Grenzen von ZIMIK in Afghanistan
von Robert Lindner
Immer wieder wurde in jüngerer Zeit in W&F-Artikeln auf die Probleme verwiesen, die sich aus der von der Bundesregierung gewünschten und geförderten zivil-militärischen Zusammenarbeit (ZIMIK), also der Kooperation von zivilgesellschaftlichen Hilfs- und Entwicklungsorganisationen mit dem Militär, ergeben. Robert Lindner beleuchtet dieses Thema gezielt im Kontext des Afghanistankriegs.
Im Oktober 2010 präsentierte das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) das Ergebnis einer repräsentativen dimap-Studie über die Einstellung der Deutschen zum Regierungsansatz der »vernetzten Sicherheit«.
Zum Hintergrund: Vor fast einem Jahr kündigte Entwicklungsminister Dirk Niebel öffentlich an, die Vergabe von Fördermitteln an private Hilfsorganisationen künftig von deren Bereitschaft abhängig zu machen, in Afghanistan mit der Bundeswehr zusammenzuarbeiten. Sein Ministerium setzte diese Ankündigung im Mai 2010 mit der Einrichtung einer »NRO-Fazilität Afghanistan« um, eines mit zehn Millionen Euro ausgestatteten Finanzierungsinstrumentes für private Entwicklungsorganisationen, die sich bei der Kooperation zum Konzept der »vernetzten Sicherheit« bekennen müssen. Der entwicklungspolitische Dachverband VENRO äußerte heftige Kritik an einer derartigen Konditionierung von Hilfsgeldern und protestierte gegen jeglichen Druck auf zivilgesellschaftliche Organisationen, ihre Arbeit in eine politisch-militärische Gesamtstrategie einzufügen. VENRO sieht durch die BMZ-Politik die grundlegenden Arbeitsprinzipien deutscher Nichtregierungsorganisationen (NRO) bedroht, nämlich Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und die ausschließliche Orientierung an den Bedürfnissen der Not leidenden Menschen.1
Hans-Jürgen Beerfeltz, Staatssekretär im BMZ, sah bei der Präsentation des Umfrageergebnisses den neuen Kurs seines Ministeriums bestätigt: „In der Diskussion um den von der Bundesregierung vertretenen Ansatz der vernetzten Sicherheit in Afghanistan sprechen sich der Umfrage zufolge 81 Prozent der Deutschen für eine Abstimmung zwischen Hilfsorganisationen und der Bundeswehr bei der Entwicklungsarbeit aus. […] Lediglich 14 Prozent der Befragten lehnen eine Abstimmung zwischen zivilen und militärischen Partnern in Ländern wie etwa Afghanistan ab. Dieses Votum zeigt deutlich, dass die in jüngster Zeit insbesondere von NRO vorgebrachte Kritik am vernetzten Ansatz der Bundesregierung im weit überwiegenden Teil der Bevölkerung keinen Rückhalt findet.“ 2
Hier sind dem Staatssekretär offensichtlich in der Hitze der in den vergangenen Monaten scharf geführten Auseinandersetzung zwischen seinem Ministerium und einem Teil der entwicklungspolitischen NRO-Szene die Begriffe und Maßstäbe durcheinander geraten: Viele Hilfsorganisationen verweigern nämlich mitnichten jegliche Interaktion mit militärischen Akteuren wie der Bundeswehr, etwa wenn es um logistische Abstimmung geht, die weder die Sicherheit des eigenen Personals noch die ihrer Zielgruppen gefährdet. Etwas in dieser Art werden wohl auch die 81 Prozent der Befragten bei ihrer zustimmenden Antwort im Sinn gehabt haben.
Eine Kooperation im Sinn der »vernetzten Sicherheit« geht jedoch weit über streng limitierten Informationsaustausch hinaus. Obwohl es bislang von Seiten der Bundesregierung keine umfassende und schlüssige Darlegung des Begriffes der »vernetzten Sicherheit« gibt,3 handelt es sich dabei offenbar um eine sicherheitspolitische Agenda, die durch ein „koordiniertes Vorgehen aller Beteiligten und die Integration aller Instrumente, der zivilen und der militärischen“,4 umgesetzt werden soll. Sicherheitspolitik ist aber für die große Mehrheit der deutschen entwicklungspolitischer NRO definitiv keine Leitlinie ihrer Arbeit.
