Hilfe und Schutz statt Abwehr und Abschottung.
von Heiko Kauffmann
Im Kosovo eskaliert die Gewalt: Dörfer werden dem Erdboden gleichgemacht, die Zerstörung und ethnische Säuberung ganzer Landstriche ist in vollem Gang, die Bevölkerung – vor allem Frauen, Kinder und alte Menschen – wird gewaltsam vertrieben, flieht in die Wälder und Berge, in die Nachbarstaaten. Auf über 200.000 ist in den letzten Wochen die Zahl der Flüchtlinge alleine in diesem Jahr angestiegen. 350.000 Kosovo-Albanerinnen und -Albaner waren bereits vorher aufgrund von Menschenrechtsverletzungen, Gewalt und anhaltenden Repressalien geflohen, davon 140.000 nach Deutschland.
„Die Welt versagt im Kosovo“, stellte die UN-Menschenrechtskommissarin Mary Robinson im Juni dieses Jahres fest. Die Gefahr einer Eskalation der Gewalt, auf die von Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen immer wieder hingewiesen wurde, war der Staatengemeinschaft seit langem bekannt. Trotzdem wurde der Kosovo-Konflikt im Dayton-Abkommen ausgeklammert, fanden die jahrelangen Bemühungen der Mehrheit der Kosovo-Albanerinnen und -Albaner und der gemäßigten serbischen Bevölkerung um eine friedliche Beilegung und demokratische Lösung des Konfliktes international und auch seitens der deutschen Politik keine ausreichende und wirksame Unterstützung.
Die katastrophale Entwicklung in der Region ist auch das Ergebnis mangelnden politischen Drucks, kurzsichtiger Krisendiplomatie und sich gegenseitig blockierender Eigeninteressen der westlichen Staaten.
Was die deutsche Politik – ungeachtet der Eskalation der Kämpfe im Kosovo – in diesem Zusammenhang unter »Problemlösung« versteht, machen Äußerungen führender Politiker der Koalition – aber auch der SPD – in den vergangenen Tagen und Wochen klar: „Kinkel will weitere Flüchtlinge abwehren“, „Beckstein fordert Auffanglager in Albanien und Italien“, „Kanther gegen Anerkennung der Bürgerkriegsflüchtlinge“, „Kein Abschiebestopp für Kosovo-Albaner“, „Spranger verlangt regionale Lösung“ – so und ähnlich lauten die Botschaften und Überschriften. Erinnert sei auch an die Weigerung des Bundesaußenministers noch Anfang Mai dieses Jahres, der jugoslawischen Fluggesellschaft die Landerechte zu entziehen, weil dann die Serben der Lufthansa ebenfalls Landerechte verweigern würden. „Dann werden unsere wöchentlichen Rückführungen nicht mehr möglich sein“, wurde Kinkel in Agenturmeldungen zitiert. Und weiter: Im Falle eines Krieges wären die Deutschen Leidtragende, dann würden viele weitere Flüchtlinge kommen.
Um dieses für die deutsche Politik alptraumhafte Szenario zu verhindern, stehen Politik, Ämtern und Behörden nach der Abschaffung eines effektiven Asylgrundrechts eine ganze Reihe von Abwehrmaßnahmen und -instrumenten zur Verfügung. Zum Beispiel:
- Krieg und Bürgerkrieg gelten nach deutschem Recht nicht als asylrelevant; der im Asylkompromiß vor 5 Jahren (!) beschlossene Sonderstatus für Bürgerkriegsflüchtlinge (§ 32 a AuslG) ist noch immer nicht wirksam umgesetzt. Bund und Länder schieben sich – etwa bei den Erstattungsregelungen für die Unterbringung der Flüchtlinge – gegenseitig die Verantwortung zu.
- Die meisten Flüchtlinge aus dem Kosovo kommen auf dem Landweg. Werden sie an der Grenze aufgegriffen, werden sie sofort wieder zurückgeschickt. Aber auch von den Flüchtlingen, die ein Asylverfahren durchlaufen, wird gerade jeder Hundertste anerkannt. Bis 30. Juni 1998 stellten 11.333 Personen aus der BR-Jugoslawien Asylanträge beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, die Anerkennungsquote betrug 1,3 Prozent! Mittlerweile gibt es jedoch eine Reihe positiver Beschlüsse von Verwaltungsgerichten.
