Herrschaft und Tabu – ein Systemvergleich
von Hans-Jürgen Fischbeck
Tausende bei den Montagsdemos in Leipzig ein paar Jahre später. Menschen thematisierten öffentlich ihre Unzufriedenheit mit dem System. Zivilcourage: Zumindest am Beginn der Bewegung war nicht erkennbar wie der Staatsapparat reagieren würde, welche Folgen das politische Engagement für die Einzelnen haben würde.
Hans-Jürgen Fischbeck, einst aktiv in der ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung, befasst sich mit den unterschiedlichen Anforderungen an Zivilcourage gestern und heute unter den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen.
Ein Beispiel aus eigener Erfahrung: Am 13. Februar 1988 wurde die Ökumenische Versammlung der Kirchen der DDR in Dresden offiziell eröffnet mit 9 »Zeugnissen der Betroffenheit« von denen ich eines übernommen hatte. Erst am Vorabend erfuhren wir, dass das Westfernsehen davon berichten würde. Hätte ich dies vorher gewusst, hätte ich mein Zeugnis das ich im Namen der kirchlichen Oppositionsgruppe »Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung« ablegen wollte wesentlich vorsichtiger formuliert. Mir war klar, dass sich das Westfernsehen auf mein Votum »Von der Ungerechtigkeit auferlegter Abgrenzungen« stürzen würde. Sollte ich meinen Text deshalb über Nacht entschärfen? Ich tat es nicht und es kam wie erwartet. Die Wirkung war groß. Es war wie der Bruch eines Tabus. Selbstverständlich hat die Staatsmacht auf diese Herausforderung reagiert. Wenig später wurde ich in dem Forschungsinstitut in dem ich arbeitete zu einem »Kadergespräch« zitiert wo ich mich rechtfertigen musste. Ich beteuerte, dass ich lediglich nach bestem Wissen und Gewissen die Wahrheit gesagt habe. Mir wurde entgegen gehalten, ich hätte objektiv den Feinden der DDR gedient und damit meine Pflichten als Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften verletzt. Disziplinarische Konsequenzen wurden angedroht, aber nicht vollzogen, wie allgemein erwartet wurde. Anlässe dafür bot ich später noch genug.
Erst nach der Wende erfuhr ich die Hintergründe und – wie ich meine – das eigentliche Beispiel für Zivilcourage. Die Leitung der Akademie der Wissenschaften hatte von der Institutsleitung verlangt, dass ich zu entlassen sei. Der Direktor unseres Instituts, Prof. Gündel, selbstverständlich Mitglied der SED und damit gebunden an die strenge Parteidisziplin, weigerte sich dies zu tun und nutzte auch spätere Anlässe nicht um die angedrohten Konsequenzen zu ziehen. Während ich viel Anerkennung für mein Verhalten erfuhr, blieb sein Beispiel für Zivilcourage unbekannt.
Wahrheit und Macht
Dieses Beispiel illustriert einen allgemeinen Sachverhalt, nämlich das gespannte Verhältnis zwischen Wahrheit und Macht. Macht – genauer gesagt Herrschaft – verträgt die Wahrheit nicht. Macht hat, wer andere veranlassen kann etwas zu tun, was sie nicht wollen. Menschen wollen lieber Macht haben als sich ihr fügen. Der »Wille zur Macht« ist eine der wichtigsten Triebkräfte menschlichen Handelns. Umgekehrt lässt die Sehnsucht nach der letzten Gerechtigkeit herrschaftsfreien Zusammenlebens die Unterdrückten nicht los. In unserer Kultur fand diese Hoffnung ihren wohl stärksten Ausdruck in der Reich-Gottes-Verheißung der Bibel von den Propheten Israels bis hin zu dem, der wegen seines Eintretens für diese Wahrheit gekreuzigt wurde. In wohl keiner Szene der Weltgeschichte ist die Spannung zwischen Wahrheit und Macht so deutlich wie im Verhör Jesu durch Pilatus, in dem jener die berühmte zynische Frage stellte: „Was ist Wahrheit?“
Nun ist freilich zivilisiertes Zusammenleben ohne Machtausübung vorerst nicht möglich. Deren einzig akzeptable und legitimierte Form ist die demokratische weil sie auf einem zeitlich befristeten und rechenschaftspflichtigen gesellschaftlichen Mandat beruht. Aber auch in der Demokratie wollen Menschen an die Macht kommen oder sie behalten. Aus diesem Grunde geraten auch in der Demokratie Wahrheit und Macht immer wieder in Konflikt. Wo um der Macht willen gelogen oder geschwiegen wird, grenzt auch in der Demokratie legitime Macht an illegitime Herrschaft. Die stets unvollkommene Demokratie aber kann daran gemessen werden, in welchem Maß es möglich ist oder sogar geschützt und gefördert wird, gesellschaftlich relevante Wahrheit öffentlich zu sagen ohne dass besondere Zivilcourage nötig wäre, denn es gibt einen öffentlichen Anspruch darauf. In den USA und Großbritannien gibt es – anders als in Deutschland – Ansätze eines gesetzlichen Schutzes von Menschen, die im öffentlichen Interesse aus Gewissensgründen unbequeme Wahrheiten sagen. Dieses Defizit zu beheben, ist eines der Anliegen der Ethikschutz-Initiative.
