W&F 2008/4

„Hat denn diese Rasse – habt Ihr endlich Angst?“

Antisemitismus in Ungarn

von Magdalena Marsovszky

Gelegentlich finden sich in den deutschen Medien Berichte über gewalttätige Demonstrationen oder das Auftreten paramilitärischer Verbände in Ungarn; zwar ist auch vom Antisemitismus die Rede, doch die Dimension und gesellschaftliche Verbreitung entsprechender Denkfiguren bleibt unbeachtet.

Mein „letzter Rat an die liberal-bolschewik Zionisten, die unser Land ausraubten ist, sich damit zu beschäftigen, wohin sie fliehen und wo sie sich verstecken! Denn, es gibt keine Gnade!“ – diese Worte waren am 20. September auf der Großdemonstration gegen den „Magyarenhass“ zu hören.1

Während das Problem und der Ernst der Lage in Europa noch immer nicht zu Bewusstsein gelangten, haben in Ungarn viele Menschen Angst davor, dass so etwas passieren wird, was dem – durchaus umstrittenen – Phänomen der ethnischen Säuberung nahe kommt, wenn also Menschen oder Menschengruppen aufgrund ihres vermeintlich kulturellen oder sexuellen Andersseins (Kosmopolitismus, Homosexualität) oder vermeintlich »rassischer« Merkmale (dunkle Hautfarbe) verfolgt, vertrieben oder ermordet werden.

Doch wer sind die Zielgruppen, die am meisten bedroht werden? Und von wem geht die Gewalt aus? Das sind die wichtigsten Fragen, auf die man seit vielen Jahren die Antwort sucht, aber man tappt im Grunde noch immer im Dunkeln herum. Unter denen, von denen Gewalt ausgeht, wird zumeist – und zu Recht – die im August 2007 gegründete, paramilitärische Ungarische Garde erwähnt.2 Und unter denen, die vor allem bedroht werden, werden – zurecht – die »jüdischen Minderheiten«, die Roma und die Homosexuellen genannt. So richtig diese Feststellungen sind, so wenig tragen sie zur Erklärung der gesamten Komplexität der Situation und der Stimmung in Ungarn bei, weil sie sowohl auf der Täter- als auch auf der Opfer-Seite mit Minderheiten operieren und die Begriffe zu eng interpretieren. So aber wird die Frage als ein marginales Problem an den Rand der Gesellschaft verlagert.

Dementsprechend wird in Ungarn der Antisemitismus vielfach »Judenfrage« genannt, und das heißt auch konsequenterweise, dass man in den meisten Fällen davon ausgeht, dass es eine wie auch immer geartete Ursache am Antisemitismus durch reale Juden gibt.

Mit zu eng interpretierten Begrifflichkeiten versteht man den heutigen Kulturkampf in Ungarn nicht. Man versteht nicht, wieso es sein kann, dass linksliberale Politiker und Journalisten als „dreckige Juden“ beschimpft und tätlichen Angriffen ausgesetzt werden, ohne dass man weiß, ob sie eine jüdische Identität haben oder nicht. Man versteht auch nicht, wieso eine Institution, wie das Ungarische Fernsehen – wie im Herbst 2006 – als „jüdisch“ beschimpft und dessen Gebäude in Brand gesetzt wurde, so dass die Sendung unterbrochen werden musste und die MitarbeiterInnen nur durch einen Hintereingang der Lynche entgehen konnten.3 Man versteht auch nicht, wieso nur bestimmte Medien immer wieder angegriffen werden, und wieso andere nicht.

