W&F 2001/3

Hilfsorganisationen im Geflecht staatlicher Interessen

von Thomas Seibert

Im Kosovo hat sich bestätigt, was sich nach dem Irak-Krieg andeutete – Hilfsorganisationen werden in staatliche »humanitäre Interventionen« integriert. Damit verlieren sie nicht nur ihren Nimbus der Neutralität. Vor allem erfüllen NGOs einen der Hauptzwecke von Interventionen: Im Zusammenspiel mit dem militärischen Einsatz helfen sie bei der Abwehr von Flüchtlingsströmen in Not- und Katastrophenfällen.
Mit Beginn des als »humanitäre Intervention« deklarierten NATO-Kriegs kam es im Kosovo zu Massenvertreibungen: Serbische Milizen, Guerillaoperationen der UCK und die Angriffe der NATO-Luftwaffe zwangen 680.000 Menschen zur Flucht in die Nachbarstaaten.1 Die serbische Polizei trieb die Flüchtlingstrecks ins Grenzgebiet oder brachte sie per Bus und Bahn direkt zu den Grenzübergängen. In enger Kooperation mit internationalen Hilfs- und Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) errichtete die NATO dann auf mazedonischem und albanischem Gebiet ein ausgedehntes System von Auffanglagern. In ihnen waren den Flüchtlingen Kontakte zur Außenwelt so gut wie unmöglich, BesucherInnen gelangten erst nach strengen Einlasskontrollen und langen Wartezeiten in die von hohen Drahtzäunen umschlossenen und von bewaffneten Polizeipatrouillen mit scharfen Hunden bewachten Lager.2

Damit übten die NGOs quasi-staatliche Funktionen in der Festsetzung und Kontrolle der Internierten aus: Sie überwachten den »Grenzverkehr«, sammelten und erfassten die erschöpften, desorientierten und z. T. traumatisierten Menschen und organisierten deren Verteilung in die bis weit ins Landesinnere Mazedoniens und Albaniens gestaffelten Zeltstädte. In den Lagern sicherten die NGOs die Unterbringung, Ernährung und medizinische Versorgung der Vertriebenen.3

Natürlich war es unter den gegebenen Umständen gerechtfertigt und erforderlich, den Opfern Unterkunft und Hilfsgüter bereitzustellen. Entgegen der eigenen Verpflichtung auf »humanitäre Neutralität« wurden die NGOs aber politisch und materiell zur Kriegspartei. Politisch, weil sich die allabendlich live gesendeten Bilder des Lagerelends und der engen Kooperation von NATO- und NGO-Personal bestens in die militärhumanistische Propaganda der »internationalen Staaten- und Wertegemeinschaft« einfügte. Materiell, weil ohne die Hilfsdienste der NGOs der Fortgang der Kampfhandlungen unmöglich geworden wäre, mehr noch, weil die Lager selbst zum Einsatz im Kampf der Kriegsparteien wurden.

Manche NGOs haben den Status der Kriegspartei sogar willentlich und offensiv akzeptiert. Dabei ging der Chef des Notärztekomitees Cap Anamur, Rupert Neudeck, so weit, die Aufnahme von Flüchtlingen in Europa – und d.h. die reale Alternative zur Lagerinternierung – kategorisch abzulehnen, weil „mit dem Ausfliegen“ ein Signal gesetzt würde, „dass man den Kosovo nicht zurückhaben“ wolle. Deswegen solle nicht „die Erwartung geweckt (werden), es könnten am Ende Hunderttausende nach Mitteleuropa kommen“ (Dietrich/Glöde, S. 116, siehe Anm.1). Inniger kann die Zusammenarbeit zwischen politischem Staat und »ziviler Gesellschaft« gar nicht ausfallen: Das im hilfserprobten Humanitarier personifizierte Weltgewissen legitimiert in einem Atemzug den Angriffskrieg der »Staatengemeinschaft«, das Menschen verachtende Flüchtlingsregime im eigenen Land und die ethnizistisch-rassistische Ideologie, die beide, den Krieg und das Flüchtlingsregime, miteinander vermittelt.