Wäre in der Umfrage etwa gefragt worden, ob man die Unabhängigkeit der Hilfsorganisationen von militärischer Einflussnahme befürworten würde, hätte vermutlich eine ähnlich große Zahl von Bürgerinnen und Bürger mit »Ja« geantwortet.
Die beschriebenen Vorgänge deuten darauf hin, dass die Bundesregierung ihr Engagement in Afghanistan zunehmend unter sicherheitspolitische Maßgaben stellt, anstatt Priorität auf zivile Mittel zu legen und konsequent eine friedliche Entwicklung zu fördern. Wie die Vorgänge um die BMZ-Umfrage zeigen, sollen zudem nicht mehr nur die »Köpfe und Herzen« der Menschen in Afghanistan, sondern vor allem auch jener in Deutschland gewonnen werden.
Mit vereinten Kräften für Stabilität und Sicherheit?
Auch wenn die Bundesregierung für ihre Sicherheitspolitik speziell zu Afghanistan eine eigenständige Rolle beansprucht, ist ihr Konzept der »Vernetzten Sicherheit« doch nichts wesentlich anderes als eine etwas zahmere Ausprägung des innerhalb der NATO unter Führung der USA entwickelten »Comprehensive Approach« – eines Ansatzes, der derzeit in Afghanistan im Sinne einer militärisch geführten »Counterinsurgency«-Strategie („shape, clear, hold and build“), zu Deutsch »Aufstandsbekämpfung«, angewendet wird. Diese Strategie basiert auf der Annahme, dass asymmetrische Konflikte wie in Afghanistan nicht mehr alleine mit militärischen Mitteln zu gewinnen sind.
Dies mag zutreffend sein, wenn vorrangig mit Kategorien wie »Sieg« oder »Niederlage« operiert wird. Im Zeitalter der »neuen Kriege« handelt es sich jedoch oftmals um langwierige Konflikte mit sehr komplexen Ursachen, die sich von lokalen Streitigkeiten zu militärisch organisierten Aufstandsbewegungen und wieder zurück entwickeln können. Derartige Konflikte lassen sich in der Regel nur dann dauerhaft beenden, wenn ihre Ursachen beseitigt werden, nicht, indem lediglich eine kurzfristige Reduktion des Gewaltniveaus angestrebt wird. Allgemein gilt: Zivilen Probleme sollte mit zivilen Mitteln, Sicherheitsproblemen mit polizeilichen oder militärischen Mitteln begegnet werden. Besonders gefährlich wird es, wenn zivile Maßnahmen wie humanitäre Hilfe oder Entwicklungshilfe als taktische Mittel einer Sicherheitsstrategie begriffen und dementsprechend instrumentalisiert werden.
Die Bundesregierung setzt bei ihrer Begründung des »vernetzten Ansatzes« voraus, es gebe für Politik, Militär und Nichtregierungsorganisationen eine „gemeinsame Verantwortung für ein gemeinsames Ziel“.5 Verfechter dieses Ansatzes folgern daraus, zivile und militärische Akteure müssten an einem Strang ziehen. Worin soll aber diese angebliche Gemeinsamkeit bestehen? Aus dem Bundesverteidigungsministerium wurde dazu in der Vergangenheit erklärt, es gehe darum, „die Stabilisierung von Kriegs- und/ oder Krisengebieten zu verwirklichen“.6 »Stabilität« ist der Schlüsselbegriff einer sicherheitspolitischen Doktrin, wie sie dem Strategischen Konzept der NATO zugrunde liegt.
Unabhängige Hilfsorganisationen setzen sich jedoch andere Prioritäten, nämlich vor allem den Bedarf der Not leidenden Menschen. Stabilität kann für die Ausübung ihrer Arbeit förderlich sein, ist aber kein Selbstzweck – auch unter der Schreckensherrschaft der Taliban gab es eine gewisse Stabilität, dies aber um den Preis schlimmster Menschenrechtsverletzungen. Viele Hilfsorganisationen konnten übrigens auch unter diesen schlimmen Bedingungen zumindest eingeschränkt operieren, auch vorher schon, während des sowjetisch-afghanischen Kriegs und des darauf folgenden Bürgerkriegs.