Rassialisierung

„Bis jetzt dachte ich eigentlich, dass Juden weiß seien“ – wunderte sich kürzlich ein liberaler Journalist anlässlich der Publikation »Weisse Rasse«, eines rechtradikalen Internetportals, in dem »Juden« den »Schwarzen« zugeordnet wurden. Seine Verwunderung zeigt deutlich, wie groß die Verwirrung in Ungarn im Zusammenhang mit Antisemitismus und Rassismus ist und wie wenig die Tatsache im alltäglichen Denken eingebettet ist, dass in diesem Fall »Weißsein« keine Hautfarbe meint, sondern eine Konstruktion ist, in der also »Blackness« deshalb erfunden wird, um eine herrschende »Whiteness« zu konstruieren. Die Erkenntnis, dass der Antisemitismus und der Rassismus nichts mit dem Benehmen oder dem Aussehen des Objektes rassisierender Diskriminierung zu tun haben, sondern hegemoniale Strukturen und Institutionalisierungen rassisierende Diskriminierung produzierende Personen hervorbringen, fehlt beinahe vollständig. Dass Minderheitenfragen Mehrheitsfragen sind, wird also nicht gesehen. So werden zwar die Objekte der Diskriminierungen in unzähligen »antifaschistischen« Initiativen, Deklarationen und Unterschriftensammlungen gegen das »Vorurteil« in Schutz genommen, und es wird um »Toleranz« gegenüber dem »Anderen« geworben, an den hegemonialen Strukturen und Institutionalisierungen wird jedoch nicht gerüttelt.

Bei der Untersuchung des Antisemitismus muss zunächst festgestellt werden, dass er – wie es auch allgemein üblich ist – nicht die alleinige Tendenz zur rassisierenden Diskriminierung im Land darstellt. Zum Antisemitismus gesellen sich in Ungarn vor allem der Antiziganismus und die Homophobie. Keine der drei Feindbilderkonstruktionen hat jedoch etwas mit dem So-Sein von realen Juden, Roma, Schwulen oder Lesben zu tun; Antisemitismus, Antiziganismus und Homophobie unterscheiden sich voneinander lediglich darin, welche speziellen Konstruktionen von Feindbildern die hegemonialen Strukturen und Institutionalisierungen hervorbringen. Es ist dennoch wichtig festzustellen, wie die Feindbilder des Antisemitismus aussehen, um nachgehen zu können, welche Personen oder Institutionen konkreten Angriffen ausgesetzt werden können.

Die antisemitische Konstruktion

Wie äußert sich der Antisemitismus in Ungarn? Der Antisemitismus ist in Ungarn nicht im engeren Sinne als Judenhass zu verstehen, zumal es keinen einzigen realen Juden gibt, auf den die Menge antisemitischer Stereotype passen würde, sondern als eine Abneigung gegen symbolische »Juden«, gegen »Fremde an sich«. Er zielt eher gegen Politiker und Medienmenschen (und hier vor allem gegen sozialistische und liberale), die man nicht mag, als gegen reale Juden. Als Weltanschauung4 ist er mit der Abneigung gegen alle diejenigen, die »Anderen« verbunden, denen man vorwirft, keine »echten« Zugehörige der völkisch gedachten Nation zu sein. Er richtet sich also gegen all diejenigen, die im Gegensatz zum Mythos vom »magyarischen Vaterland« und der »durch das eigene Blut getränkten Heimaterde« (nach dem Blut- und Bodenmythos) den Kosmopolitismus, die Urbanität und die Intellektualität verkörpern. »Fremde« können so z.B. neben Minderheiten auch demokratische Einrichtungen, die demokratisch gewählte Regierung, ja selbst die Europäische Union sein.

Antisemitismus erscheint immer dort, wo sich soziale Gruppen, die sich – zu Recht oder zu Unrecht – verunsichert fühlen, vom Ideal einer starken, völkisch-homogenen Nation Sicherheit und Fortschritt versprechen und wenn ihnen die Nation einen inneren Halt bietet und eine pseudo-religiöse Funktion erfüllt. Völkisches Denken und Antisemitismus sind also in Ungarn zwei Seiten der gleichen Medaille. Dieses Denken ist organisch, anthropologisch, völkisch-national-sozial, damit auch EU-feindlich, weiterhin ethnisch, biologistisch und extrem antikommunistisch, bzw. antibolschewistisch. Zum völkischen Denken kommt die lange Tradition des religiös motivierten antijudaistischen Denkens, die des Antizionismus bzw. der „Antisemitismus von Links“ 5, der vor allem für die ehemaligen sozialistischen Länder charakteristisch und »antikapitalistisch« ist und sich oft gegen die westlichen »Multis« richtet. Typisch ist weiterhin der so genannte sekundäre Antisemitismus, der aufgrund der Umkehr der Täter-Opfer-Relation durch die Schuldabwehr motiviert wird.

