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W&F 1987/5

Henry David Thoreau, Hermann Hesse und der moralische Imperativ zum politischen Handeln

von Till Bastian

Auf der Trauerfeier nach der Beerdigung des verstorbenen Rudi Dutschke berichtete der Arzt des Toten, wie mühsam Dutschke nach seiner bei einem Attentat erlittenen Hirnverletzung wieder Sprechen gelernt habe. Als Dutschke versucht habe, sich an Marxens berühmte 11. These an Feuerbach zu erinnern, sei ihm ein bezeichnender Fehler unterlaufen. Diese letzte der Marxschen Feuerbach-Thesen lautet bekanntlich: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern“. Dutschke nun zitierte den Inhalt des zweiten Satzes in folgender Weise: „(...) es kommt aber darauf an, SICH zu verändern“!

Die Welt verändern oder sich selber verändern - was scheinbar zufällig in der absichtslosen Fehlleistung eines politisch höchst aktiven, jetzt aber körperlich leidenden Menschen aufscheint, läßt ein Generalthema der gesamten abendländischen Philosophie anklingen. Was genießt Vorrang, der innere oder der äußere Friede? Kommt einem gerechten Zustand der Welt oder der Ruhe der eigenen Sache Priorität zu? Hat der christliche Philosoph Thomas von Kempen recht, der um 1420 in den Niederlanden das Buch von der „Imitatio Christi“ verfaßte und darin niederschrieb, „wer bestrebt ist, zu inneren und geistlichen Gütern zu gelangen, der muß mit Jesus der Menge aus dem Weg gehen.“ Oder ist dem von Karl Marx reformulierten kategorischen Imperativ der Vorzug zu geben, der rund vierhundertzwanzig Jahre später fordert, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“(1884)

Weltrevolution oder Revolution der Seele? Vita activa oder vita contemplativa? Bis zum heutigen Tag hat das europäische Denken diese Ambivalenz nicht abschütteln können. Was können wir aus dieser Geschichte der Widersprüche folgern, heute, wo nicht mehr allein der verstorbene Albert Einstein, sondern auch der höchst lebendige Michael Gorbatschow ein „neues Denken“ fordert, das unabdingbar sei, wenn die Menschheit überleben wolle?

Ich will versuchen, mich diesem Problemfeld mit einer auf den ersten, vielleicht auch noch auf den zweiten Blick eigentümlich wirkenden Fragestellung zu nähern: Wer hat die Welt tiefgreifender, wirksamer verändert, Hermann Hesse oder Josef Stalin? Die Alternative erscheint in der Tat absurd. Josef Stalin trieb den Aufbau des Sozialismus in einem Lande voran, da die erhoffte Weltrevolution ausblieb, industrialisierte die Sowjetunion mit drastischen, zum Teil verbrecherisch-unmenschlichen Mitteln, führte den „Großen Vaterländischen Krieg“ bis zum siegreichen Ende und zur Niederwerfung Hitlerdeutschlands. All diese Maßnahmen, mit welchen Mitteln und Methoden auch immer durchgeführt, entbehren letztlich nicht der Effektivität, der Wirksamkeit. Und während Stalin, jede innere und äußere Opposition zerschmetternd, sein Land von Grund auf veränderte, saß Hesse, zwei Jahre älter als jener, als stiller Kurgast in einem schweizerischen Badeort. Damals, 1923, kurz vor Lenins Tod, als Stalin bereits eine erste Parteisäuberung im großen Stile durchführte, notierte Hesse in seiner „Psychologia Bainearia“: „Derjenige nun, welcher mir und den Gästen und dem allem gelangweilt zusah, dem gelangweilt essenden Hesse, den gelangweilt essenden Mitgästen, war nicht der Kurgast und Ischiatiker Hesse, sondern der alte, etwas gesellschaftsfeindliche Eremit und Sonderling Hesse, der alte Wanderer und Poet, der Freund der Schmetterlinge und Eidechsen, der alten Bücher und Religionen, jener Hesse, der sich der Welt entschlossen und kräftig gegenüberstellte und dem es ein tiefes Leid bereitete, wenn er sich von seiner Behörde einen Heimatschein ausstellen lassen oder auch nur den Zettel einer Volkszählung ausfüllen mußte.“