- Die Bundesregierung hält am Rückübernahmeabkommen mit der Bundesrepublik Jugoslawien fest, obwohl Menschenrechtsorganisationen seit Beginn der Rückführungen immer wieder über Schikanen, Mißhandlungen und Inhaftierungen berichtet haben. Die Bundesregierung hat es versäumt, im Abkommen Sicherheitsgarantien und Kontrollen für die Betroffenen festzuschreiben und Schutz- und Beobachterfunktionen – etwa durch Nichtregierungsorganisationen und Menschenrechtsorganisationen einzubauen. So läuft der Datentransfer ungehindert weiter. Nach wie vor werden Anfragen durch die Ausländerbehörden nach Belgrad übermittelt.
- Staatsangehörige aus der BR Jugoslawien fallen aus der Altfallregelung vom 26. März 1996 heraus, obwohl sie ansonsten alle Voraussetzungen (Aufenthaltszeiten, Arbeit, Integration) erfüllen.
- Obwohl ein genereller Abschiebestopp den effektivsten Schutz für die im Falle der Abschiebung von politischer Verfolgung, schweren Menschenrechtsverletzungen oder konkreten Gefahren für Leib und Leben bedrohten Personen darstellt, wird der entsprechende § 54 AuslG nach einer Vereinbarung der Innenminister vom März 1996 nur noch einvernehmlich – d.h. in der Praxis so gut wie nie – angewandt. Selbst im Juni, als NATO-Stäbe wegen der gefährlichen Zuspitzung der Lage im Kosovo bereits Einsatzpläne entwarfen, sah Bundesinnenminister Kanther „überhaupt keinen Anlaß“, einen Abschiebestopp zu erlassen. Zwar gäbe es in Serbien – so wurde Kanther am 5. Juni in Bremen zitiert – „…sehr sehr unerfreuliche Vorgänge. Aber das Land ist nicht im Ganzen im Bürgerkrieg.“ Um die Abschiebestoppregelungen des § 54 AuslG auch nach der jüngsten Eskalation im Kosovo umgehen zu können, wurden die Behörden unterrichtet, daß Kosovo-Albaner vorläufig nur aus organisatorischen Gründen nicht abgeschoben werden – mit der Konsequenz, daß Flüchtlinge Duldungsverlängerungen jeweils nur für eine Woche erhalten. Das auf EU-Ebene geplante Flugembargo gegenüber der jugoslawischen Fluggesellschaft YAT so zu interpretieren, daß Kosovo-Albanerinnen und -Albaner nun nach Montenegro abgeschoben werden können, wertet PRO ASYL als unverantwortliche Mitwirkung an einem systematischen Vertreibungsprozeß.
- Gern verweisen die Innenminister auf die Lageberichte des Auswärtigen Amtes, um von Schutzregelungen wie der Anwendung des § 54 AuslG keinen Gebrauch machen zu müssen. Diese Berichte sind jedoch oft von diplomatischen Rücksichtnahmen und »Zugeständnissen« gegenüber der jeweiligen Regierung bestimmt oder nach der politischen Opportunität der Regierungspolitik abgefaßt. So wurde im Lagebericht zur BR-Jugoslawien immer wieder auf die Sprachregelung der jugoslawischen Regierung zurückgegriffen, die Oppositionelle und Rückkehrer als „Terroristen“ bezeichnet. Daß die von vielen Menschenrechtsorganisationen geäußerte Vermutung einer absichtsvollen Verharmlosung der Menschenrechtssituation auch im Falle des Kosovo zutrifft, zeigt die Tatsache, daß neuerdings Bedienstete des Bundesamtes an die Deutsche Botschaft in Jugoslawien abgestellt werden, um bei der Erstellung des Lageberichts des Auswärtigen Amtes mitzuwirken, der dann zur Grundlage bei Asylentscheidungen und bei Abschiebestoppregelungen der Innenminister genommen wird. Was das BAFL hier verschleiernd „Unterstützung der Auslandsvertretungen“ nennt, ist ein drastischer manipulativer Eingriff ins Asylverfahren und in die Asylpolitik – mit dem Ziel vorweggenommener mundgerechter Ablehnungsbescheide oder geschönter Darstellungen der Lage vor Ort.