Diese vier Erscheinungsformen des in Ungarn vorherrschenden Antisemitismus sind identisch mit denen, die Wolfgang Benz als Erscheinungsformen des Antisemitismus überhaupt aufzählt. Diese sind: (1) der religiös motivierte christliche Antijudaismus, (2) der pseudowissenschaftlich, anthropologisch und biologistisch argumentierende rassistische Antisemitismus, der im 19. Jahrhundert entstand und im Holocaust seinen Endpunkt fand, (3) der sekundäre, Post-Holocaust Antisemitismus, der in der Schuldabwehr bzw. in der Umkehr der Täter-Opfer-Relation seine Motivation findet und (4) der antizionistische Antisemitismus, der sich während des Realsozialismus entwickelte6.

In Ungarn sind also alle vier Formen des Antisemitismus virulent, ja sie potenzieren sich gegenseitig, was wohl mit eine Ursache dafür sein mag, dass der Hass bereits jetzt immer wieder in Gewalt umschlägt und manche Sozialwissenschaftler oder Bürgerrechtler von zu erwartenden Pogromen oder Lynchen sprechen.

Die antisemitische Rede

Ein Beispiel für die gegenseitige Potenzierung des christlichen Antijudaismus, des pseudowissenschaftlich, anthropologisch und biologistisch argumentierenden rassistischen Antisemitismus sowie des antizionistischen Antisemitismus sind die Reden, die vor der reformierten Kirche »Heimkehr« am Szabadság Platz (Freiheitsplatz) in Budapest am 23. Oktober 2007, anlässlich des Nationalfeiertages zur Erinnerung an die Revolution 1956 gehalten wurden.

Ein junger Schauspieler mobilisierte die aus mehreren Tausend Personen bestehende Menge folgendermaßen: „Das Land gehört demjenigen, der es bevölkert. Das ist ein göttliches Gesetz. Wir müssen das Karpatenbecken bevölkern! Wir dürfen nicht zulassen, dass hergelaufene Fremde das Land sich zu ihrem Eigentum machen! Die linke Ideologie ist eine Ausgeburt des Judentums. Die jüdische Psyche war noch nie schöpferisch, sondern hat sich immer fremdes Gedankengut angeeignet. Die linke internationale Ideologie ist das wichtigste geistige Mittel im furchtbaren Imperialismus und im natürlichen und organischen Nationalismus des Judentums. Diese Psyche, die über 5 Tausend Jahre durch Aberglauben und Rassenwahn geprägt worden ist, ist in ihrer wahnhaften Vorstellung vom Auserwähltsein der 2 Tausend Jahre alten europäischen Kultur und dem Humanismus fremd, verdächtigend und feindlich gesonnen.“ 7 Der Rede des Schauspielers folgte unmittelbar ein ebenfalls mobilisierender Aufruf des Pfarrers der Kirche, Loránt Hegedüs jun.: „Im Sinne von unserem feurigen Dichter, Petöfi rufe ich Simon Peres und all denjenigen zu, die sich unser Land nehmen wollen: Nehmt Ihr Euch Eure Hurenmutter und nicht unsere Heimat! Amen!“.8

Wie bei allen Demonstrationen der letzten Jahre, so skandierte die Menge schließlich: „Gyurcsány, hau ab!“. Die Zitate und die Reaktion der Menschenmenge zeigen deutlich den Zusammenhang zwischen dem antijudaistischen und antiisraelischen Denken, das sich automatisch gegen die gegenwärtige und demokratisch gewählte Regierung, bestehend aus Sozialisten und Liberalen, richtet9 sowie gegen den Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány10. Der Sozialdemokrat Gyurcsány ist derzeit das Feindbild Nummer eins, man könnte ihn auch den »Juden vom Dienst« nennen. So wird er auf rechtsradikalen Internetseiten immer wieder als Jude dargestellt11. Oft wird er – über den Umweg des Antizionismus, in dem Israel für den „Holocaust an den Palästinensern“ verantwortlich gemacht wird12 – mit Hitler identifiziert.13