Sehen wir davon ab, daß Hesse (1877 bis 1962) und Stalin (1879 bis 1953) Zeitgenossen waren, so scheint es kaum irgendwelche Gemeinsamkeiten zwischen ihnen zu geben. Um so mehr mag es verwundern, daß Hesse, der, hätte er in der Sowjetunion gelebt, sicherlich in einem Straflager verschwunden wäre, Worte zwar nicht des Verzeihens, aber doch des partiellen Verstehens für den Diktator findet. Am 3.2.1950, zwei Jahre vor Stalins Tod, schreibt Hesse an einen Leser: „Wir dürfen Hitler und Stalin ... nicht in einen Topf werfen. Der faschistische Versuch ist ein rückläufiger, unnützer, törichter und gemeiner Versuch, der kommunistische Versuch aber ist einer, den die Menschheit machen mußte und der trotz seinem traurigen Steckenbleiben im Unmenschlichen wieder und wieder wird gemacht werden müssen (...).“

An dieser Stelle kommt dem Chronisten ein weiteres Faktum in den Sinn: Stalin war Seminarist in Tiflis, Hesse entfloh dem Kloster in Maulbronn; beide verweigern sich also der ihnen ursprünglich zugedachten religiösen Laufbahn. Freilich scheint es, als hätten sie aus diesem Erlebnis entgegengesetzte Schlußfolgerungen gezogen. Stalin versucht im wahrsten Wortsinne mit allen Mitteln, die Weltgeschichte zu gestalten und verändert mit Feuer und Schwert das Anlitz der Erde; allein es bleibt der Verdacht, daß vielleicht gerade wegen der Grausamkeit seiner Methoden die Auswirkungen seines Tuns im Oberflächlichen verhaften bleiben und nur wenig dauerhafte Veränderungen nach sich ziehen. Stalins rhetorische Frage wieviele Divisionen der Papst zur Verfügung habe und seine spöttische Bemerkung, die Atombombe könne nur Menschen mit schwachen Nerven Angst einjagen, gelten heute in Ost und West nicht nur als Ausdruck eines mittlerweile auch in der Sowjetunion überwundenen Vulgärmaterialismus Plattester Art, sondern auch als Symptom einer grotesken, bedenkenlosen Überheblichkeit, die die historische Wahrheit eben nicht auf ihrer Seite hat. International gesehen ist das Christentum heute, fünfunddreißig Jahre nach Stalins Tod, alles andere als eine absterbende Macht, und das gleiche gilt für andere Religionen; und was die Atombombe anbelangt, so hat sich die Auffassung, daß in ihr die bisher größte Bedrohung für die gesamte Biosphäre verkörpert ist, heute weltweit durchgesetzt und findet ja gerade in der Reformpolitik Gorbatschows sichtbaren Ausdruck.

Und Hesse? Während sich heute wohl kaum noch ein ernsthafter Mensch für die von Stalin verfaßte „Kurze Geschichte der KPdSU“ begeistern kann, werden seine Bücher in Millionenauflagen gedruckt - in Japan, in den USA - und auch in der Sowjetunion. Ja die weltweiten Jugend- und Studentenunruhen am Ausgang der sechziger Jahre haben sogar eine neue Begeisterung für seine Schriften aufblühen lassen, es ist gewiß nicht falsch zu behaupten, daß sie zu den Kultbüchern jener Bewegung gehört haben, deren Engagement den Vietnamkrieg beendete.

