des Krieges auf Seiten der SPLA, insbesondere im heutigen südlichen Sudan, in den Nuba-Bergen Südkordofans und in Blue Nile State. Im Rahmen des »Umfassenden Friedensabkommens« fand in diesen beiden Bundesstaaten daher eine »Volkskonsultation« statt, die als Umfrage aber ohne jegliche Umsetzungsverbindlichkeit verblieb. Als die sudanesische Regierung im Juni 2011 kurz vor der südsudanesischen Unabhängigkeit die Entwaffnung der SPLA im Nordsudan befahl, entschloss sich die Führung der inzwischen unter dem Namen SPLM/A-Nord bekannten Restmenge, wieder zu den Waffen zu greifen.

Bis heute sind Teile von Südkordofan und Blue Nile State unter Kontrolle der SPLM/A-Nord, und die sudanesische Luftwaffe geht u.a. mit Bombern massiv gegen die Rebellen sowie gegen die Zivilgesellschaft in der Region vor. Hunderttausende verstecken sich daher weitab von jeglicher humanitärer Hilfe in Berghöhlen oder sind in den benachbarten Südsudan geflohen. Da die Flüchtlingscamps sich z.T. in unmittelbarer Grenznähe befinden,6 wo die sudanesische Armee Rebellen vermutet, fliegt die Armee auch Angriffe gegen südsudanesisches Territorium. Der frühere Krieg gegen die eigenen Bürger_innen geht nun also im heutigen südlichen Sudan weiter; der Hauptauslöser für die Konflikte, die Marginalisierung weiter Teile der Bevölkerung, bleibt bestehen, und die Art des Konfliktaustrags zieht die Zivilgesellschaft weiterhin massiv in Mitleidenschaft.

Während sich der jahrzehntelange Konflikt zwischen der fundamentalistisch-diktatorischen Militärregierung einerseits und der marginalisierten Peripherie andererseits im aktuellen Konflikt in Südkordofan und Blue Nile State widerspiegelt und fortsetzt, lassen sich im Südsudan Spiegelungen des autoritären Systems im Norden wiederfinden: So hat der junge Staat mit Korruption, Menschenrechtsverletzungen und inter-ethnischen, oft machtpolitisch gefärbten Konflikten zu kämpfen. Sowohl zwischen einzelnen Ethnien, wie den Nuer und Murle, in deren Konflikt es im Januar 2012 zu einem Massaker mit ca. 3.000 Toten kam, als auch zwischen den nilotischen Dinka, Nuer und Shilluk, die im Norden des Südsudan beheimatet sind und viele Machtpositionen innehaben, einerseits und den ethnischen Gruppen im »Greater Equatoria«, dem südlichen Südsudan, andererseits. Menschenrechtsorganisationen beobachten mit Sorge u.a. die Entwicklungen bezüglich Presse- und Meinungsfreiheit und im Rechts- und Vollzugssystem. Wie so oft, ist die Transformation einer autoritär geführten Rebellengruppe hin zu einer demokratischen Regierungspartei ein steiniger Weg. Die Herausforderungen in einem verarmten Nachkriegsland wie Südsudan sind immens, und eine politische Opposition gegen eine als »Befreiungsbewegung« legitimierte Regierung ist nur schwer aufzubauen. Bereits vor dem Unabhängigkeitsreferendum des Südsudan, im Herbst 2010, drückte ein Bewohner des ländlichen Südsudan die Stimmungslage so aus: „Wir hoffen darauf, Menschenrechte, Sicherheit vor Krieg und Hunger und Demokratie verwirklichen zu können. Aber wir haben auch Angst, dass diese Hoffnung enttäuscht wird.“

Die Vergessenen: Pastoralisten, Binnenflüchtlinge und die Zivilgesellschaft des Sudan

Drei Gruppen sind besonders von der Grenzziehung betroffen: Die nomadischen und halbnomadischen Pastoralisten, die oft seit Jahrzehnten im Nordsudan lebenden Binnenflüchtlinge und die um die Chance auf einen »neuen Sudan« gebrachten Bürger_innen des (Nord-) Sudan.