Im heutigen Antisemitismus in Ungarn wird der Bösewicht neben den nationalen Minderheiten im Kollektivbild des »Juden« gesehen, das durch die Hauptfeinde (»jüdischer«) Liberalismus, (»jüdisch«-) bolschewistischer Kommunismus, (»jüdischer«) Kapitalismus und (»jüdische«) Sozialdemokratie verkörpert wird. Personen oder Institutionen, die diesen antisemitischen Stereotypen entsprechen, müssen in Ungarn heute ganz konkret als Projektionsflächen für die Probleme und Ängste der Gesellschaft herhalten. Das sind neben Ferenc Gyurcsány andere sozialliberale Politiker, liberale Intellektuelle, linksliberale Journalisten und linksliberale Medien. Sie sind besonders gefährdet und werden auch immer wieder als Juden beschimpft, bespuckt und manchmal tätlich angegriffen.14 Dass dabei bisher niemand zu Tode gekommen ist, ist eher ein Zufall.

Organisierter Antisemitismus

Der bereits erwähnte Pfarrer Lóránt Hegedüs ist zusammen mit seiner Familie (seinem Vater, dem Bischof Lóránt Hegedüs sen., seiner Schwester, der Sängerin und seiner Frau, der Kommunalabgeordneten von Budakeszi bei Budapest) und seiner Pfarrei Teil einer völkischen »missionarischen« Massenbewegung, die sich in den letzten zwanzig Jahren schleichend von der Subkultur zu einer massiven Gegenkultur entwickelte. Heute gehören inzwischen unzählige NGOs, Wehrgarden und Wehrvereine dazu, die das Magyarentum vor den „Fremden im eigenen Land“, den „Kosmopoliten“, den „Landesverrätern“, den „Globalisierern“ usw. retten wollen. Sie werden immer militanter, und es kommen beinahe täglich neue Vereine oder Wehrgarden hinzu15, die weder physische Kraft noch finanzielle Mittel scheuen, um die völkische Bewegung am Leben zu erhalten und den völkischen Kampf zu Ende zu führen. Sie werden von einem großen Teil der Intelligenz unterstützt: Schriftsteller, Hochschuldozenten, Lehrer, Ärzte, Vertreter der christlichen Kirchen usw. gehören dazu, die ihre Arbeit an der „Rettung des Magyarentums“ als eine Art göttliche Mission begreifen.

Als Leiter der Pfarrei »Heimkehr« in der Innenstadt von Budapest bekleidet auch Hegedüs ein hohes Amt. Er war zwischen 1998 und 2002 als Abgeordneter der rechtsradikalen Partei MIÉP (Partei für Ungarische Gerechtigkeit und Leben) im Parlament tätig, steht inzwischen der rechtsradikalen Partei Jobbik (Partei für ein Richtigeres/ Rechteres/ Besseres Ungarn16) nahe und lässt die Veranstaltungen und Gottesdienste der Pfarrei, eine Zentrale der rechtsradikalen Bewegung, durch die von der Jobbik gegründeten Ungarische Garde17 „begleiten“ 18. 2007 lud er den englischen Holocaustleugner David Irving zu einem Vortrag ein und im gleichen Jahr gründete er den »Hamasz« (Hazafias Magyarok Szövetsége [Verband Patriotischer Magyaren]), der in seiner Gründungsurkunde vor dem „feindlich gesinnten Aufkauf Ungarns durch Israel“ warnt, die Bestrafung linksliberaler Politiker, die den Aufkauf ermöglichen sowie linksliberaler Journalisten, die den Aufkauf verschweigen, fordert und in seinem Fahnenlied zur „Vollendung des Kampfes“ aufruft. Denn, wie es in der Gründungsrede der Sängerin von nationalen Popsongs und Vizepräsidentin von Hamasz, Barbara Sárdy heißt, man müsse endlich aussprechen: „Heute betreibt die Regierung Ungarns einen Völkermord [an den Magyaren – M.M.]. Dieser Völkermord wird vom internationalen Großkapital, d.h. bekanntlich vor allem vom jüdischen Großkapital, gesponsert“. Pfarrer Hegedüs jun., der den Ministerpräsidenten einen „Soziopath und magyarenfeindlichen Milliardär“ nennt, begründet „im Namen Gottes“ die Notwendigkeit der Hamasz-Gründung: „Wir dürfen nicht warten, meine Lieben Brüder! /…/ Ungarn hat eine politische Elite, die seit 1919 genetisch und blutmäßig die heutige ungarische Gegenwart bestimmt. Die kommunistische Gesinnung beherrscht uns! Wir wollen diesen Geist samt dessen Wurzeln /…/ ausreißen. Den Bolschewismus kann man nicht heilen, den kann man nur zum Aussterben bringen!“.19