Unmittelbar nach Kriegsende kehrte der Großteil der Flüchtlinge ins Kosovo zurück, wo Anfang Juni ‘99 64 % der Häuser schwer und weitere 20 % leicht beschädigt, 40 % der Wasserversorgung durch Viehkadaver und Leichen kontaminiert und 80 % der Kornproduktion vernichtet waren. Unter diesen Bedingungen richtete die NATO ein Protektorat ein, dessen Verwaltung offiziell der United Nations Mission in Kosovo (UNMIK) übertragen wurde. Deren Statthalter – an ihrer Spitze Bernard Kouchner, Gründer und langjähriger Präsident der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen – teilten sich die Macht von Anfang an mit der »Kosovo-Befreiungsarmee« UCK.4

Im Protektoratsregime fällt den NGOs eine zentrale Rolle zu. Als in den NATO-Staaten große Teile der Mittel aus den Etats für Entwicklungszusammenarbeit für den Kosovo umgewidmet wurden, zogen die auf staatliche Fördermittel angewiesenen NGOs reihenweise mit – auch hier unter dem Banner der »Neutralität«. Damit sind sie nicht nur der NATO-Politik dienstbar, sondern zugleich dem serbischen Regime und der UCK: Die massiven Geldzuwendungen zerstören den Rest der noch während des Krieges lebendigen Institutionen der albanischen »Parallelgesellschaft«, die so viele Jahre der Belgrader Diktatur widerstanden hatten. An deren Stelle treten jetzt finanziell potente und technisch perfekte ausländische NGOs – allein im gesundheitspolitischen Bereich sind es mittlerweile 300 Büros. Um deren Arbeit untereinander zu koordinieren, ist das Kosovo nicht nur in getrennte »Schutzzonen« der einzelnen Besatzungsmächte, sondern auch in sog. »Areas of Responsibility« (AOR) unterteilt worden, die jeweils unter Federführung einer NGO stehen.5 Gemäß eines vom UNHCR aufgestellten Plans koordinieren diese Organisationen die Verteilung der Lebensmittel und Hilfsgüter, entweder in Eigenarbeit oder in Zusammenarbeit mit sog. Private Volunteer Organisations (PVOs). Die Arbeit in solchen Organisationen ist zur einzig sicheren Einkommensquelle vieler Kosovaren geworden – und nicht wenige der PVOs sind Unterorganisationen der UCK.

Lehren aus dem letzten Krieg

Dem Krieg ums Kosovo kommt in mehrfacher Hinsicht paradigmatische Bedeutung zu. Zunächst einmal ist sichtbar geworden, wie die dominanten Staaten der Neuen Weltordnung diese Ordnung verteidigen werden. Sichtbar wurde auch, wer dabei zu den »Hauptfeinden« zählt: Menschen, die vertrieben werden oder sich Unterdrückung, Ausbeutung und materieller Not durch Migration entziehen wollen. Die Weltordnungspolitik der NATO-Staaten ist zu einem erheblichen Teil eine rassistisch und ethnizistisch begründete Migrationspolitik. Sichtbar wurde zuletzt, dass eine so verstandene Weltordnungspolitik auf einer »public private partnership« beruhen wird, deren Kern die systematische Integration von NGOs bildet.