Wie schon Hesses Brief zu den Unterschieden zwischen Hitler und Stalin, wie auch viele andere, hier nicht erörterbare Dokumente aus Leben und Werk zeigen, war Hesse keineswegs der unpolitische Sonderling und Eremit, als welchen er sich selber so gerne zeichnete; oder, besser gesagt, er war dies auch, zu Zeiten („je“ und „je“ hätte er wohl selber geschrieben!), aber nicht alleine oder ausschließlich. Er war ja, wie sich in all seinen großen Romanen zeigt, der Dichter und Philosoph der Ambivalenz, der Zwiespältigkeit, die versucht, sich zur Polarität zu integrieren - eine Aufgabe, die freilich in „Narziß und Goldmund“ wie auch in „das Glasperlenspiel“ ungelöst bleibt bzw. durch den Tod abrupt beendet wird. Auch aus Hesses Lebensgeschichte scheint heraufzuleuchten, daß ihm diese Integration eher Wunsch und Ziel geblieben ist, als ihm als gelebte Möglichkeit zu Gebote zu stehen. Wie dem auch immer sein mag: Ein Zauber seines Schaffens besteht zweifellos in der anrührenden Tiefe der geschilderten Ambivalenz, in der berührenden Intensität des Ringens um deren Auflösung. Dies gilt auch im Bemühen um die Integration des politischen Handelns in ein durchgeistigt gelebtes Leben: „Wir sollten nicht aus der Vita activa in die Vita contemplativa fliehen, noch umgekehrt, sondern zwischen beiden wechselnd unterwegs sein, in beiden zuhause sein, an beiden teilhaben“ heißt es in „Das Glasperlenspiel“. Auch der Ludi Magister Josef Knecht ist unterwegs, besorgt um die Zukunft des sich von der Außenwelt abschottenden Kastalien verfaßt er sein Rücktrittsgesuch. „Wir können“, so schreibt er darin, „wenn wir wollen, die Augen schließen, denn die Gefahr ist noch einigermaßen fern; vermutlich werden wir, die wir heute Magister sind, alle noch in Ruhe zu Ende atmen und uns in Ruhe zum Sterben legen können, ehe die Gefahr nahe kommt und allen sichtbar wird. Für mich jedoch, und wohl nicht für mich allein, würde diese Ruhe nicht die des guten Gewissens sein. Ich möchte nicht in Ruhe weiter mein Amt verwalten und Glasperlenspiele spielen, zufrieden damit, daß das Kommando ja wohl mich nicht mehr am Leben treffen werde. Nein, sondern mir scheint es notwendig, mich zu erinnern, daß auch wir Unpolitischen der Weltgeschichte angehören und sie machen helfen.“ Diese mit deutlichem, unübersehbaren Bezug auf die nationalsozialisitsche Gewaltherrschaft geschriebenen Zeilen aus Hesses letztem großen Werk, an dem er elf Jahre arbeitete und das 1969 auch ins Russische übersetzt worden ist, fanden auch Zustimmung bei einem anderen, nicht minder berühmten Dichterkollegen. Am 8. April 1945, kurz vor Kriegsende, zwei Jahre nach dem Erscheinen des „Glasperlenspiel“ und ein Jahr, bevor Hesse für dieses Werk den Nobelpreis erhielt, hatte Thomas Mann dem Dichter geschrieben:

„Ich glaube, nichts Lebendes kommt heute ums politische herum. Die Weigerung ist auch Politik, man treibt damit die Politik der bösen Sache."

Es fragt sich freilich, welche Vorstellung Hesse von Politik besitzt - der Verdacht liegt nahe, daß er darunter etwas anderes, umfassenderes verstehen könnte als etwa Josef Stalin. Diese Vermutung wird nicht zuletzt durch Hesses Marxkritik gestützt. Über diesen schreibt Hesse:

„Nähme er den Geist an sich und die seelischen Anlagen und Bedürfnisse des Menschen halb so ernst, wie er die Erscheinung des Kapitals nimmt, so läsen wir ihn lieber und er hätte über das, was jenseits von Kapital und Arbeit liegt, Stichhaltigeres zu sagen. Seine Einsicht in die Mechanik der Wirtschaft ist schlechthin genial und oft prophetisch; seine Philosophie und Geschichtsbetrachtung ist eng (...)“

Dieser Verweis auf das, was der Marxismus bei allen seinen Verdiensten vernachlässigt (Stalin übertreibt diese Reduktion dann bis zum Exzeß!), mag uns zu einem anderen Männerpaar führen, zu zwei Philosophen, von denen der eine Stalin, der andere Hesse zum Vorbild diente. Auch hier mag es wieder sinnvoll sein, ein kurzes Schlaglicht der Kritik erhellend über Gegensätze und Gemeinsamkeiten gleiten zu lassen, um so zu weiteren Diskussionen anzuregen. Die Rede ist von Karl Marx und Henry David Thoreau.