Die Namensgebung »Hamasz« ist dabei selbstverständlich nicht zufällig, zeigt sie doch eine immer größer werdende »Solidarität« mit den Palästinensern. Zeitgleich wurden weitere Vereine mit Namen wie Al kaida, Fatah und Dschihad gegründet, was die immer größer werdende Nähe der ungarischen Rechten zu den islamistischen Antisemiten bestätigt.

Mediales Echo

Die Äußerungen von Hegedüs und seinem Umkreis werden durch den weit definierten Paragraphen zur freien Meinungsäußerung in Ungarn gedeckt. Im Laufe der letzten 10 Jahre wurde er öfters angezeigt, jedoch vom zuständigen Budapester Gericht freigesprochen, weil es in seinen Reden keine Hetze hat entdecken können. So war es z.B. 2001, nachdem er in einer Kommunalzeitung über die „Hergelaufenen aus Galizien“ schrieb, die ausgegrenzt werden müssen, bevor sie ausgrenzen20. Und so war es auch 2008, nachdem durch die Vermittlung seiner Frau, der erwähnten Kommunalabgeordneten Enikö Kovács, im Juli in einem Kellertheater von Budapest der in Deutschland verbotene Film »Jud Süss« mehrmals mit großem Erfolg aufgeführt wurde. Auch in diesem Fall konnte das zuständige Budapester Gericht keine Hetze entdecken21.

Typisch für den rassistischen Antisemitismus in Ungarn ist die Tatsache, dass man vom »Magyarentum« nicht mehr nur als eine ethnische Gemeinschaft spricht, sondern offen als »Rasse«. Dies wird sogar in einem Echo-TV, das der größten, zur Zeit oppositionellen Partei, der Fidesz-Bürgerlichen Union, nahe steht, regelmäßig kommuniziert. Dessen Eigentümer, der Medienmagnat, Forintmilliardär und ehrenamtliche Präsident der Ungarischen Arbeitgeber- und Industriellenvereinigung (MGYOSZ), Gábor Széles, wird für eine künftige, von Fidesz geleitete Regierung als Wirtschaftsminister gehandelt. Széles, dem auch die Tageszeitung »Magyar Hirlap« gehört, steckte bereits dreieinhalb Milliarden in sein Medienprojekt und ist zu weiteren Investitionen bereit, um die »nationale Seite« zu stärken. Im EchoTV sitzt der bekannte Journalist Zsolt Bayer, ein guter Freund des Oppositionsführers Viktor Orbán und Gründungsmitglied von Fidesz-Bürgerliche Union (heute ohne Parteibuch), der eine Sendereihe mit dem Titel »Mélymagyar« produziert. Der Ausdruck aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen heißt so viel wie „Wurzelecht“ oder „Rassenrein“. Eine andere Sendereihe des »patriotischen« Starjournalisten Sándor Pörzse, der eine Art Sprecher, aber auf jeden Fall Fürsprecher der Ungarischen Garde ist, produziert ebenfalls im Echo TV die Sendung, die regelmäßig mit folgendem, eingeblendetem Zitat endet: „Wie sehr auch in unseren heiligen Saaten fremde Rassen /…/ wühlen, /…/ mich durchdringt ein Gefühl: Ich bin ein Magyare, bete meine Rasse an und werde mich nicht ändern, eher sterbe ich!“.22

Zusammen mit den anderen so genannten »nationalen Medien«, dem Fidesz nahen HirTV (Nachrichten TV), das auch die Ungarische Garde hochleben lässt23, und der Tageszeitung Magyar Nemzet, ebenfalls militantes Sprachrohr der Partei von Fidesz-MPSZ24 und ebenfalls völkisch, sind sie gerade dabei, sich zu den Größen des »nationalen Widerstandes« zu entwickeln.