Die Kontroverse um die zivil-militärische Kooperation ist keineswegs neu. Spätestens seit den Balkan-Einsätzen der 1990er Jahre gibt es in Deutschland eine intensive Debatte um »integrierte Missionen« unter dem Dach der Vereinten Nationen, bei denen parallel »robuste« (auf Grundlage von Kapitel VII der UN-Charta mandatierte) Kampfeinsätze, Not- und Entwicklungshilfe sowie Staatsaufbau durchgeführt werden. Im Unterschied zu den (gemäß Kapitel VI operierenden) Blauhelmen in Post-Konfliktsituationen sind Militärkräfte nach Kapitel VII keine neutralen Akteure, sondern selbst Konfliktparteien.
Innerhalb der entwicklungspolitischen Gemeinschaft gibt es seit Jahren einen Diskussions- und Klärungsprozess darüber, ob, wann und in welcher Weise NRO mit solchen robusten Militärkräften kooperieren sollen. In Bezug auf Afghanistan wird diese Diskussion vor allem um die von der NATO eingeführten Provincial Reconstruction Teams (PRTs, Regionale Wiederaufbauteams) geführt.7
Oberste Leitlinie der unter dem Dach von VENRO organisierten Hilfsorganisationen ist beim Umgang mit Konfliktparteien stets die Wahrung ihrer eigenen Unabhängigkeit und damit die Akzeptanz bei ihren Zielgruppen, also jenen Menschen, die sie mit ihrer Arbeit erreichen wollen. Unsere Erfahrung zeigt: Werden wir von diesen Menschen oder von Gewaltakteuren, die in ihrem Umfeld operieren, nicht mehr als unparteilich wahrgenommen, geraten häufig nicht nur unsere eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und unsere einheimischen Partner in große Gefahr, sondern auch die Empfänger unserer Hilfe, indem sie von militanten Kräften zu »Kollaborateuren« der Gegenseite und damit zu vermeintlich legitimen Angriffszielen erklärt werden.
Ausgehend vom »Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr 2006« sind Bundesregierung und Bundeswehr darum bemüht, zivilgesellschaftliche Akteure als Partner für vernetzte Sicherheitskonzepte zu gewinnen. Einzelne nichtstaatliche Hilfsorganisationen haben daraufhin eigene Grundsätze für die zivil-militärische Zusammenarbeit formuliert8 und sind in einen Dialog mit Politik und Militär eingetreten, um Möglichkeiten und Grenzen derartiger Interaktionen auszuloten. Zum Beispiel diskutierten im November 2008 bei einem Afghanistan-Symposium in Bad Boll Vertreter von Ministerien, Bundeswehr und Nichtregierungsorganisationen darüber, in welchen konkreten Situationen welche Art von Informationen ausgetauscht werden können. Auf dem Podium bestand am Ende weitgehende Einigkeit, dass dieses sensible Thema keine Polemisierung verträgt und von allen Beteiligten ein hohes Maß an Verantwortung bei der Erfüllung ihrer jeweiligen Aufgaben verlangt.9
Sicherheit in Afghanistan und die Arbeit unabhängiger Hilfsorganisationen
Trotz der Verstärkung der internationalen Streitkräfte von 90.000 im vergangenen Jahr auf aktuell rund 140.000 konnten die Aufständischen keineswegs zurückgedrängt und die Sicherheitslage beruhigt werden. Im Gegenteil: Die bewaffneten oppositionellen Gruppen haben mittlerweile mehr als die Hälfte des Landes unter Kontrolle oder üben dort starken Einfluss aus, und zwar nicht mehr nur im Süden und Osten, sondern zunehmend auch im Norden, im zentralen Bergland und im Westen. In einem Drittel des Landes hat die afghanische Regierung so gut wie nichts zu sagen. Entsprechend ist es den Taliban gelungen, in weiten Teilen Afghanistans faktisch Regierungsfunktionen auszuüben.