Ohne Zweifel ist es in der Demokratie viel leichter gesellschaftlich relevante Wahrheit zu sagen als in diktatorischen Herrschaftsformen wie ich es lange genug erlebt habe. Die staatssozialistische Herrschaft der SED ist nicht zuletzt an der von ihr selbst erzeugten und alles durchdringenden öffentlichen Lüge erstickt, die sie zur Stützung ihrer Herrschaft aufrecht erhalten zu müssen glaubte. Illegitime Herrschaft braucht ihre Legitimationslüge und lebt davon. Ihr zu widersprechen ist nicht nur verboten, sondern tabu. Herrschaft, Lüge und Tabu gehören zusammen. Es darf einfach nicht gesagt werden: »Der Kaiser ist nackt.«
Zivilcourage heute
Im demokratischen Rechtsstaat sind Meinungs- und Gewissensfreiheit als Grundrechte garantiert. Ist Zivilcourage damit nicht mehr erforderlich? Dem ist nicht so – und zwar nicht nur wegen der schon erwähnten Unvollkommenheit jeder Demokratie, denn unsere Gesellschaft wird ja nicht nur durch die legitimierte institutionelle Macht des demokratischen Staates bestimmt, sondern mehr und mehr durch die nicht legitimierten und nicht rechenschaftspflichtigen Herrschaftsstrukturen des Eigentums. Insbesondere die Geldvermögen sind ja so beschaffen, dass sie exponentiell wachsen, sodass ihre Macht automatisch immer größer wird, denn Geld ist das Machtmittel schlechthin. Wer Geld hat hat Macht. Wer viel Geld hat hat viel Macht. Hier handelt es sich um erbrechtlich gesicherte postfeudale Herrschaft die im Begriff ist, sich die legitimierte politische Macht unterzuordnen bzw. zu kaufen. Auch staatliche Macht braucht Geld. Sie muss es sich durch Steuern holen. Der Steuerpflicht aber entziehen sich die großen (Geld)-Vermögen mehr und mehr. Dies ist nur ein Indiz dafür, dass die Politik ihr Primat verloren hat. Demokratie wird zweitrangig. „Politik löst sich in Technologie und Ökonomie auf.“ (Hans Mohr). Die heute bestimmenden Herrschaftsstrukturen sind die ökonomisch-kommerziellen. Vornehmlich hier ist Zivilcourage heute gefragt.
Meinungs- und Gewissensfreiheit gelten als Grundrechte nur im öffentlichen Recht gegenüber dem Staat, nicht aber in zivilrechtlichen Arbeitsverhältnissen. Hier herrschen Loyalitätspflichten und Direktionsrechte. In den Westen gegangene DDR-BürgerInnen, der Pflicht zur Staatsloyalität entronnen, fanden sich in privaten Unternehmen unvermutet neuen Loyalitätspflichten unterworfen. „Ich fühle mich wie in einer kleinen DDR“, berichtete einer von ihnen. Die nichtsdestoweniger gewonnene Freiheit besteht nun allerdings darin, den Arbeitgeber wechseln zu können, was im Staatskonzern DDR nicht möglich war. Wo aber ist diese Freiheit bei über zehnprozentiger Arbeitslosigkeit geblieben?