Im pastoral geprägten Afrika sind Grenzen traditionell weniger durch einen Strich auf einer Landkarte oder in der Landschaft geprägt, sondern durch Nutzungsrechte verschiedener sozialer Gruppen im Jahreslauf. Neben den saisonalen Routen der Rinderhirten kann dies so weit gehen, dass die einzelnen ethnischen Gruppen nur unterschiedliche Wildpflanzen ernten und nutzen dürfen. Traditionell wandern »nordsudanesisch« identifizierte Rinderhirten, z.B. Gruppen der arabisch konnotierten Baggara, zu bestimmten Zeiten ihrer jährlichen Wanderrouten in heute »südsudanesische« Gebiete, z.B. der Dinka, und umgekehrt. Sofern die vereinbarten Zollzahlungen geleistet wurden, gab es hier bislang keine außergewöhnlichen Probleme. Zeugen berichten, dass vor der Unabhängigkeit sogar christlich-animistische Dinka-Älteste als Konfliktvermittler in darfurische Binnenflüchtlingscamps geholt wurden. Wird die Grenze zwischen Sudan und Südsudan undurchlässig, untergräbt das den Lebensunterhalt dieser Hirtengruppen. Dieses Problem wird noch durch die fortschreitende Desertifikation in der Sahel-Zone und den dadurch wachsenden Bevölkerungsdruck verstärkt.

Eine weitere Gruppe, deren Belange im »Umfassenden Friedensabkommen« nicht ausreichend geklärt wurde, ist die der Personen im jeweils »anderen« Teil des Landes. Die größte Gruppe von ihnen, die ehemaligen südsudanesischen Binnenflüchtlinge im Nordsudan, waren teilweise schon vor Jahrzehnten vor dem anhaltenden Bürgerkrieg in den Norden geflohen und hatten sich dort meist in den Außengebieten der Städte bzw. ausgeschriebenen Binnenflüchtlingscamps angesiedelt. Ihre Kinder sprechen nordsudanesisches Arabisch und kaum Englisch. Nach dem Unabhängigkeitsreferendum verschärfte sich die Rhetorik rapide, und Anfeindungen im öffentlichen Leben nahmen zu. Das Recht auf einen sudanesischen Pass war für Angehörige südsudanesischer Ethnien nicht vorgesehen, und von hochrangigen Politikern wurde gedroht, dass sie keine öffentlichen Einrichtungen wie Krankenhäuser etc. mehr nützen dürften, sondern in »ihr eigenes Land« gehen sollen – selbst wenn sie im Nordsudan geboren wurden; maßgeblich gilt hier die ethnische Zugehörigkeit. Hunderttausende kehrten daraufhin in eine ungewisse Zukunft im Südsudan »zurück«, wo sie oft ebenfalls Diskriminierung erfahren. Sie werden teils als Verräter angesehen, da sie im Norden gelebt haben, und haben große Schwierigkeiten, im verarmten Südsudan Land oder Arbeit zu finden.

Als »Bauernopfer« der Unabhängigkeit des Südsudan kann auch die nordsudanesische Zivilgesellschaft bezeichnet werden. Bereits bei den Wahlen im April 2010 wurde deutlich, dass die internationale Gemeinschaft bereit ist, über die Unregelmäßigkeiten durch das Bashir-Regime hinwegzusehen und Bashir im Amt zu bestätigen, um den Unabhängigkeitsprozess des Südsudan nicht zu gefährden. Besonders für die gerade erwachende Demokratiebewegung, die begonnen hatte, die Angststarre der Gesellschaft zu brechen, war dies ein herber Schlag. Durch die Unabhängigkeit des Südens fühlte man sich mit einem diktatorischen Regime, welches auch unmittelbar wieder an Schärfe zulegte, »allein gelassen«.