Die Sicherheitslage wird immer dramatischer. Leidtragend ist vor allem die Zivilbevölkerung. 2010 ist das Jahr, in dem seit Ausbruch der Kämpfe am meisten Zivilisten ums Leben gekommen sind oder verletzt wurden. UN-Schätzungen zufolge ist die Zahl der zivilen Todesopfer auf 2.412 angestiegen, was einer Steigerung um 20 Prozent gegenüber dem Jahr 2009 entsprechen würde.10
Im ersten Halbjahr 2010 haben im Vergleich mit dem Vorjahr die zivilen Opfer durch Angriffe von bewaffneten Oppositionsgruppen um 53 Prozent zugenommen. Dem gegenüber hat die Zahl der Opfer als Folge von alliierten Militäroperationen um 30 Prozent abgenommen.11 Hier scheint sich der Befehl von ISAF-Kommandeur Stanley McChrystal vom Juli letzten Jahres (2009) zur Reduzierung von Luftangriffen und anderen Kampftaktiken, die zu besonders vielen Opfern unter der Zivilbevölkerung führen und die Menschen verbittern (z.B. nächtliche Hausdurchsuchungen), positiv ausgewirkt zu haben. Allerdings hat Presseberichten zufolge die ISAF-Führung registriert, dass seit dem Beginn der zweiten Jahreshälfte (zumeist helikoptergestützte) Luftangriffe wieder signifikant zunehmen und dementsprechend die zivilen Opferzahlen ansteigen.12
Besonders gefährlich ist die Lage der Bevölkerung dort, wo groß angelegte Militäroperationen durchgeführt werden. Im Verlauf der im Sommer 2010 begonnenen alliierten Operation »Hamkari« in der Provinz Kandahar sind bereits zahlreiche Menschen bei den Kämpfen ums Leben gekommen, wurden verletzt oder mussten fliehen. So hat das Mirwais-Krankenhaus in Kandahar im vergangenen August und September doppelt so viele Menschen mit Schussverletzungen behandelt wie in den gleichen Monaten im Vorjahr. Außerdem haben in Afghanistan nicht nur in besonders umkämpften Gebieten Morde und Anschläge sowie entsprechende Drohungen gegen Stammesälteste, Dorfvorstände oder andere Personen zugenommen, die verdächtigt werden, mit alliierten Kräften oder Regierungsstellen zu kooperieren. Nach Angaben der Vereinten Nationen resultieren derzeit etwa 14 Prozent aller zivilen Todesopfer aus politisch motivierten Morden. Im Mai und Juni 2010 wurde dabei ein Spitzenwert von 18 pro Woche erreicht, so dass von einer regelrechten Rache- und Einschüchterungskampagne gesprochen werden kann. Der Bürgermeister von Kandahar-Stadt drückte die Lage seiner Mitbürger so aus: „Jeder hier ist ein Ziel.“
Die Sicherheitslage hat sich nicht nur im Süden, sondern auch im Norden des Landes verschärft. Zivile Todesopfer haben dort um 136 Prozent zugenommen.13 So operieren extremistische Gruppen mittlerweile auch in früher relativ sicheren Provinzen wie Takhar und Badakhshan.
Und auch Angehörige von Hilfsorganisationen geraten immer mehr ins Schussfeld. Im Vergleich zu 2009 sind in 2010 47 Prozent mehr NRO-Mitarbeiter ums Leben gekommen. Entführungen haben um 60 Prozent zugenommen, und zwar vor allem konzentriert auf den Norden.14 Oxfam verlor zum Beispiel Ende August 2010 bei einem Sprengstoffanschlag im Distrikt Shar-i-Buzurg im Westen der Provinz Badakhshan zwei afghanische Mitarbeiter, ein weiterer wurde verletzt. Die Deutsche Welthungerhilfe musste 2007 aus Sicherheitsgründen ihr Büro in Kundus schließen und zog sich 2009 auch aus der Nachbarprovinz Takhar zurück, nachdem dort ein afghanischer Mitarbeiter bei einem Sprengstoffanschlag ums Leben gekommen war. Acht Minenräumer, die einer Partnerorganisation der deutschen NRO medico international angehörten, kamen 2008 und 2009 bei Überfällen ums Leben; weitere 80 Mitarbeiter wurden entführt und kamen erst nach langwierigen Verhandlungen wieder frei. Die Kölner NRO medica mondiale musste Ende 2008 ihre Rechtsberatung von Frauen in Kandahar einstellen, weil ihre Arbeit zu gefährlich geworden ist.