Dreh- und Angelpunkt der Migrationspolitik ist die Ersetzung des in der Genfer Konvention niedergelegten individuellen Rechts auf Asyl durch die freiwillige und zeitlich begrenzte Aufnahme von bestimmten Kontingenten ethnisch definierter Flüchtlingsgruppen. Vorab soll allerdings dafür gesorgt werden, dass das Gros der potenziell Asylsuchenden den eigenen »Heimatboden« gar nicht erst verlassen kann. Wie das zu organisieren ist, wurde erstmals während des Golfkriegs von 1991 im Irak vorgeführt: Nach dem Waffenstillstand zwischen dem Regime Saddam Husseins und der US-amerikanisch dominierten Anti-Irak-Koalition kam es zu Aufständen der schiitischen und der kurdischen Minderheit. Die Aufständischen rechneten auf die Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft, die während des Kriegs massiv zur Erhebung gegen Hussein aufgerufen hatte. Allerdings blieb jede Hilfe aus: Die Anti-Irak-Koalition hatte mit der Schwächung des Diktators bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des Regimes selbst und vor allem bei Wahrung der territorialen Einheit des Irak ihr Ziel erreicht. Die humanitären Koalitionäre sahen tatenlos zu, als die irakische Luftwaffe Napalm und Phosphor gegen die Aufständischen einsetzte und nachrückende Truppen die Überlebenden in die Flucht trieben. Wenig später saßen rund 400.000 eingekesselte kurdische Flüchtlinge vor der verschlossenen türkischen Grenze fest. Statt die Türkei gemäß den Verpflichtungen der Genfer Flüchtlingskonvention zur Öffnung ihrer Grenzen zu nötigen, richtete die NATO auf irakischem Territorium – d.h. im Kriegsgebiet selbst und damit unter neuerlicher Verletzung der Flüchtlingskonvention – mehrere kleine Schutzzonen – die sog. Save Havens – ein, in die die Flüchtlinge im Rahmen der Operation »provide comfort« zurückgeführt wurden.

In den nun von verschiedenen kurdischen Milizen kontrollierten Gebieten bildeten die Kurdische Demokratische Partei (KDP) und die Patriotische Union Kurdistans (PUK) eine Koalitionsregierung. Das kurdische Autonomiegebiet blieb allerdings vollständig von den Hilfsdiensten und -lieferungen der internationalen NGOs abhängig, denen zugleich jede offizielle Kooperation mit der kurdischen Regierung untersagt war. Weil die meisten NGOs an einer solchen Kooperation auch gar nicht interessiert waren, bildete sich recht bald eine Parallelstruktur von kurdischer Autonomie einerseits und NGO-Protektorat andererseits.

Dabei investierten die NGOs Millionen Dollar in Hilfs- und Entwicklungsprojekte, die ohne Zustimmung, ja oft auch ohne jede Absprache mit den kurdischen Selbstverwaltungsorganen durchgeführt wurden. Diese ermöglichten den alliierten Regierungen direkte Interventionen in die autonomen Gebiete: Unter dem Vorwand, die Verwendung ihrer Hilfsmittel kontrollieren zu wollen, reisten Regierungsdelegationen aus den USA oder Europa frei im Land umher und entfalteten dabei eine umfangreiche Schattendiplomatie, in der sie gemeinsam mit den NGOs und kooptierten kurdischen Führern die Angelegenheiten entschieden, die eigentlich von der gewählten Regierung und dem gewählten Parlament zu entscheiden gewesen wären. Dabei unterhielt bspw. das der US-Regierung angeschlossene Office for Desaster Aid (OFDA) zur Begleitung der mit jährlich 30 Millionen Dollar finanzierten Nothilfeprojekte landesweit eine eigene Verwaltungsstruktur, der – offiziell zur »Projektevalution« – auch Offiziere des US-Militärs angehörten.

