W&F 2008/3

Hallo Brüssel – Hört ihr uns?

von Michael Youlton

Das Nein-Lager hat einen umfassenden Sieg im Referendum über den Lissabonvertrag errungen. 53,4 Prozent Nein-Stimmen standen 46,6 Prozent Ja-Stimmen entgegen. Die Wahlbeteiligung war mit 53,1 Prozent doppelt so hoch wie beim Referendum zum Vertrag von Nizza. In 33 der 43 Wahlbezirke errang das Nein eine Mehrheit; zudem war das Nein - mit bis zu 65 Prozent - am stärksten in den Arbeitervierteln. Der Sieg des Nein-Lagers wurde überwiegend errungen von einer Reihe kleiner linker Organisationen, einigen Gewerkschaften und Sinn Fein - gegen das gesamte irische politische Establishment (die vier großen Parteien, Fianna Fail, Fine Gail, Labour und die Grünen), gegen alle Arbeitgeberorganisationen, die Führung der Katholischen Kirche, die mächtige »Allianz für Europa« und gegen 90 Prozent der Medien.

Es gab drei Hauptgründe warum das Nein-Lager gewonnen hat:

die völlige Missachtung des Ja-Lagers sowohl gegenüber der Opposition als auch gegenüber der Bevölkerung im allgemeinen, indem sie sich weigerten den Vertrag an die Haushalte zu verteilen und seine Inhalte zu diskutieren. Statt dessen stützte man sich auf ideologische Ausflüchte („Europa war gut zu uns - jetzt ist es an uns, gut zu Europa zu sein“, „Lasst uns im Herzen Europas sein“),

die Stärke der drei Hauptargumente, die von der Nein Kampagne vorgebracht wurden: Die Drohung einer fortschreitenden Militarisierung, während die Iren den Wunsch haben, ihre Neutralität zu erhalten; die Furcht vor unverfälschtem Wettbewerb und Marktwirtschaft bei den öffentlichen Dienstleistungen, besonders im Gesundheits- und Bildungssektor; die befürchtete Gefährdung von Arbeitnehmerrechten in Folge der jüngsten Urteile vor dem Europäischen Gerichtshof (Viking - Laval - Rüffert.),

die generelle Wirkung der weiteren vorgebrachten Argumente, vor allem das Demokratiedefizit, der Verlust eines Kommissars sowie die Verringerung des ohnehin kleinen Stimmengewichts Irlands im Rat und Parlament.

Der linke bzw. progressive Teil der Nein Kampagne hatte seit November 2007 unablässig gearbeitet, 15 Gruppierungen haben sich zu einer Dachorganisation (Campaign Against the EU Constitution/CAEUC) zusammengeschlossen. Einige der Mitgliedsorganisationen führten eigene Aktivitäten durch, doch gab es gleichzeitig einen starken inneren Zusammenhalt, sowohl über die Website der Kampagne [www.sayno.ie] als auch über gemeinsame Papiere, Versammlungen im ganzen Land, Presseerklärungen und weitere Öffentlichkeitsarbeit. Meine persönliche Einschätzung, als Mit-Koordinator der landesweiten Kampagne, war, dass die Zusammenarbeit so außergewöhnlich gut funktionierte, dass sie nun die Grundlage bildet für weitere programmatische und politische Kooperation zwischen den meisten, wenn nicht allen, Beteiligten.

Während ich diese Zeilen schreibe, gerade einmal 48 Stunden nach unserem Sieg, sind wir bereits mit einem politischen Szenario konfrontiert, das sich auf zwei parallelen und potentiell widerstreitenden Ebenen bewegt. Einerseits sind wir voller Enthusiasmus, feiern - so selten in Irland - den Sieg der Bevölkerung und eine Welle der Unterstützung und Gratulationen aus ganz Europa erreicht uns, besonders aus Frankreich, Deutschland, Österreich und Griechenland.

Auf der anderen Seite ist Angst, Bedrücktheit und Unverständnis bei den politischen Eliten festzustellen gegenüber dem, was tatsächlich geschehen ist. Im Inland geben sich die politischen Parteien gegenseitig die Schuld, nicht genügend getan zu haben, während die Pro-„Ja“-Medien spotten, dass sie das außerordentliche Kunststück geschafft hätten, das Ja alles andere als positiv erscheinen zu lassen.

In Europa ist die Stimmung im Krisenmodus. Brüssel, Paris und London sind schockiert und die Londoner Financial Times titelt: „Die Abstimmung in Irland versetzt der Moral der EU einen großen Schlag.“

Es ist viel zu früh, um zu spekulieren, welche Medizin die Eurokraten verschreiben werden, um ihre Schmerzen zu lindern, welche Machenschaften und Szenarien sie entwickeln werden. Wir werden jedoch mit einigem rechnen können, während wir selbst uns zusammensetzen, um die nächsten Schritte zu diskutieren.

Unsere politischen Traditionen in Irland kommen aus der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, dem Republikanismus der amerikanischen Revolution gegen die Briten, unserem Republikanismus aus den antikolonialen Kämpfen der letzten 150 Jahre sowie dem internationalistischen Sozialismus von Larkin und Connolly und Constance Markievicz.

Wir sind überzeugt, dass Demokratie zu den besten Ideen und Wirklichkeiten gehört, die in Europa entwickelt wurden, und wir bitten Brüssel, das zu respektieren. Frankreich wählte NON, die Niederlande wählten NEE und nun wählten wir NO! Respektiert den demokratischen Geist der Menschen. Beginnt damit Europa zu definieren, unser Europa, nicht einfach als Paradies für multinationale Unternehmen, und denkt stattdessen an Arbeitnehmerrechte, die Umwelt und eine Ende der militärischen Aggression. Denkt nach über die Botschaft, die dieser demokratische Prozess vor eure Schwelle gebracht hat.

Wir wünschen uns ein demokratisches, demilitarisiertes und soziales Europa. Wir warten ungeduldig auf eine Antwort.

Michael Youlton - Nationaler Koordinator der Nein Kampagne (CAEUC)
[Übersetzung Claudia Haydt]

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2008/3 Religion als Konfliktfaktor, Seite