W&F 1998/1

Hinrichtungen in den USA

Zum Verhältnis von Gewalt und Zivilisierung

von Norbert Spangenberg

Es ist nicht unproblematisch, als Deutscher über die barbarischen Züge der USA zu schreiben, weil dieses Land – zumal bei linken Intellektuellen – eine höchst zwiespältige Rolle bei der eigenen Identitätsfindung gespielt hat bzw. noch spielt. Unsere kritische Perspektive auf die Verhältnisse in den USA ist durch diesen archimedischen Punkt der neueren deutschen Geschichte geprägt: das kollektive Schuldtrauma über den während der Nazizeit begangenen Massenmord. Die schuldentlastenden Entstellungen der eigenen Vergangenheit ebenso wie die offizielle Vergangenheitspolitik legt sich wie ein Schleier der Täuschung auf unser Verständnis von Inhumanität und Gewalt in den USA.

Die Ablehnung der Todesstrafe gleicht in den meisten zivilisierten Ländern einem dünnen Firnis. So plädierten die Deutschen zum Zeitpunkt der Schleyerentführung in Umfragen zu 2/3 für die Einführung der Todesstrafe. Ein endgültiger Fortschritt der Zivilisation ist bisher nur in den Verfassungen fortschrittlicher Demokratien verankert, nicht in den Herzen der jeweiligen Mehrheiten. Sind die USA in der Einschätzung der condition humaine nicht einfach realistischer, indem sie die »Humanitätsheuchelei« ablehnen? Müssen wir die Hoffnung, daß der Mord als Mittel zur Integration durch zivilere Techniken ersetzt werden kann, letztlich aufgeben?

Enzensberger glaubt, daß die deutsche Nachkriegsrepublik ihre moralische Erneuerung auf einer von oben lancierten Lebenslüge aufgebaut hat. Diese hieß: Wir sind alle Demokraten. Aber diese Überzeugung war eine von den USA geliehene. Wir wollten als ein Mosaikstein der westlichen freien Welt noch amerikanischer als die Amerikaner sein: demokratisch, freiheitsdurstig und automobil, den Feind fest im Visier, der im Osten diesmal nicht die jüdisch-bolschwistische, sondern die kommunistische Weltherrschaft anstrebte. Das damit verbundene Beschweigen der eigenen Vergangenheit verführt speziell uns Deutsche zu einer Verkennung der Tatsache, daß Zivilisation auf der Zivilisierung von Gewalt aufbaut und – so die hier vorgebrachte Vermutung – diese Zivilisierung langfristig zu einer Steigerung der Gewaltverhältnisse führt, die erneut zivilisatorisch gebändigt werden müssen. Wenn wir über die USA urteilen wollen, müssen wir in uns selbst erst verstehen, warum wir den Wildwestfilm, den Serienkrimi, den Ghetto-Rap aufregend finden, aber die private Bewaffnung, den Rassismus, die Todestrafe, den Vietnamkrieg, den Krieg der Sterne, den exzessiven Hamburger-Rindfleischkonsum als Zeichen von fundamentalistischer Militanz oder von unerträglicher Unkultiviertheit erleben.

Die USA bedienen uns mit den neuesten idealisierten Produkten des Fortschritts und zugleich mit der antizipierten eigenen Dekadenz. Lifton und Marcusen (1990) glauben, daß die von den Nazis massenhaft erzeugte genozidale Mentalität und deren psychologische Mechanismen der Dissoziation und Abstumpfung sich fortpflanzen in der Idee der atomaren Abschreckung durch die Gemeinde der Nuklearwissenschaftler und -politiker, deren quasireligöses Gründungsverbrechen Hiroshima ist. Auch demokratische Gesellschaften sind nicht gegen die Gefahr gefeit, sich in den Dienst einer Ideologie totaler Vernichtung zu stellen.