Der geballten ökonomischen und politischen Macht der aus Nothilfebudgets finanzierten UN- und NGO-Strukturen hatte die kurdische Autonomie wenig entgegenzusetzen. Dabei beschränkte sich das Gros der NGOs darauf, Notunterkünfte und provisorische Wasserversorgungssysteme einzurichten und tonnenweise Nahrungsmittel und Medikamente zu verteilen, statt den Wiederaufbau von Produktionsanlagen, die Schaffung von dauerhaften Erwerbsmöglichkeiten und die Förderung autonomer sozialer Strukturen zu unterstützen. Einzelne Versuche, die Projektarbeit politisch mit der kurdischen Autonomie abzustimmen und sich dabei an deren Maßgaben auszurichten, wurden massiv behindert und unterdrückt. Dabei kam es zu einer breiten Koalition, in der das Regime in Bagdad mit den ebenfalls durch kurdische Oppositionsbewegungen angefochtenen Regimes in Teheran und Ankara und die »internationale Staatengemeinschaft« – EU und USA – zwanglos zusammenwirkten. Gemeinsames Ziel war die Stabilisierung der im Krieg neu justierten Herrschaftsverhältnisse, die zu diesem Zeitpunkt eben nur noch durch die kurdischen Autonomieansprüche bestritten wurden. (s. Kasten).

Was 1991 noch ein durch unmittelbare Not begründeter und insofern tatsächlich humanitär gerechtfertigter Bruch mit der Genfer Konvention war, ist im Kosovo methodisches Kalkül und Strategie geworden. Politisches Ziel ist nicht mehr der Schutz von, sondern der Schutz vor Flüchtlingen. Die systematische Abschottung der »Festung Europa« vor der »Flüchtlingsgefahr« ist der wahre Erfolg der »humanitären Intervention«.6

Die Erfahrungen der »humanitären Intervention« in Jugoslawien und ihrer Vorläufe im Irak und anderswo hat die NATO anlässlich ihres 50. Jahrestags offiziell zur Strategie erhoben. Das Neue Strategische Konzept skizziert ein „breites Spektrum militärischer und nichtmilitärischer Risiken“ für die Sicherheit des Bündnisses (Das strategische Konzept des Bündnisses. Presse- & Informationsamt der Bundesregierung, Bulletin 24, 3.5.99). Dazu gehören: „Ungewissheit und Instabilität im und um den euro-atlantischen Raum sowie die mögliche Entstehung regionaler Krisen an der Peripherie des Bündnisses (…), ethnische und religiöse Rivalitäten, Gebietsstreitigkeiten, (…) die Verletzung von Menschenrechten und die Auflösung von Staaten (…), Akte des Terrorismus, der Sabotage und des organisierten Verbrechens sowie der Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen. Die unkontrollierte Bewegung einer großen Zahl von Menschen, insbesondere als Folge bewaffneter Konflikte, kann ebenfalls Probleme für die Sicherheit und Stabilität des Bündnisses aufwerfen.“ Dieses wahrhaft globale Bedrohungsszenario erfordere „militärische Fähigkeiten, die für das gesamte Spektrum vorhersehbarer Umstände wirksam sind.“

In diesem Szenario fehlen nur noch die NGOs. Und tatsächlich ziehen auch hier einige gleich mit: So schlägt etwa ein von der Forschungs-NGO Centre for European Policy Studies (CEPS) erstelltes Arbeitspapier der EU-Kommission vor, Kroatien, Albanien, Mazedonien, Bosnien und einem von Milosevic befreiten Jugoslawien ab 2000 bzw. 2002 den Status von »New Associate Members« (NAM) zu verleihen – eine Art virtuelle EU-Mitgliedschaft ohne jegliches Mitbestimmungsrecht. Bis zum Jahr 2006 sollen die NAMs bis zu 5 Milliarden Euro erhalten. Diese Gaben sollen allerdings an die bedingungslose Unterwerfung unters Regime der Zentralbank und „an die Zustimmung zu den jeweils erforderlichen Kontrollen und Maßnahmen durch die EU gekoppelt“ werden. Dazu zählt insbesondere eine „EU-polizeiliche oder paramilitärische Aufsicht an Häfen und Grenzen, um die Korruption ein für allemal zu beseitigen.“ Mit Bezug auf die für die Einreise der MigrantInnen nach Europa zentralen Häfen Albaniens schlägt das NGO-Papier vor, dass „die Zollposten von EU-Zollämtern nicht nur beraten, sondern geführt werden, Polizeikräfte und paramilitärische Einheiten, vorzugsweise aus Griechenland und Italien, könnten den Zustrom illegaler Migration kontrollieren, insbesondere den über das Adriatische Meer, dem an der Albanischen Küste viel effektiver zu begegnen wäre, als nachts Schnellboote auf offener See zu jagen. Die einheimischen Polizeikräfte könnten eine Zeitlang von EU-Bürgern geführt und durch paramilitärische Kontingente geschützt werden.“ (CEPS, A System for Post-War-South-East-Europe. Brüssel, Mai 1999; zit. nach Dietrich/Glöde, S. 55f.)