Trotz dieser schlimmen Entwicklungen gibt es jedoch auch vorsichtig positive Zeichen. So wurden in letzter Zeit die meisten entführten NRO-Angehörigen später wieder freigelassen, und in einigen Landesteilen sind bewaffnete aufständische Gruppen zunehmend bereit, unabhängige Hilfsorganisationen unbehelligt arbeiten zu lassen.
Anders als vielfach angenommen, behandeln Taliban und andere aufständische Gruppen nichtstaatliche Hilfsorganisationen keineswegs pauschal als feindliche Kräfte. Es ist erkennbar, dass Militante in vielen Fällen sehr wohl differenzieren, ob NRO unabhängig arbeiten und ob sie entsprechende Distanz zu Konfliktparteien wahren oder nicht.
Dies gilt eingeschränkt auch für die Zivilbevölkerung, um deren »Hearts and Minds« von allen Seiten gerungen wird. Denn auch gut gemeinte Hilfsprojekte in Konfliktgebieten, die von Militärs selbst durchgeführt oder gefördert werden, stellen häufig eher eine Gefährdung als einen Nutzen für die Menschen dar. Eine gemeinsame Studie von CARE, dem afghanischen Bildungsministerium und der Weltbank ergab, dass die Mehrheit der befragten Afghanen ihre Kinder äußerst ungern in Schulen schicken, die von PRTs errichtet worden sind, da sie dort eine erhöhte Gefahr von Angriffen befürchten. Ein Gemeindevertreter in Daikundi sagte zu den Forschern: Wir sind sehr arm und benötigen dringend Entwicklungsprojekte, aber wir wissen, dass überall dort, wo die internationalen Truppen hingehen, ihnen die Taliban folgen.“ 15 UN-Vertreter sprechen gar von einer »Gegenstrategie« der Aufständischen, militärisch verantwortete Aufbauprojekte bevorzugt anzugreifen.
Zivile Hilfe, die im Zuge einer militärisch geprägten Strategie der Aufstandsbekämpfung eingesetzt wird, um den Rückhalt des Gegners in der Bevölkerung zu schwächen, ist aber nicht nur gefährlich, sondern in der Regel auch wenig effektiv. Forschern der Tufts-Universität in Boston zufolge gibt es zudem nur wenige Hinweise, dass militärisch dominierte Projekte für mehr Stabilität sorgen würden – im Gegenteil, dadurch würde häufig die Korruption befördert, die Legitimität afghanischer Regierungsinstitutionen beschädigt und auch die Glaubwürdigkeit der internationalen Akteure untergraben.16
Eine große Schwäche von militärisch geprägter Hilfe ist häufig die Konzentration auf das eigene Operationsgebiet und die Auslegung der Maßnahmen auf kurzfristige anstatt längerfristige Effekte. Meist handelt es sich um kleine Vorhaben, mit denen möglichst schnell die lokale Infrastruktur verbessert werden soll (Quick-Impact-Projekte). Die Bevölkerung soll dadurch vorgeführt bekommen, dass sie von der Anwesenheit der fremden Truppen profitiert. Damit soll die Sympathie der Bevölkerung gewonnen und indirekt die Sicherheit der eigenen Soldaten erhöht werden (Force Protection). Ob das betreffende Projekt im jeweiligen sozialen und ethnischen Kontext überhaupt tragfähig ist und ob es auch noch in mehreren Monaten oder Jahren funktioniert, wenn der Militäreinsatz vielleicht schon beendet ist, ist hingegen oft nachrangig.