Nationales Opfernarrativ

Was diese Medien mit der gesamten so genannten bürgerlichen Seite der politischen Palette Ungarns, die parlamentarischen Parteien Fidesz-MPSZ (Fidesz-Bürgerliche Union) und KDNP (Christlich Demokratische Volkspartei) inbegriffen, gemeinsam haben, ist das ungarische nationale Opfernarrativ. Der nationale Opfermythos ist ein wichtiger Baustein des in Ungarn vorherrschenden ethnisch-völkischen Denkens und hängt stark mit dem Phänomen zusammen, das man »Kulturpessimismus« nennt. Beide sind aber wichtige Bestandteile von Strukturen, die den Antisemitismus fördern.25 In beiden erleben wir eine letztendlich antisemitisch implementierte Identifizierung mit der magyarischen Nation (Nation ist hier im völkisch-ethnischen Sinne eine Abstammungsgemeinschaft). Der Kulturpessimismus entspringt dem Gefühl der Angst um den Verlust altüberkommener Traditionen und Glaubens und um den traditioneller sozialer Bindungen durch Modernisierung und Reformen sowie aus einer psychisch determinierten Wahrnehmung, nämlich einer vermeintlichen peripheren Lage.26 Man fürchtet den Verlust »nationaler Einheit« und letztendlich den »Tod der Nation«. Man sieht sich als Opfer der Modernisierung und als Opfer der Europäischen Integration überhaupt.

Im nationalen Opfernarrativ wird das ungarische »Volk« (d.h. die ethnische Abstammungsgemeinschaft) als hilfloses und unschuldiges Opfer »fremder Mächte« dargestellt. Die »Täter« seien demnach vor allem bei den »Anderen«, den »Fremden« zu suchen, oder bei den »inneren Fremden«, d.h. bei den »Kollaborateuren der Fremden« im eigenen Land.

Opfermythos geht also mit einer Schuldabwehr und mit einer Schuldumkehr einher, bzw. mit der Umkehr der Täter-Opfer-Relation, die in der Forschung sekundärer Antisemitismus genannt wird27. In der Schuldumkehr wird versucht, die in der eigenen Schuld zum Ausdruck kommende Täterschaft zu leugnen, mehr noch, die Verfolger projizieren ihre Angst, als Kollektivtäter beschuldigt zu werden, auf die Verfolgten. Als Abwehr von Schuld und Erinnerung meint also Opfermythos die Projektion von Verbrechen auf »Andere«, »Fremde« und letztendlich stellvertretend auf die, die als »Juden« bestimmt werden.

Aus diesem Motiv der Erinnerungsabwehr heraus entsteht also eine neue »Judenfeindschaft«. In dieser Logik werden »die Feinde«, die man »die Juden« nennt, in typisch antisemitischer Weise von unschuldigen Opfern zu schuldigen Tätern erklärt, und das (völkisch gedachte) Volk wird zum Opfer jüdischer Täter stilisiert.28

Im Vordergrund steht dabei immer die Sicht des kommunistischen Opfers mit der insinuierten Aussage, dass im Unglück des Landes der bolschewistisch-kommunistische Terror eine größere Rolle gespielt habe als der Nationalsozialismus und der Holocaust. Dies geht mit dem eindeutigen Versuch einher, auch die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, nämlich die Horthy-Ära zu rehabilitieren und reinzuwaschen, was aber notwendigerweise voraussetzt, dass man sich auch vom Holocaust säubert.29 Die Gleichrangigkeit des Nazi- und des kommunistischen Regimes wird unentwegt suggeriert, was die Parallelisierung von Gulag und Auschwitz, aber gleichzeitig die moralische Relativierung vom Holocaust bedeutet. Dies ist aber ein wesentlicher struktureller Faktor des antisemitischen Diskurses.