Zivilcourage heute ist also hauptsächlich in zivilen Arbeitsrechtsverhältnissen gefragt. Es gibt sie ebenso vielfältig wie die Sanktionen, die sie hervorruft. Nur wird sie nicht so wahr genommen wie sie es verdient. Die Macht des Geldes zeigt sich hier beispielsweise durch die Androhung zivilrechtlicher Prozesse um enorm hohe Streitwerte, in denen Unternehmen ganze Rechtsabteilungen und teure RechtsanwältInnen aufbieten können oder aber durch »positive Sanktionen« – etwa in Gestalt außertariflicher Zusatzrenten – als Lohn für das Wohlverhalten von VorruheständlerInnen. Diese Macht des Geldes ist meist größer als die Zivilcourage Einzelner, sodass nur wenig Verborgenes an die Öffentlichkeit gelangt.
Natürlich sind Lüge und Tabu Geschwister auch dieser Herrschaftsform. Dem Unisono der lobhudelnden Staatspropaganda der SED entspricht die Polyphonie – besser der Lärm – der freilich weit geschickteren PR zum Image-Aufbau und zur Image-Pflege der Firmen auf dem Markt, die man sich viel und immer mehr Geld kosten lässt. Der Staatsdoktrin der SED entspricht hier, was man »Corporate Identity« bzw. »Firmenphilosophie« nennt. Selbstverständlich ist PR ebenfalls eine Form der Selbstbelobigung. Hinter dem durch die Werbewirtschaft erzeugten vielfarbigen, im Grundton aber rosaroten Schleier – jeder weiß dass er eigentlich nicht stimmt – ist die Wahrheit nichtsdestoweniger kaum zu erkennen. Dazu kommt der postmoderne Konsens, dass es Wahrheit sowieso nicht gibt, sondern nur Interessen. Also was soll's? Jeder lügt und lobt sich selbst. Natürlich weiß man längst, dass unter diesen Umständen Glaubwürdigkeit ein »knappes Gut« geworden ist. Hier aber endet die Macht des Geldes. Glaubwürdigkeit lässt sich ausnahmsweise nicht kaufen.
Das Herrschaftstabu der SED war, dass ihre Politbürokratie »Volksdemokratie«, d.h. die Herrschaft der Arbeiterklasse sei. Das Herrschaftstabu des Eigentums ist die Negation überhaupt Herrschaft zu sein. So gelingt es, diese Herrschaft perfekt zu verschleiern, ja als gänzlich liberal zu deklarieren. Herrschaft selbst ist tabu. Über Geld spricht man nicht, man hat es. Die Vermögen und ihre EigentümerInnen sind durch das Bank- und Steuergeheimnis vor den Blicken der Öffentlichkeit geschützt. Dennoch lässt sich nicht verheimlichen, dass die privaten Geldvermögen unaufhörlich wachsen. Alle einschlägigen Statistiken zeigen: Überall auf der Welt werden die Reichen reicher, die Armen zahlreicher und ärmer. Das also lässt sich nicht verbergen. Dennoch wirkt hier das Tabu. Ein evidentes »Weil« darf nicht ausgesprochen werden: Die Reichen werden reicher weil die Armen zahlreicher und ärmer werden und umgekehrt. Wer es ausspricht wird »entlarvt« als »ideologisch befangen«. Immer finden sich genug Leute, die dieses Verdikt – publizistisch oder auch nur im Gespräch – unverzüglich aussprechen und die Diskussion damit beenden. Längst beteiligt sich die SPD an der Tabuisierung des Eigentums. Im Zuge ihrer »Modernisierung« geschieht das konsequenter als zuvor. Auch bei den Bündnisgrünen ist es kein Thema mehr, denn Wahlen lassen sich damit unter der Wirkung dieses Tabus nicht gewinnen, schon gar nicht in der »neuen Mitte«. So bleibt es Menschen mit Zivilcourage vorbehalten, trotz des herrschenden Tabus so oder so zu sagen: Auch dieser Kaiser ist nackt.
Dr. Hans Jürgen Fischbeck, Physiker, ist Studienleiter an der Evangelischen Akademie Mülheim/Ruhr.