Zwar gibt es Versuche, durch verstärkte Einbeziehung der Betroffenen in die entsprechenden Maßnahmen grundlegende Konzeptions- und Ausführungsmängel zu vermeiden (zum Beispiel im Rahmen des von der Bundesregierung geförderten »Provincial Development Fund«-Programms), aber aus entwicklungspolitischer Sicht wäre das Geld wesentlich besser in kontinuierliche Entwicklungsarbeit statt in sporadische und oft genug kurzlebige Kleinprojekte angelegt.
Selbst eine häufig zitierte Studie der Freien Universität Berlin, die im Auftrag des deutschen Entwicklungsministeriums über mehrere Jahre hinweg die Wirksamkeit zivil-militärischer Projekte in Nord-Afghanistan untersucht hat,17 sieht den Nutzen von Quick-Impact-Projekten kritisch. Diese seien zwar recht gut geeignet, um schnell Kontakt zur Bevölkerung zu gewinnen, aber relativ unwirksam, um das Ansehen der ausländischen Truppen zu erhöhen. Ausschlaggebend dafür sei vielmehr deren Fähigkeit, für Schutz und Sicherheit der Bevölkerung zu sorgen. „Mehr Hilfe vermindert nicht das Bedrohungsgefühl“, so die Autoren der Studie. Außerdem sei Entwicklungshilfe generell nur wenig geeignet, die Sicherheit (bzw. das Sicherheitsempfinden) der Zivilbevölkerung zu erhöhen. Im Gegenteil fühlten sich viele Befragte, die von Hilfsprojekten erreicht wurden, sogar stärker bedroht, da sie befürchteten, dass ihre Gemeinschaften dadurch vermehrt zum Angriffsziel von Aufständischen würden.
Grundlagen und Standards für die zivil-militärische Zusammenarbeit
Es gibt zahlreiche allgemein anerkannte Prinzipien und Richtlinien, die die Zusammenarbeit zwischen Hilfsorganisationen und militärischen Akteuren in der humanitären Hilfe regeln. Genannt seien hier zum Beispiel der Verhaltenskodex der Rot-Kreuz-/Rot-Halbmond-Bewegung, die Oslo Guidelines, der EU-Konsens zur humanitären Hilfe und das Sphere-Handbuch. Überall dort wird klar die Trennung von humanitärem und militärischem Mandat verlangt. Nur in streng definierten Ausnahmefällen dürfen militärische Akteure selbst Nothilfe leisten. Für Entwicklungszusammenarbeit, insbesondere von staatlicher Seite, gelten die humanitären Prinzipien nicht oder nur eingeschränkt. Da viele große Hilfsorganisationen aber sowohl in der Not- als auch in der Entwicklungshilfe engagiert sind, orientieren sie sich in der Praxis in allen ihren Tätigkeitsfeldern am Gebot der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit – wer humanitäre Hilfe leistet, kann seine dort praktizierten Grundsätze nicht bei der Entwicklungsarbeit aufgeben, ohne seine gesamte Glaubwürdigkeit zu verlieren.
Was Afghanistan betrifft, haben sich die Vereinten Nationen, NRO, NATO-geführte Truppen und die afghanische Regierungsarmee im August 2008 auf spezifische zivil-militärische Richtlinien für humanitäre und militärische Akteure verständigt.18 Darin sind die grundlegenden humanitären Prinzipien wiederholt und auf die konkrete Situation in Afghanistan angepasst. Zum Beispiel wird auf das Recht von Hilfsorganisationen verwiesen, keine Informationen an das Militär weiterzugeben, wenn diese für militärische Zwecke eingesetzt werden und das Leben von Zivilisten gefährden könnten (vgl. Kasten S.41).
Eine wichtige Errungenschaft der Richtlinien besteht zum Beispiel darin, dass die NATO-geführten Provincial Reconstruction Teams angewiesen wurden, keine humanitäre Hilfe zu leisten, außer sie werden von den zuständigen zivilen Behörden eigens dazu aufgefordert. Die Richtlinien beziehen sich ferner auf ein Dokument des PRT Executive Steering Committee von 2007, das ausdrücklich darauf hinweist, dass humanitäre Hilfe nicht für politische Zwecke, Kontaktpflege oder für »Hearts and Minds«-Zwecke eingesetzt werden darf. Schließlich haben die Richtlinien auch bewirkt, dass seit Mai 2009 NATO-Truppen keine weißen Fahrzeuge mehr benutzen dürfen, um von unabhängigen humanitären Akteuren unterschieden werden zu können. Leider bestehen noch immer erhebliche Umsetzungsdefizite, und es gibt keinen Überprüfungsmechanismus, so dass die Einführung der Richtlinien bestenfalls als halber Erfolg bezeichnet werden kann. Hier auf internationaler Ebene, z.B. innerhalb der NATO, für Abhilfe zu sorgen, wäre eine äußerst verdienstvolle Aufgabe für Bundesregierung und Bundeswehr.