Die Antisemiten sind sich seit etwa den 1920er Jahren bis zum heutigen Tag darin einig, dass die größte Gefahr für Europa der (östliche) Bolschewismus einerseits und der (westliche) Liberalismus andererseits seien, die beide von »Juden« erfunden worden seien. Dabei wird das Schreckgespenst des »jüdischen Bolschewismus« immer mit »historischen Fakten« angereichert. Meistens kommen in den Begründungen Stichworte wie »Russische Revolution«, »Räterepublik« sowie »bolschewistische Akteure«, wie Trotzki oder Béla Kun, vor. Damit wird die Weltrevolution zur »jüdischen Revolution« und Sowjets und Juden sind stillschweigend zu Synonymen erklärt. Diese Argumentationsmuster gehören zur traditionellen judenfeindlichen Demagogie, die letztlich in den Holocaust führte.30

Das zentrale Feindbild sind dabei – nach den Worten des Vorsitzenden des Parteiausschusses der Fidesz-Bürgerlichen Union, László Kövér – die „gigantischen, bolschewisierenden, satanischen Kräfte“ 31, nämlich die sozialliberale Regierung „Ferenc Gyurcsány und seine Mittäter“ 32, in denen sich – nach Meinung des Vorsitzenden der Christlich Demokratischen Volkspartei, Zsolt Semlyén, – „…der mal als Bolschewik, mal als Liberale erscheinende echte Antichrist“ 33 zeige. Wenn also im Ungarn der Gegenwart die „heutigen Nachfolger der Bolschwiki“ und die Liberalen sowie die »Juden« zu Synonymen erklärt werden, dann ist letztendlich ebenfalls ein blutiges Ende zu befürchten, und das Feindbild kann ganz klar bestimmt werden.

Anmerkungen

1) http://www.youtube.com/user/JobbikTV.

2) Malterik, Janosz (2008): Ungarn – Neuer Führer in Sicht? In: Der Rechte Rand, 110, Jan./ Febr., und in: http://www.hagalil.com/01/de/Europa.php?itemid=1920.

3) Marsovszky, Magdalena (2006): Budapest: Völkische Revolution?, in: http://www.hagalil.com/archiv/2006/09/ungarn.htm / 21. September.

4) Holz, Klaus (2001): Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg: Hamburger Edition.

5) Haury, Thomas (2002): Antisemitismus von Links. Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antizionismus in der frühen DDR. Hamburg: HIS Verlagsgesellschaft.

6) Benz, Wolfgang (2004): Was ist Antisemitismus? München: C.H.Beck, 19f.

7) Youtube Videoportal, Dokumentation der Feier vor der reformierten Kirche ‚Heimkehr’ am 23.10. 2007: http://index.hu/video/2007/10/23/zsido_pszicherol_szonokolnak_az_arpadsav/.

8) ebd.

9) Die liberale Partei der SZDSZ verließ die Koalition im Frühjahr 2008. Seitdem gibt es eine Minderheitenregierung der Sozialisten (MSZP), die jedoch von den Liberalen toleriert wird.

10) Ferenc Gyurcsány ist seit Ende 2004 Ministerpräsident Ungarns (er löste mitten in der Wahlperiode Peter Medgyessy [ebenfalls MSZP] ab, der wiederum die Parlamentwahlen 2002 gegen Viktor Orbán [Fidesz-MPSZ] gewonnen hatte) und ist seit 2007 Vorsitzender der Sozialistischen Partei (MSZP), die sich selbst sozialdemokratisch definiert. Die Koalition, bestehend aus den Sozialisten (MSZP) und Liberalen (SZDSZ) zerbrach im Frühjahr 2008, die Liberalen dulden jedoch weiterhin die Minderheitenregierung der Sozialisten.

11) Z.B. auf der Internetseite: http://www.sbd.hu/garayter.html als Computerspiel mit dem Titel »Fletó vadászat« (Jagd nach Ferenc). Im Text darunter heißt es: „Warum sollen nur die Soldaten in den Genuss kommen? Waffen für jedermann!“.

12) vgl. Haury, Thomas(2006): »Der moderne Antisemitismus«. In antisemitischer Gesellschaft. Ein Reader zweier Veranstaltungsreihen 2005-2006 in Darmstadt, Erlangen und Frankfurt am Main. Hrsg: Initiative gegen Antisemitismus und Rassismus in Europa (Jugare), Erlangen/Nürnberg und Gruppe zur Bekämpfung des Antisemitismus heute. Frankfurt, 22-29, hier: 28.

13) Z.B.: auf folgender Internetseite: http://www.videoplayer.hu/videos/play/44931 (Stichwort: Führer).

14) Marsovszky, Magdalena (2008): Pogromstimmung in Budapest: Exbundeskanzler Gerhard Schröder nimmt Stellung, in: http://www.hagalil.com/01/de/Europa.php?itemid=2128 21. April.