Die Gründe der Kulturgründung

Die psychoanalytische Kulturtheorie zeichnet sich durch besonders »düstere Annahmen« über die Stiftung von Sozialität aus. Es sei – so Freud (1912-13) – ein gemeinsam begangenes mörderisches Verbrechen sowie das dadurch begründete Verhältnis der Komplizenschaft und der gemeinsam verleugneten Schuld, die ein Verhältnis der Gleichheit und zugleich ein Zusammengehörigkeitsgefühl stiften würde. Und nicht nur das: Die durch das Verbrechen geeinigte Masse benehme sich hinsichtlich der Fähigkeit zur Unbewußtmachung solcher Kollektivverbrechen wie ein Individuum mit schier unbegrenzter Lebenszeit. Der von den Blutspuren des Verbrechens gereinigte Gründungsmythos konstituiert zugleich so etwas wie ein kollektives Unbewußtes, dessen Verdrängungsschranken häufig durch Tabubruch, weniger durch Einsicht überwunden werden.

Der Anthropologe Girard (1972) hat diese These wesentlich verallgemeinert zugunsten der Theorie von an sozialen Minderheiten oder Außenseitern begangenen Gründungsverbrechen, die eine einigende Funktion haben, indem sie den angesammelten Haß der Gemeinschaft auf sich konzentrieren und damit die Gemeinschaft von unerträglicher Spannung »reinigen«. Die Urform der Einigung großer Kollektive liegt in der Konzentration des Hasses auf einen bzw. wenige, die im Mord ausgestoßen und entfernt werden. Durch diese Stellvertreterrolle werden die ermordeten Opfer zum einigenden Symbol der Gesamtheit, ihnen wird eine magische Machtvollkommenheit zugeschrieben, die sich aus der des Kollektivs speist. Denn dieses einigende Symbol ist zugleich Zeugnis des Verbrechens als auch Zeugnis der Schuld. Wegen dieser Macht, die empfundene Schuld zu erhöhen schon bevor eine verbrecherische Tat erfolgte, wird es gehaßt, so als ob das tote Opfer noch lebte und einen negativen Einfluß geltend machen könnte. Die Neigung zur Wiederholung der Transgression kann nur gebannt werden durch rituelles Gedenken an jenes Gründungsverbrechen. Die Todesstrafe ist ein in diesem Sinne »staatstragendes« Ritual der amerikanischen civil religion.

Der Mord an der indianischen Urbevölkerung, der Menschenraub und die Versklavung der schwarzen, ursprünglich afrikanischen Bevölkerung ist das bis heute im amerikanischen Rassismus fortwirkende Gründungsverbrechen, das identitätsstiftende Bedeutung hat. Das kollektive Komplizenbewußtsein läßt sich an den schuldentlastenden Fälschungen der Plots in den Wildwest- oder Detektivfilmen beobachten.

Die klassische bürgerliche Vertragstheorie etwa von Hobbes oder Rousseau beruht auf der Annahme, daß die durch einen Gesellschaftsvertrag geeinte Mehrheit der Schwachen die tyrannische Neigung der Überlegenen bändigen kann. Sie ist ein Gründungsmythos der sozialen Vernunft, der die Spuren der Gewaltausübung verschleiert, die zur Errichtung eines staatlichen Gewaltmonopols geführt hat. Dieser Blutzoll – so Sofsky (1996, S. 15) – sei unermeßlich. „Sie ist eine Geschichte fortschreitender Zerstörungsmacht. Raubzüge, Kriege, Verfolgungen unter dem Banner gesellschaftlicher Einheit und Gleichheit, das ist der Preis für den inneren Waffenstillstand.“ Und wer schützt den Untertanen vor einem Mißbrauch der monopolisierten und durch Gesetze gebändigten Gewalt? Sofsky meint: „ Das Projekt Ordnung führte die Menschen mitten in einen unendlichen Fortschritt der Gewalt hinein.“ Und sie erzeugt einen pazifistischen Gegenmythos einer ursprünglich »unschuldigen«, pazifistischen Gesellschaft. Freud (1933, S. 283) ist da skeptisch: „Es soll in glücklichen Gegenden der Erde … Völkerstämme geben, deren Leben in Sanftmut verläuft, bei denen Zwang und Aggression unbekannt sind. Ich kann es kaum glauben, möchte gern mehr über diese Glücklichen erfahren.“