Allerdings sind nicht alle NGOs dem Marsch ins Kosovo gefolgt. So haben die Aktionsgemeinschaft Solidarische Welt, medico international und WEED den Krieg der NATO strikt verurteilt und die „emanzipatorischen Teile der Zivilgesellschaft“ in einer gemeinsamen Erklärung aufgefordert, „alles in ihren Möglichkeiten Stehende zu unternehmen, um den demokratischen Kräften innerhalb Jugoslawiens und der anderen Länder der Region in ihrem Widerstand gegen die eigenen nationalistischen Regime wie gegen die militarisierte Großmachtpolitik der NATO-Staaten beizustehen.“ Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen hat sich zwar im Kosovo engagiert, in einer öffentlichen Erklärung aber demonstrativ auf die Finanzierung ihrer Hilfsleistungen durch staatliche Gelder verzichtet. Und in einem dem Koordinierungsausschuss Humanitäre Hilfe, einem Beratungs- und Vermittlungsgremium von Bundesregierung und NGOs, vorgelegten »Positionspapier« verwahren sich die im Verband Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen (VENRO) zusammengeschlossenen NGOs ausdrücklich gegen den „zunehmenden Trend zur Verstaatlichung und Instrumentalisierung der humanitären Hilfe“ im Zusammenhang mit dem „Umbau der Bundeswehr zu einer militärischen Interventionstruppe, die in Europa und den angrenzenden Regionen im Rahmen der EU, NATO oder UNO Krisen bewältigen und politisch-strategische Interessen der Bundesregierung durchsetzen soll.“7 Im Weiteren begründet VENRO seine Position jedoch damit, dass die »neutralen« NGOs die anfallenden Aufgaben doch effizienter und kostengünstiger erledigen könnten als das Militär und andere staatliche Organisationen.

Formal gesehen soll das Neutralitätsgebot der humanitären Hilfe den NGOs die »überparteiliche« Parteinahme auf der Seite der Opfer politischer Konflikte ermöglichen. Ihrer Instrumentalisierung für die Weltordnungs- und Flüchtlingsabwehrpolitik können die NGOs aber nur entgehen, wenn sie ihre Neutralität in einer umfassenden Staats-, Gesellschafts- und Herrschaftskritik begründen. Diese muss eine Bestimmung der internationalen Macht- und Ausbeutungsverhältnisse einschließen, in der imperialistische Strategien – und um solche handelt es sich beim Neuen Strategischen Konzept der NATO ebenso wie bei der im Balkan, in Osteuropa und im Mittelmeerraum praktizierten Politik einer konzentrisch gestaffelten EU-Erweiterung – auch als solche benannt werden. Für eine dergestalt aufgeklärte Neutralität schließt die Parteinahme auf der Seite der Opfer dann auch die kritische Solidarität mit den Parteien ein, in denen diese ihre Interessen selbst zu organisieren suchen – ein stets prekärer Schritt, mit dem NGOs unvermeidlich ins Handgemenge geraten, auch ins Handgemenge mit dem eigenen Neutralitätsgebot. Herrschaftskritik muss sich deshalb auch und gerade auf die Machteffekte der humanitären Hilfe selbst richten: Dort, wo sie von Herrschaftsstrategien funktionalisiert wird, aber auch dort, wo sie solcher Funktionalisierung in kritischer Solidarität mit denen zu entkommen sucht, die sich ihrer Beherrschung widersetzen.