Diese wenigen Beispiele kennzeichnen den Charakter einer Politik, deren oberste Maxime bei der Wahrnehmung von Konflikten in der Abschottung vor Flüchtlingen besteht. Das ist die verengte Sichtweise und kurzsichtige Perspektive der Politik eines Landes, das – nach Jahren historisch bedingter Abstinenz – Weltpolitik aktiv mitgestalten will und darüber seine besondere Verantwortung und Verpflichtung gegenüber Menschenrechten und Flüchtlingsschutz aus der eigenen Geschichte zu verdrängen und zu vergessen scheint.
Dagegen ist die Forderung nach einer zivilen Politik zu stellen, die nationale Borniertheit überwindet und Flüchtlingen aus dem Kosovo Schutz und Hilfe gewährt. Die Forderungen und Appelle von Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen sowie des Europäischen Flüchtlingsrates ECRE an die Verantwortlichen in den jeweiligen Ländern müssen umgesetzt werden. Dazu gehören:
- Da es im Kosovo erwiesenermaßen zu systematischen Verletzungen der Menschenrechte kommt, die den Charakter einer Verfolgung haben und daher unter die Genfer Flüchtlingskonvention fallen, muß das Schutzbedürfnis asylsuchender Menschen aus dem Kosovo anerkannt werden. Die Verpflichtung der Unterzeichnerstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention, keine Flüchtlinge, die um Asyl ersuchen, an den Grenzen zurückzuweisen, gilt absolut.
- Es ist klar, daß es weder im Kosovo noch in Montenegro oder in Serbien eine interne Fluchtalternative gibt, die die Ablehnung eines Asylgesuches rechtfertigen könnte.
- Die EU-Innen- und Außenminister sind gefordert, unverzüglich eine EU-Sonderkonferenz einzuberufen, um ein humanitäres Konzept und Sofortprogramm zur Aufnahme von Kosovo-Flüchtlingen zu entwickeln, mit dem UNHCR abzustimmen und finanzielle Mittel dafür bereitzustellen.
- »Lastenverteilung« heißt, daß alle EU-Staaten entsprechend ihrer Bevölkerungszahl, der wirtschaftlichen Kapazität und Infrastruktur ihrer Verantwortung gerecht werden und Flüchtlinge aufnehmen.
- Das Konzept der »Regionalisierung«, d.h. die Unterbringung der Flüchtlinge möglichst nahe ihrer Heimat, muß auch als Anknüpfung an frühere Bindungen und Bezugspunkte verstanden werden, an sprachliche, kulturelle, familiäre und Arbeitsbeziehungen. Es ist nachvollziehbar und verständlich, daß sich viele bedrohte Flüchtlinge zu ihren Verwandten nach Deutschland begeben. Von 400.000 Kosovo-Albanerinnen und -Albanern in Deutschland leben 2/3 als Arbeitsmigrantinnen und -migranten seit vielen Jahren hier.
- Ein Abschiebestopp in die BR-Jugoslawien ist unverzüglich zu erlassen.
- Das Rückübernahmeabkommen ist aufzukündigen.
Die Frage, ob Deutschland Flüchtlinge aus dem Kosovo aufnehmen soll, ist uneingeschränkt zu bejahen. Was derzeit im Kosovo geschieht und was die Zivilbevölkerung zu erleiden hat, ist ohne Zweifel als staatliche politische Verfolgung zu bewerten. Es ist unverantwortlich, daß deutsche Politiker angesichts der Dimension der Vertreibung und der humanitären Erfordernisse die anstehenden Probleme prioritär unter dem Gesichtspunkt der Verhinderung der Flüchtlingsaufnahme angehen. Selbst bei schwer verletzten und frisch operierten Opfern des tragischen Busunfalls von Weißenborn, die alle aus dem Kosovo stammen, liegen die Abschiebeverfügungen auf dem Nachttisch – ein Sinnbild für die politische Kultur dieses Landes und den Umgang mit Menschen, die nur mit knapper Not Kriegswirren und existentiellen Gefahren entrinnen konnten? Angesichts der dramatisch zugespitzten Lage und des wachsenden Flüchtlingselends sind Deutschland, aber auch andere EU-Staaten, dringend gefordert, alle Völkerrechtsinstrumente zum Schutz von Flüchtlingen anzuwenden und voll zur Geltung zu bringen.
Heiko Kauffmann ist Sprecher von PRO ASYL