Ausgewählte Empfehlungen für politische und militärische Akteure im Kontext der NATO
1. Schutz der Zivilbevölkerung
Bei Militäroperationen verstärkt auf die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten achten und nur verhältnismäßige Gewalt einsetzen (z.B. Reduzierung bzw. sorgfältigere Vorbereitung von Luftangriffen und nächtlichen Hausdurchsuchungen; keine Stationierung von Truppen nahe an Bevölkerungszentren).
Bei Militäroperationen sicherstellen, dass der Zugang von unabhängigen Hilfsorganisationen zur hilfsbedürftigen Bevölkerung nicht gefährdet wird.
2. Zivil-militärische Beziehungen
Klare Trennung von militärischem Einsatz und zivilem Aufbau; keine Instrumentalisierung von Projekten und Akteuren der Entwicklungshilfe.
Im Zuge des laufenden Übergabeprozesses der internationalen Gemeinschaft eine Strategie zur Beendigung der PRTs entwickeln; keine Weiterführung der PRTs unter neuer Trägerschaft, etwa der afghanischen Nationalarmee.
Konsequente Umsetzung der »Zivil-militärischen Richtlinien für Afghanistan« (Siehe Anm. 17 des Hauptartikels) und Weiterentwicklung des bestehenden Überprüfungsmechanismus.
3. Sicherheitssektorreform
Kein weiterer Aufbau von Dorfmilizen und anderen paramilitärischen Kräften wie z.B. im Rahmen des Afghan Public Protection Program (AP3) oder der Afghan Local Police (ALP); stattdessen mehr Anstrengungen zum Ausbau der regulären Sicherheitskräfte entsprechend internationaler Standards (Qualität statt Quantität).
4. Entschädigung von zivilen Opfern alliierter Militäroperationen
Einheitliche und umfassende Umsetzung der im Juni 2010 beschlossenen ISAF-Entschädigungsrichtlinien und Verbesserung des bestehenden Untersuchungsgremiums zu zivilen Opfern (Civilian casualty tracking cell).
Harmonisierung mit der Entschädigungspraxis der afghanischen Regierung.
5. Entwicklungshilfe
Parallel zur Beendigung der PRTs Ausbau der Kapazitäten von lokalen zivilen Einrichtungen und Organisationen, um selbstbestimmt Entwicklungsprojekte planen und durchführen zu können.
Anmerkungen
1) VENRO: Stellungnahme zur Ausschreibung des BMZ zur NRO-Fazilität Afghanistan im Rahmen des Titels »Förderung privater deutscher Träger«, 30.06.2010; www.venro.org/ fileadmin/redaktion/dokumente/Dokumente_ 2010/Home/Juli_2010/VENRO-Stellung nahmr_AFG-Fazilitaet_final.pdf.
2) Pressemitteilung des BMZ vom 20.10.2010: Umfrage: Was halten die Deutschen vom Ansatz der vernetzten Sicherheit und einer stärkeren Beteiligung deutscher Firmen an Entwicklungsprojekten?; www.bmz.de/de/presse/ aktuelleMeldungen/2010/oktober/20101020_umfrage/index.html.
3) Das »Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr 2006« widmet dem Begriff der »vernetzten Sicherheit« zwar einen eigenen Abschnitt, bleibt aber eine umfassende Definition schuldig. Ergänzende Erläuterungen dazu finden sich im Anhang der Ausschreibung des BMZ für die neue Fazilität, siehe bengo-Sonderausgabe Rundbrief – Mai 2010: NRO-Fazilität Afghanistan; www.bengo.de/fileadmin/user_upload/redaktion/Downloads/Rundbrief-Archiv/Vernetzte_Sicherheit-DefBMZ.pdf.