web-Adressen

von Migrationspolitischen Institutionen bzw. Nicht-Regierungs-Organisationen, die die Abschottung der Festung Europa konzeptionell und technisch unterstützen:

Inter-governmental Consultations on Asylum, Refugee and Migration Policies (IGC): www.igc.ch

International Organisation on Migration (IOM): www.iom.int

International Centre for Migration Policy Development (ICMPD): www.icmpd.org

Cenre for European Policy Studies (CEPS): www.ceps.be

Informationen der UNO bzw. des United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA): www.relief.web.int.

Gegeninformationen: Forschungsstelle Flucht und Migration (FFM): www.berlinet.de/mh/ffm medico international: www.medico.de

Möglichkeiten zum Eingreifen: kein mensch ist illegal: www.deportation-alliance.com www.libertad.de/projekte/depclass/demo

Neutrale NGOs?

Die Hilfsorganisation medico international beteiligte sich 1991 an der NGO-Hilfe für die im Rahmen der Operation »provide comfort« zurückgeführten kurdischen Flüchtlinge und setzte dabei die bis dahin für medico-Verhältnisse immense Summe von über 10 Millionen DM ein, von denen 7 Millionen aus Mitteln des Auswärtigen Amtes stammten. Gegen die Direktiven der Bundesregierung suchte medico jedoch die enge Kooperation mit den Organisationen und Institutionen der kurdischen Autonomie und beteiligte sich etwa am flächendeckenden Aufbau der Gesundheitsversorgung in der Region um die Stadt Suleymania. Von hieraus wurden in den folgenden Jahren jeweils zwischen 2 und 4 Millionen DM umgesetzt – ein erheblicher Teil davon für den Auf- und Ausbau der Selbstverwaltungsorgane. Damit widersetzte sich medico nicht nur der eigenen Regierung, sondern – und hier zeigt sich das Dilemma eines politisch verstandenen NGO-Engagements – geriet wider Willen auch zwischen die innerkurdischen Fronten. Die Selbstverwaltungsstrukturen der Region Suleymania waren nämlich durch die PUK besetzt, deren Koalition mit der KDP immer brüchiger wurde. 1994 zerbrach die Koalition zwischen KDP und PUK; für die KDP wurde medico jetzt – objektiv nicht ganz zu Unrecht – zum Gegner im internen Krieg. KDP-Chef Barzani beschwerte sich bei der EU und beim Auswärtigen Amt und wurde dabei von der türkischen Regierung unterstützt, die die medico-Aktivitäten in den kurdischen Flüchtlingslagern auf türkischem Boden unterbinden wollte. Die Bundesregierung drohte mit der Streichung jeglicher Zuschüsse, wenn medico nicht auf den Pfad humanitärer Neutralität zurückkehren würde. Als die türkische Regierung den medico-MitarbeiterInnen den Zugang nach Suleymania sperrte, war das Kurdistan-Projekt gescheitert. Das Büro wurde geschlossen und mitsamt den diversen Einzelprojekten an eine eilends aufgebaute kurdische NGO übergeben.

Weil die Errichtung einer substanziellen kurdischen Autonomie unmöglich war, verstärkten sich in der Folge noch die Raub- und Kriegsökonomie und die clangesellschaftlichen Strukturen. Als sich 1996 die KDP offen mit dem irakischen Regime verbündete und die bis dahin von der PUK gehaltene Stadt Erdil eroberte, löste das eine Massenflucht von Zehntausenden KurdInnen aus den von der PUK kontrollierten Gebieten in Richtung Iran aus. In solchen und ähnlichen Konflikten bleibt den Flüchtlingen kaum etwas anderes übrig, als sich der einen oder anderen Partei anzuschließen. Können Hilfsorganisationen vor diesem Hintergrund Neutralität bewahren?