2013 wurde beispielsweise die Hand- und Fußamputation als Strafe für Diebe zum ersten Mal seit 2001 wieder durchgeführt. Im Juni und Juli 2012 verhafteten die berüchtigten NISS (National Intelligence and Security Services) bis zu 2.000 Menschen im Zusammenhang mit den erwähnten »Sudan Revolts« und hielt sie meist ohne Anklage unter extremen Bedingungen wochenlang gefangen, bis die Proteste zunächst abebbten. Die Repression zivilgesellschaftlicher Aktivist_innen, insbesondere von Nicht-Arabern mit Herkunft aus den Konfliktgebieten, ist weiterhin massiv. Die internationale Gemeinschaft nimmt diese zivilen, unbewaffneten Proteste – trotz der anzunehmenden Wachsamkeit durch den »Arabischen Frühling« und der Exponiertheit Bashirs durch den Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshof – bis heute kaum zur Kenntnis. Aktuelle Medienberichte, Bashir würde alle politischen Häftlinge freilassen, dürfen als vordergründiges Kalkül gewertet werden; bislang (4.4.2013) jedenfalls sind nur wenige Freilassungen zu verzeichnen.

Die internationale Ignoranz mag gepaart mit der Verzweiflung auch ausschlaggebend gewesen sein, dass Vertreter_innen von sozialen Bewegungen sich in Kampala, Uganda, mit bewaffneten Akteuren wie der SPLM/A-Nord und darfurischen, teils fundamentalistischen Rebellengruppen und Oppositionsparteien zusammen auf eine »New Dawn Charta« (Charta der neuen Morgendämmerung) geeinigt haben. Die Charta fordert den Sturz des Regimes von Bashirs Nationaler Kongresspartei7 – jeweils mit den Durchsetzungsmitteln der einzelnen Gruppen, also entweder durch den gewaltfreien oder eben den bewaffneten Kampf.

Eine tief greifende Versöhnung wird unter dem Regime der Bashir-Partei weder mit dem Südsudan noch mit der eigenen Bevölkerung zu machen sein. Es ist zu hoffen, dass ein Wandel auch ohne eine langfristige, gewaltsame Auseinandersetzung wie in Syrien möglich sein wird, hat doch die sudanesische Bevölkerung bereits zwei Mal, 1964 und 1985, Militärdiktaturen gewaltfrei gestürzt. Eine massive Militärintervention wie in Libyen ist aufgrund des geringen internationalen Interesses unwahrscheinlich, aber auch nicht wünschenswert. Die nächsten Anwärter auf Unabhängigkeit und eine neue Grenze warten ansonsten schon in Darfur.

Konfliktlöser oder Konfliktursache?

Der »Nationalstaat« ist ein Konstrukt, das in Afrika meist koloniales Relikt ist und insbesondere in multiethnischen Staaten mit teilweise nomadischer Lebensweise nur bedingt funktioniert, wenn nicht gar eine eigenständige Konfliktursache ist. Weder die lokalen und regionalen politischen Eliten noch die involvierten internationalen Akteure suchen aktuell jedoch aktiv nach dem Kontext angemesseneren systemischen Lösungen. Wenn Grenzen zum Schutz von Menschengruppen notwendig erscheinen, so wären m.E. konsequente rechtliche Grenzen in Form von Menschenrechten den physischen Grenzen vorzuziehen. Die neue Grenze zwischen Sudan und Südsudan ist durch die Entscheidung der Südsudanes_innen jedoch ein historischer Fakt, auf dessen Grundlage nun ein gerechter Friede innerhalb und zwischen den beiden Ländern gefunden werden muss. Nach einem möglichen politischen Wandel in der Republik Sudan könnte eine neue Situation geschaffen sein, die eine intensive und nachhaltige Versöhnungsarbeit und Aufarbeitung der Vergangenheit zwischen beiden Ländern ermöglicht.