Es scheint, daß die janusgesichtige Moderne die Gewaltbereitschaft als auch die Bereitschaft zur Gewaltzügelung gesteigert hat, vor allem durch die neu hinzugekommenen »Vergrößerungstechniken« feindseliger Absichten, d. h. durch die rasante Entwicklung der Militärtechnologie. Diese Entwicklung mündet sowohl in einer pazifistischen als auch in einer genozidalen Mentalität. Die Suche nach immer wieder neuen Einsatzfeldern genozidaler Modernisierung bringt die Sehnsucht nach Demokratie, Mitbestimmung, Pazifismus erst hervor. Das archaische Erbe im Menschen kann offensichtlich nicht durch den Zivilisationsprozeß endgültig veredelt werden. Auch nach Auschwitz und Hiroshima hinterläßt er Schädelstätten von unschuldigen Opfern.

Das Zeitalter des Narzißmus

Jede Gesellschaft, auch jene, die üblicherweise als säkularisiert gelten, bildet eine Form von Religiosität aus, aus der sie ein Gefühl der Gemeinschaft, der Sinnhaftigkeit kultureller Symbole, der Wandlungskraft und der Kreativität bezieht. Man könnte hier viel heranziehen, etwa das Ideal ewiger Jugendlichkeit und Fitness, hinter dem sich zweifellos eine Abkehr vom theistischen Glauben zugunsten einer unter dem Etikett der Gesundheitsfürsorge kamouflierten Selbstvergottung verbirgt, die Idealisierung grenzenloser technischer und militärischer Macht, von grenzenlosem Reichtum usw. Das erste grundlegende Problem einer solchen Narzissierung des Einzelnen durch Allmachtsphantasien besteht darin, daß sie nicht virtualisierbar, sondern leibgebunden und damit Krankheit, Leiden und Verfall preisgegeben sind. Der zweite Schwachpunkt ist die Angewiesenheit auf den Anderen, den Mitmenschen als Arbeitspartner im Rahmen der Arbeitsteilung, als Helfer, als Geschlechtspartner usw. Das narzissierte Ich ist argwöhnisch gegenüber dem Anderen, es sieht in ihm einen Gegenspieler und trachtet ihn zu beseitigen. Eine Gesellschaft aus hochgradig narzißtischen Individuen hat bestimmte Merkmale:

  • Sie ist hochgradig explosiv durch die chronische Asymmetrie zwischen Ansprüchen und erbrachten Gegenleistungen. Hier liegt ein zentrales Motiv für die gewaltigen Einkommensunterschiede, die den Reichen die Anspruchshaltung ermöglicht und den Armen eine egalitäre Gesellschaft nur vortäuscht und die Schuld an ihrer Verarmung einem Mangel an Fleiß, Charakterstärke u.ä. zuschreibt.
  • Sie tendiert, indem sich jeder Einzelne für einzigartig hält, paradoxerweise zu charakterologischer Uniformität.
  • Aufgrund der abgeschwächten libidinösen Bindungen schwankt sie zwischen dem Aggregatzustand extremer Vermassung und dem Aggregatzustand extremer Vereinzelung. Da die Gesellschaft im Zustand der Vereinzelung zu zerfallen droht, bietet sich aufgrund der charakterologischen Uniformität lediglich die Flucht in den Aggregatzustand der Vermassung an. Die im einzelnen Individuum angelegten Archive des verborgenen Grolls und des heimlichen Neids, die eine zwangsläufige Folge der Narzissierung des Ichs sind, führen zu frei flottierenden kollektiven Aggressionspotentialen, die der Kanalisierung durch einen außerhalb der Uniformität stehenden Einzelnen bedürfen.

Die USA ist eine von hohem Sozialneid gekennzeichnete autoritätsaverse »Brüdermasse«, die zur Selbstautorisierung, zum self made man auffordert. Die für die USA typische Lösung, um eine Explosion der narzißtischen Ansprüche zu neutralisieren, sind »vordemokratische« rassistische Verbrechen von der Art des Ku Klux Klan und, bei zumindest formaler Anerkennung der Demokratie, der stellvertretend ausgeführte Präsidentenmord als einzige Möglichkeit zur Revolution vieler vermasster Einzelner. Im Gegenzug ist die Hinrichtung die rituelle Bekräftigung des bedrohten staatlichen Gewaltmonopols, das dennoch tendenziell Spuren des vordemokratischen, unverhüllten Rassismus in sich trägt.