Beginnen wir mit dem „Manifest der Kommunistischen Partei“, das Marx und Engels 1848 veröffentlicht haben. Unvoreingenommen gelesen, enthält dieses programmatische Dokument Sätze, die uns Heutigen, Auge in Auge mit der drohenden ökologischen Katastrophe, die Ohren klingen lassen müssen:

„Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt“ stellen die beiden Kampfgefährten da in einer Mischung aus Abscheu und Bewunderung fest. „Erst sie hat bewiesen, was die Tätigkeit der Menschen zustande bringen kann. Sie hat ganze andere Wunderwerke vollbracht als ägyptische Paraneiden, römische Wasserleitungen und gotische Kathedralen...“ Und in der selben ungebrochenen Fortschrittsbegeisterung heißt es weiter: „Die Bourgeoisie hat das Land der Herrschaft der Stadt unterworfen. Sie hat enorme Städte geschaffen, sie hat die Zahl der städtischen Bevölkerung gegenüber der ländlichen in hohem Maße vermehrt und so einen bedeutenden Teil der Bevölkerung der Idiotie des Landlebens entrissen...Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen. Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse - welch früheres Jahrhundert ahnte, daß solche Produktionskräfte im Schoß der gesellschaftlichen Arbeit schlummern.“

Soweit das kommunistische Manifest. Einhundertfünfzig Jahre später, wo die sozialistischen Tannen im Erzgebirge nicht weniger schnell zugrunde gehen als die kapitalistischen Bäume im Schwarzwald, denken wir wohl etwas skeptischer über den Nutzen der Unterjochung der Natur; und wo Kernkraftwerkskatastrophen von Harrisburg bis Tschernobyl häßlich systemübergreifend Gesundheit und Leben von Hunderttausenden gefährden, ist auch unsere Verehrung für das ungehemmte Wachstum der Produktivkräfte etwas gemildert. Der Eindimensionalität des orthodoxen Marxismus, der ausschließlich einen an Bacon und Fichte orientierten raptativen Stoffwechsel mit der Natur und dessen rationeller gesellschaftlicher Organisation sein Augenmerk widmet, mag ein anderer, weit weniger spektakulärer, aber doch nachhaltig wirksamer Befreiungsversuch gegenübergestellt werden, der fast gleichzeitig mit der Abfassung des kommunistischen Manifestes sich vollzog: Vom 4. Juli 1845 bis zum 6. September 1847 hatte Henry David Thoreau in einer kleinen, mit Freundeshilfe erbauten Hütte am Waldensee gelebt; das Buch, das er über diese Zeit verfaßte, hat mit einer gewissen Verzögerung Weltruhm erlangt („Walden, oder: Hüttenleben im Walde“, 1854) „Die amerikanische Literatur, so kühn und großartig sie ist, hat kein schöneres und tieferes Buch aufzuweisen“ schrieb späterhin einer, der Hermann Hesse hieß.