Geschichte des Sudan und Südsudan

Seit ca. 8000 v.Chr. Nomadische und halb-nomadische Lebensformen, Siedlungen am Nil
800 v.Chr. –
400 n.Chr.
Nubisches Königreich Kusch, Nordsudan/Ägypten. Beginn des Sklavenhandels von Süd nach Nord, lebendig für Jahrtausende.
11.-18. Jhd. Nach einer kurzen Ära der Christianisierung langsame Verbreitung des und Koexistenz mit dem Islam im Nordsudan.
1821-1885 Türkisch-ägyptische Besatzung, hauptsächlich im Norden. Beginn der britischen Mission im Süden.
1899-1955 Anglo-ägyptische Kolonialherrschaft. Südsudan wird vernachlässigt und christlich missioniert.
1955 Beginn des ersten Bürgerkriegs »Anya Nya 1 + 2« im Südsudan gegen Khartum.
1.1.1956 Unabhängigkeit von der Kolonialmacht. Präsidentschaft von Al Azhari.
1958 Putsch von General Abboud.
1964 Gewaltfreie »Oktoberrevolution« führt zu demokratischen, aber instabilen Regierungen.
25.5. 1969 Putsch von Oberst Nimeiri. Zunächst sozialistische, später islamistische Ausrichtung und Allianz mit verschiedenen Seiten des »Kalten Krieges«.
1972 Addis-Ababa-Abkommen beendet den Bürgerkrieg zwischen Nord und Süd für zehn Jahre.
1978 Öl wird entdeckt in Bentiu, heutiger Südsudan. Größere Exporte seit 1999.
1983 Bürgerkrieg zwischen SPLA (Sudanese People’s Liberation Army) und Regierung in Khartum entzündet sich an Nimeiris Islamisierungspolitik. Im Krieg und damit verbundenen Hungersnöten sterben ca. zwei Millionen Menschen.
März-Mai 1985 Absetzung Nimeiris durch gewaltfreien Volksaufstand; freie Wahl von Saddig El Mahdi.
30.6.1989 Putsch von Oberst Al Bashir, der mit der NCP (National Congress Party) eine militärisch-religiöse Diktatur führt.
2003 Beginn des Darfur-Konfliktes um Machtbeteiligung/Autonomie, zwischen SLA (Sudanese Liberation Army) und JEM (Justice and Equality Movement) u.a. gegen die sudanesische Armee und Janjaweed-Milizen.
9.1.2005 Abschluss des »Umfassenden Friedensabkommens« zwischen der SPLM/A und der NCP-Regierung.
2005 Unruhen nach Tod von Vizepräsident John Garang (SPLM/A) bei Hubschrauberabsturz. Beginn der UN-Mission im Sudan (UNMIS) und 2007 von UNAMID (Mission der UN und der Afrikanischen Union in Darfur).
4.3.2009 Internationaler Strafgerichtshof erlässt Haftbefehl gegen Präsident Al Bashir u.a. wegen Kriegsverbrechen in Darfur.
April 2010 Allgemeine Wahlen: Nach Rückzug der meisten Oppositionskandidaten und Berichten von Unregelmäßigkeiten gewinnt Al Bashir mit über 68% der Stimmen. Im Süden erlangt die SPLM 93%.
9.1.2011 Die Südsudanes_innen wählen in dem im »Umfassenden Friedensabkommen« festgelegten Referendum zu über 98% die Unabhängigkeit.
30.1.2011 Parallel zum Beginn der ägyptischen Revolution organisieren sudanesische Jugendbewegungen eine erste Demonstration für einen Regimewechsel, für Menschenrechte und gegen Preissteigerungen.
Mai/Juni 2011 Gewaltsamer Konflikt bricht aus im ölreichen Abyei wegen ungeklärter Zugehörigkeit zu Nord oder Süd. Im Juni nimmt die SPLM/A-Nord den gewaltsamen Kampf in den Nuba-Bergen auf gegen die Abrüstung ihrer Kämpfer und weitere Marginalisierung. Hunderttausende fliehen in den kommenden Monaten vor der Bombardierung durch die Armee.
9.7.2011 Unabhängigkeit Südsudans. Viele Südsudanes_innen verlassen Nordsudan, auch im Kontext von verstärkter Diskriminierung.
Sept. 2011 SPLM/A-Nord und Regierungstruppen beginnen Kämpfe in Blue Nile State. Allmählich wird die ganze Grenzregion zum Südsudan Konfliktgebiet. Im November gründet SPLM/A-Nord mit JEM, SLA und anderen bewaffneten Gruppen die »Sudanesische Revolutionäre Front«. Im Dezember wird JEM-Führer Khalil mit internationaler Hilfe ermordet.
ab Dez. 2011 Eskalation des Öl- und Grenzkonflikts zwischen Nord- und Südsudan: Norden konfisziert Öl als Bezahlung für die Pipeline-Nutzung zum Roten Meer. Süden stellt Ölförderung ein. Kriegsdrohungen, Mobilisierung, Besetzung von Land und Ölfeldern von beiden Seiten folgen. Entgegen der Warnung vor einem Krieg durch 700 Offiziere seiner Armee und internationalen Warnungen an beide Seiten spricht Al Bashir am 20.4.2012 bei einer Rede von Krieg gegen den Südsudan.
Juni-August 2012 »Sudan Revolts«: Nachdem Student_innen der Khartum-Universität gegen Preissteigerungen in der Mensa protestieren, folgen in allen größeren Städten des Landes Demonstrationen, die durch massive Polizeigewalt, Massenverhaftungen und zuletzt in Darfur auch scharfe Munition eingedämmt werden. Teile der Bewegung müssen unter massivem Sicherheitsdruck das Land verlassen, dennoch gibt es weiterhin immer wieder Proteste und Aktionen.
September 2012 Sudan und Südsudan unterzeichnen in Addis Abeba Abkommen zu Sicherheit, Grenzfragen, Ölexport u.a., die am 12.3.2013 in der »Addis Implementation Matrix« konkretisiert werden.
26.3.2013 Die Vereinten Nationen bestätigen den Abzug der Truppen beider Staaten aus Abyei. Die Zugehörigkeit von Abyei bleibt ungeklärt.