15) http://index.hu/video/2008/09/19/uj_garda_alakult/?p=0

16) www.jobbik.com.

17) www.magyargarda.hu.

18) Schraeder, Dirk (2007): Der Vormarsch der Rechtsradikalen in Europa. Ein Reportage, in: arte, 14. November, 22.10 Uhr (http://www.arte.tv/de/geschichte-gesellschaft/zoomeuropa/Archiv/diese-woche/1756166,CmC=1722802.html).

19) Vgl. Homepage von Hamasz: http://www.hazankert.hu.

20) In: Ébresztö (Erwacht!), Monatszeitschrift der Partei für Ungarische Gerechtigkeit und Leben (MIÉP), im 16. Bezirk von Budapest, September 2001. Über das Urteil: Buginszky, György (2003): Jogerõs ítélet ifj. Hegedûs Lóránt ügyében (Rechtskräftiges Urteil im Fall Lóránt Hegedüs), in: Magyar Narancs (Ungarische Orange/liberale Wochenzeitung), 13. November.

21) Ügyészség: a náci film vetítése nem közösség elleni izgatás (Staatsanwaltschaft: Das Aufführen des Nazi-Filmes ist keine Hetze), in: Népszava Online (Volkesstimme/liberale Tageszeitung) 15. September 2008, 10:16.

22) Homepage des Senders: www.echotv.hu.

23) http://www.youtube.com/watch?v=QnFPpHgKKNE

24) Lendvai, Paul (2008): Die ungarische Presse, in: Budapester Zeitung, 01. April 2008.

25) Vgl. Salzborn, Samuel (2006): Antisemitismus und nationales Opfermythos, in: Psychosozial 29, Heft II (Nr. 104), 125-136; Stern, Fritz (1986): Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland, Müchen.

26) Vgl. den Begriff »In-between Peripherality«, geprägt von und in: Tötösy de Zepetnek, Steven: Comparative Cultural Studies and the Study of Central European Culture, in: Comparative Central European Culture. Ed. Steven Tötösy de Zepetnek. West Lafayette: Purdue UP., 2002, 1-32, hier 8.

27) Vgl. Fußnote 5, S.115ff.

28) Vgl. Ebd., S.138.

29) Braham, Randolph L. (2001): Hungary and the Holocaust: The Nationalist Drive To Whitewash The Past, RFE/RL East European Perspectives, News and Views on Central and Southeastern Europe, 31 October, Volume 3, Number 19, Part 2 (http://www.rferl.org/reports/eepreport/2001/10/19-311001.asp) sowie Shafir, Michael (2005): The Politics of Public Space and the Legacy of the Holocaust in Postcommunist Hungary, in: Zeitgeschichte-online, Thema: Die Debatte um den Antisemitismus in den ostmitteleuropäischen EU-Beitrittsländern: Der Fall Ungarn, Januar 2005 (http://www.zeitgeschichte-online.de/zol/_rainbow/documents/pdf/asm_oeu/shafir_asm.pdf).

30) Vgl. Benz, Wolfgang (2004): Zum Verhältnis von Ideologie und Gewalt, in: Salzborn, Samuel (Hrsg) (2004): Antisemitismus. Geschichte und Gegenwart, Giessen, 33-50 (45/46).

31) Zitiert in: Heti Világgazdaság (Wochen-Wirtschaftsmagazin), 07. Oktober 2005. (http://hvg.hu/itthon/20051007kover.aspx?s=2005107nl.

32) In der Sendung ‚Napi aktuális’ (Tagesaktuell), in: Echo TV, 07. März 2008, 20.00 Uhr (http://www.echotv.hu/video/index.php?akt_menu=1038&media=2927.

33) In: Vasárnapi Újság (Sonntagsmagazin/ rechtsradikale Sendung), in: Kossuth Rádió (öffentlich-rechtlicher Rundfunksender), 17. Juli. 2005, 06.00 Uhr.

Magdalena Marsovszky ist Kulturwissenschaftlerin und forscht zur Kultur- und Medienpolitik Ungarns, zu Fragen des ethnischen Kulturnationalismus und Antisemitismus.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2008/4 Friedenswissenschaft – Friedensbewegung – Friedenspolitik, Seite