Wie Hesse tritt auch Thoreau für die Lösung des Individuums aus den konventionellen gesellschaftlichen Banden ein. „Warum haben wir es alle so verzweifelt eilig, zu Erfolg zu kommen, noch dazu in so verzweifelten Unternehmungen?“ fragt er. „Wenn einer nicht Schritt hält mit den anderen, rührt das vielleicht daher, daß er auf einen anderen Trommler hört. Jeder richte seine Schritte nach der Musik, die er vernimmt, mag sie noch so gemessen und leise klingen.“ Dieser Anspruch gerät freilich in scharfen Widerspruch zur kapitalistischen Leistungs- und Erwerbsgesellschaft. „Das Erwerbsleben“ schreibt Thoreau, „läßt dem Menschen nicht genug Zeit, um den Alltag menschenwürdig zu gestalten; er kann es sich nicht gestatten, den anderen gegenüber als Mann und Mensch aufzutreten; es könnte ja den Marktwert seiner Arbeit beeinträchtigen. Er hat keine Zeit, etwas anderes als eine Maschine zu sein. Wie kann einer, der dauernd seine Kenntnisse verwerten muß, noch daran denken, daß er im Grunde nichts weiß?“ Für Thoreau gilt im Grunde Ähnliches wie für Hesse. Er war radikaler Individualist und Befürworter von Autonomie und Rückzug - aber nur beizeiten, und er war mehr als das. Der Dichter, von Beruf Geometer und Schullehrer, bei Beendigung seines Hüttenlebens dreißig Jahre alt, trat bei aller Tendenz zum Eremitenleben der staatlichen Obrigkeit keineswegs demütig und ergeben entgegen. Als die USA einen Angriffskrieg gegen ihren südlichen Nachbarn Mexiko vom Zaune brach, protestierte er dagegen ebenso heftig wie gegen den ungehinderten Fortbestand der Sklaverei; und da er sich mit diesen Zuständen nicht einverstanden erklären wollte, weigerte er sich, die übliche Kopfsteuer zu bezahlen, wurde 1846 inhaftiert und verbrachte eine Nacht im Gefängnis von Concord - allerdings ließ man ihn umgehend wieder frei, weil Thoreaus Tante, sehr zu dessen Arger, die rückständige Summe bezahlt hatte. Durch solche Erfahrungen bestärkt, veröffentlichte er 1849 den Aufsatz „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“, der auf einem Vortrag beruht, den er im Vorjahre gehalten hatte. Der diesem Essay später zugedachte Titel „Civil Disobedience“ (Ziviler, d.h. bürgerlicher Ungehorsam) ist allerdings eine spätere Wortschöpfung aus der Zeit nach Thoreaus Tod im Jahre 1862. Gleichviel, unter diesem Titel wurde der kleine Artikel weltberühmt; Mahatma Gandhi und Martin Luther King zählten zu seinen begeisterten Lesern. Und so zeigte sich auch hier die Ungewißheit, ob nicht

In jenem Vortrag sagte Thoreau, eben ein Jahr aus seiner Einsiedelei zurückgekehrt, unter anderem: "Es gibt Tausende, die im Prinzip gegen Krieg und Sklaverei sind und doch praktisch nichts unternehmen, um sie zu beseitigen; die sich auf den Spuren Washingtons oder auch der zivilisationsmüde, weltabgewandte Philosoph vom Walden-Teich politischen Wellenschlag ausgelöst hat, der bis heute die Gestade der Geschichte netzt.

Franklins glauben und zugleich ruhig sitzen bleiben, die Hände in den Taschen, sagen, sie wüßten nicht, was zu tun sei und eben auch nichts tun; Menschen, für die die Frage der Freiheit hinter die des Freihandels zurücktritt und die nach dem Essen in aller Ruhe die Tagespreise zugleich mit den letzten Nachrichten aus Mexiko lesen und vielleicht über dieser Lektüre einschlafen... Sie zögern, sie bedauern und manchmal unterschreiben sie auch Bittschriften, aber sie tun nichts ernsthaft und wirkungsvoll. Sie warten - wohlsituiert - daß andere den Übelstand abstellen, damit sie nicht mehr daran Anstoß nehmen müssen. Höchstens geben sie ihre Stimme zur Wahl, das kostet nicht viel, und der Gerechtigkeit geben sie ein schwaches Kopfnicken und die besten Wünsche mit auf den Weg, während sie an ihnen vorübergeht."