Weitere Informationen zur gegenwärtigen Lage der KurdInnen im Irak über www.medico.de sowie über www.wadinet.de . Empfehlenswert noch immer die Broschüre Flucht aus dem »sicheren Hafen«, Begleitheft zu einer Fotoausstellung, die HAUKARI – Arbeitsgemeinschaft für internationale Zusammenarbeit organisiert hat.
Infos über: HAUKARI e.V., Wrangelstr. 46, 10997 Berlin, Tel. 030/6121457, Fax 030 – 61702107

Anmerkungen

1) Für diese und die folgenden Zahlenangaben vgl. Helmut Dietrich/Harald Glöde, Kosovo. Der Krieg gegen die Flüchtlinge, Hrsg. von der Forschungsstelle Flucht und Migration, Berlin 2000.

2) In einem Lager in Albanien verwalteten österreichische Militärs in Kooperation mit österreichischen NGOs (Rotes Kreuz, Malteserorden, Caritas, Diakonie) ca. 1000 Flüchtlinge und setzten zu deren Überwachung und Schutz neben Wachtürmen und dreifachem Stacheldrahtverhau beinahe 500 Soldaten ein.

3) Im Netz zwischen den NATO-Truppen, den diversen Regierungen und den NGOs kommt der in Genf ansässigen International Organization for Migration (IOM) eine zentrale Rolle zu. Sie ist die international führende zwischenstaatliche Institution der Migrationspolitik, und zwar sowohl in logistischer, operationaler wie in konzeptioneller Hinsicht. Wo immer Kriege, Aufstände, Aufstandsbekämpfung oder diktatoriale Repression zu Massenfluchten führten, war die IOM zur Stelle – nach eigener Auskunft stets dem „Prinzip“ verpflichtet, dass „eine humane und geregelte Migration zugleich den Migranten und der Gesellschaft dient“.

4) Die UCK sollte eigentlich gleich nach Waffenstillstand demobilisiert und entwaffnet werden. Als die »warlords« die Herausgabe der Waffen verweigerten, wandelten UNMIK und NATO die Guerilla in ein hilfspolizeiliches Kosovo Corps um. Sie wurden ausgebildet zu einer »civilian emergency and humanitarian force«. Bis jetzt ist die künftige »humanitarian force« jedoch vornehmlich in den nun gegen SerbInnen und Roma gerichteten »ethnischen Säuberungen« engagiert.

5) So fiel unmittelbar nach Kriegsende die Region Pec an Mercy Corps International, die Region Djakovica an die Organisation Solidarité, die Region Prizren an die Catholic Relief Services, die Region Urosevac an CARE, die Region Gnjilane an das International Rescue Committee, die Region Pristina gemeinsam an Action Against Hunger und die Organisation Children’s Aid Direct und die Region Mitrivica an Oxfam.

6) Da ist es nur konsequent, dass in der EU aufgenommene Flüchtlinge aus dem Kosovo und aus Bosnien in ihre »Schutzzonen« abgeschoben werden. Diese bieten gegenüber dem Kurdenprotektorat in den KDP- bzw- PUK-Gebieten, in die nicht mehr nur kurdische, sondern mittlerweile auch irakische Asylsuchende abgeschoben werden, die sich bis nach Europa durchschlagen konnten, den Vorteil, unmittelbar von den Kommandeuren der NATO und den Agenturen europäischer Hilfsorganisationen verwaltet zu werden.

7) Humanitäre Hilfe von Staats wegen? Positionspapier des VENRO zur Klausurtagung des Koordinierungsausschusses Humanitäre Hilfe vom 16.-18. Juni 2000.

Thomas Seibert ist Mitarbeiter von medico international.
Der Artikel ist zuerst erschienen in iz3w 248/00. Er wurde vom Autor für W&F überarbeitet.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2001/3 Ökonomie der Bürgerkriege, Seite