4) bengo-Sonderausgabe Rundbrief – Mai 2010. op.cit.
5) Ibid.
6) Generalmajor Bühler: Das Konzept der vernetzten Sicherheit aus der Perspektive des BMVg. Vortrag bei der Tagung »Gesicherte Entwicklung? Zunehmende Verschränkung von Sicherheits- und Entwicklungspolitik «, Bad Boll, 3.-4. November 2008; www.ev-akademie-boll.de/fileadmin/res/otg/670108-buehler.pdf.
7) VENRO: Fünf Jahre deutsche PRTs in Afghanistan. Eine Zwischenbilanz aus Sicht der deutschen Hilfsorganisationen. VENRO-Positionspapier 1/2009; www.venro.org/fileadmin/Publikationen/Afghanistan-Positionspapier_ PRT.pdf.
8) Deutsche Welthungerhilfe: Zusammenarbeit mit militärischen Kräften (englischsprachige Version). Standpunkt Nr. 1/2008; www.welthungerhilfe.de/fileadmin/media/pdf/Englische_Seite/Policy_paper_CIMIC_ neu2.pdf.
9) Evangelische Akademie Bad Boll: Gesicherte Entwicklung? Die zunehmende Verschränkung von Sicherheits- und Entwicklungspolitik als Herausforderung für die Praxis. Tagung am 3.-4. November 2008; Online-Dokumentation auf www.ev-akademie-boll.de/.
10) AFP-Meldung vom 2.1.2011; www.google. com/hostednews/afp/article/ALeqM5iJTNK gqA1cpHyk8KjYMaUWqQMSWw?docId=CNG.fcc9574b9436174206d9a85a1ded8062.531.
11) UNAMA Human Rights, Mid-Year Report 2010: Protection of Civilians in Armed Conflict. August 2010; http://unama.unmissions.org/Default.aspx?tabid=4529.
12) Los Angeles Times vom 1.11.2010: Afghan civilian deaths caused by allied forces rise; http://articles.latimes.com/2010/nov/01/world/la-fg-afghan-civilians-20101102. Der Bericht bezieht sich auf einen internen ISAF-Bericht über den Zeitraum 2008-2009.
13) UNAMA Human Rights, Mid-Year Report 2010. op.cit.
14) The Afghanistan NGO Safety Office (ANSO): ANSO Quarterly Data Report, Q3. October 2010; www.afgnso.org/index_files/Page595.htm.
15) Action Aid, Afghanaid, CARE, Oxfam und andere: Quick Impact, Quick Collapse – The Dangers of Militarized Aid in Afghanistan; www.oxfam.de/publikationen/quick-impact-quick-collapse.
16) Andrew Wilder und Stuart Gordon: Money can’t buy America Love. Foreign Policy, December 1 2009; www.foreignpolicy.com/ articles/2009/12/01/money_cant_buy_ america_love.
17) Federal Ministry for Economic Cooperation and Development (BMZ): Assessing the Impact of Development Cooperation in North East Afghanistan 2005 – 2009. Final Report. Die Studie wurde von Christoph Zürcher, Jan Böhnke und Jan Koehler vom Sonderforschungsbereich 700 der Freien Universität Berlin durchgeführt; www.bmz.de/en/ publications/type_of_publication/evaluation/evaluation_reports_since_2006/BMZ_Eval049e_web.pdf.
18) Guidelines for the Interaction and Coordination of Humanitarian Actors and Military Actors in Afghanistan (2008); PDF-Datei unter http://ochaonline.un.org/OchaLinkClick.aspx? link=ocha&docId=1112406.
Robert Lindner ist Mitarbeiter der Entwicklungsorganisation Oxfam Deutschland und arbeitet dort als Politikberater für Humanitäre Hilfe und Rüstungskontrolle. Dieser Beitrag wurde für das Akteurs-Symposium »Zivile und militärische Akteure in Afghanistan – getrennt im Einsatz für ein gemeinsames Ziel?« im CIMIC-Zentrum in Nienburg im November 2010 geschrieben.