Anmerkungen

1) Comprehensive Peace Agreement, CPA.

2) Sudanese People’s Liberation Movement/Army.

3) Siehe z.B. Rebecca Hamilton: Special Report: The wonks who sold Washington on South Sudan. Reuters, 11. Juli 2012.

4) Siehe z.B. Ian Black: »Israeli attack« on Sudanese arms factory offers glimpse of secret war. The Guardian, 25. Oktober 2012.

5) SPLA (Sudanese People’s Liberation Army) ist der militärische Flügel des Sudanese People’s Liberation Movement und heute die offizielle Armee des Südsudan. SPLM (Sudanese People’s Liberation Movement), der politische Flügel bzw. die Partei der Befreiungsbewegung, ist heute Regierungspartei des Südsudans. SPLM/A bezeichnet die beiden als Einheit (i.d.R vor dem Friedensabkommen). Die SPLM/A-Nord umfasst die Reste der SPLM bzw. der SPLA im Nordsudan, die auch nach der Teilung des Landes teilweise militärisch gegen die Regierung in Khartum weiterkämpft.

6) Siehe Girifna: A Photo Essay–Yida Camp: to be or not to be. 1. März 2013; girifna.com/8039.

7) National Congress Party, NCP.

Julia Kramer, Conflict Resolution M.A. der Universität Bradford, arbeitete von 2008 bis 2010 mit dem Zivilen Friedensdienst (ZFD) im Sudan. Sie ist Ko-Autorin der Bildungsbroschüre »Gesichter der Gewaltfreiheit im Sudan« (2012), erschienen bei »act for transformation gG«, und arbeitet aktuell als Projektberaterin der ZFD-Projekte von »KURVE Wustrow, Bildungs- und Begegnungsstätte für gewaltfreie Aktion«.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2013/2 Kriegsfolgen, Seite 18–22