Vor der magischen Macht der Sprachgewalt ganz abgesehen - Thoreaus Emphase des Gewissens und Hesses Warnung vor der politischen Abstinenz wirken deshalb auch heute noch so unmittelbar aufrüttelnd und überzeugend, weil beide Dichter kein papierenes, koloriertes Bild lebensfremder Helden und ihrer Tugenden malen, sondern weil in ihrem Leben wie in ihrem Werk der Mensch in seiner Zerrissenheit wie in seiner Sehnsucht nach Integration jederzeit faßbar bleibt. Deshalb bleibt dieser moralische Imperativ zum politischen Handeln auch heute noch verpflichtend - weil er sich nicht aus den blassen, dem Leben enthobenen Gedankengebäuden einer kunstreich ersonnenen Theorie speist, der ja letztlich doch der Gang der Weltgeschichte irgendwann den Boden unter den Füßen entzieht, sondern aus der uns allen vorbewußt mitgegebenen, fraglos gewissen Gemeinsamkeit mit aller belebten und unbelebten Mitwelt. Daher die eindringliche Unmittelbarkeit des Appells. Daher auch seine Wirksamkeit. Thoreaus Ratschlag „Vereinfach dein Leben!“ ist heute so aktuell wie eh und je und wurde formuliert, hundert Jahre bevor E. F. Schumacher das Motto „small is beautiful“ ersonnen hatte. Und wer wäre nicht angerührt, wenn er hört, wie Hesse schon am Anbeginn des Jahrhunderts in seinem genialen Jugendwerk „Peter Camenzind“ (1904) den Lesenden zuruft, er habe beabsichtigt, „den heutigen Menschen das großzügige, stumme Leben der Natur nahe zu bringen und lieb zu machen. Ich wollte sie lehren, auf den Herzschlag der Erde zu hören, am Leben des Ganzen teilzunehmen und im Drang ihrer kleinen Geschichte nicht zu vergessen, daß wir nicht Götter und von uns selbst geschaffen, sondern Kinder und Teile der Erde und des kosmischen Ganzen sind (...) Ich wollte aber auch die Menschen lehren, in der brüderlichen Liebe zur Natur Quellen der Freude und Ströme des Lebens zu finden; ich wollte die Kunst des Schauens, des Wanderns und Genießens, die Lust am Gegenwärtigen predigen. Gebirge, Meere und grüne Inseln wollte ich in einer verlockend mächtigen Sprache zu euch reden lassen und wollte euch zwingen, zu sehen, was für ein maßlos vielfältiges, treibendes Leben außerhalb eurer Städte und Häuser täglich blüht und überquillt. Ich wollte erreichen, daß ihr euch schämst, von ausländischen Kriegen, von Mode, Klatsch, Literatur und Künsten mehr zu wissen als vom Frühling, der vor euren Städten sein unbändiges Treiben entfaltet, und als vom Strom, der unter euren Brücken hinfließt, und von den Wäldern und herrlichen Wiesen, durch welche eure Eisenbahn rennt...“

Von diesen Wäldern wird freilich - in Ost und West - bald nicht mehr viel übrig sein. Eben weil den Menschen das stille Leben der Natur keineswegs mehr nahe ist, und weil es ihnen an Respekt und Ehrfurcht vor diesem Eigenleben mangelt, droht der Biosphäre der ökologische Kollaps - sofern die Menschheit nicht schon zuvor durch das Desaster des Atomkrieges eine wüste und leere Erde, ein „Tohuwabohu“ bereitet, das freilich kein Schöpfergott neu bevölkern wird. Können wir dagegen noch etwas tun ? Werden unsere Kräfte zum erfolgreichen Widerstand ausreichen?

Lassen wir Thoreau das letzte Wort - mit den Schlußzeilen des „Walden“: „Ich behaupte nicht, daß Hinz und Kunz das alles schaffen werden; aber das ist die Bewandtnis, die es mit der Morgenröte hat, die der blasse Ablauf der Zeit nicht herbeiführen kann. Das Licht, das uns blendet, ist für uns Dunkelheit. Nur der Tag bricht für uns an, den wir wachen Sinnes erleben. Und es will noch kein Tag heraufdämmern. Die Sonne ist nur ein Morgenstern.“

Dr. med. Till Bastian, von November 1983 bis Dezember 1986 Geschäftsführer der bundesdeutschen Sektion der IPPNW; seit 1968 Mitglied des International Council der IPPNW; lebt in Mainz.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1987/5 Die Karte der nuklearen Welt, Seite