Der erschreckende Archaismus, daß die amerikanische Gesellschaft im Namen des Gesetzes einen Teil ihrer Angehörigen ermorden läßt. stellt eine ritualisierte und verrechtlichte Form des spontanen Lynchmordes dar. „Die öffentliche Hinrichtung ist das sichtbarste Insignium jeder Herrschaft. Was die Folter im geheimen, leistet die Exekution vor aller Augen: die Begründung und Erhaltung politischer und sozialer Ordnung … Hinter dem Gesetz steht der Wegweiser zur Schädelstätte“ (S. 121).

Gewalt und Bedrohungsangst

Die Hinrichtung ist Prototyp einer ausstoßenden Reaktion auf soziale Abweichung, der Täter ist eine Inkarnation des Bösen. Die Krankenbehandlung ist Prototyp einer einschließenden, assimilierenden Reaktion der Gesellschaft, der Kranke ist dann Inkarnation von Schwäche und Verlust. Der strafende Staat, der zunehmend soziale Konflikte durch Kriminalisierung löst, benötigt ein »militantes Menschenbild«, das auf zero tolerance basiert. Dazu muß er Schwäche in Bosheit umwandeln. Es richtet sich gegen Frauen, Kinder, Greise, Schwule, Arme, Bedürftige, gegen Liberalismus, gegen Einfühlung und Emotionalität, gegen alles, was als Anzeichen von Schwäche verstanden werden könnte. Die militante Gesellschaft hat aber das Problem, daß sie Feuer mit Öl zu löschen versucht. Gewalt erzeugt Bedrohungsangst und Bedrohungsangst erzeugt Gewalt. Eine immer rascher sich hochschraubende Eskalation von Bedrohungsangst und Gewaltausbruch in kollektivem Ausmaß führt zu einer Reduktion der vormals zivilen Persönlichkeit auf roheste Seelenregungen. Durch Dissoziation von Angst und Ohnmacht auf den (vermeintlichen) Gegner, indem dieser gewalttätig eingeschüchtert wird, soll das eigene Ich angstfrei gehalten werden. Solche massenpsychologischen »negativen Symbiosen« können durch stellvertretende Morde »kultiviert«, auf ein geringeres Maß an kollektiver Grausamkeit eingeschränkt werden. Die bei Hinrichtungen begangenen Stellvertretermorde sind rituelle Schauspiele, die die eigene Unversehrbarkeit trotz großer Bedrohungsangst feiern. Je größer diese Angst, desto größer ist die Grausamkeit, der erlebte sadistische Triumph und der Jubel der Zuschauer.

Irgendwann ist nur das Opfer noch ein Mensch. Irgendwann könnte ein armer schwarzer Homosexueller durch einen weißen, schwarzeneggerartigen Cowboyroboter virtuell gehenkt werden.

Wenn wir mit Bauman (1994, S. 12) davon ausgehen, daß Kultur nach jener Dauer und Beständigkeit strebt, die dem Leben auf schmerzliche Weise abgeht und daher Tod und Destruktivität auch entscheidende Bedingungen für die kulturelle Schöpferkraft sind, lassen sich verschiedene Unsterblichkeitsillusionen der amerikanischen Gesellschaft skizzieren wie der erwähnte Jugendlichkeitskult. Hierzu gehört die Ausbildung eines kollektiven Verfolgungsparanoids, da sie der Leugnung eigener Gebrochenheit und Leibgebundenheit dient. Das Gegenmittel ist lauernde Wachsamkeit, Verteufelung und möglichste Vernichtung des konstruierten Feindes. Als Weiße sind die Amerikaner in der Rolle von rassistischen Verfolgern, als Auswanderer waren sie ehemals religiös Verfolgte. Als schöpferisches Zentrum eines calvinistisch geprägten Kapitalismus, in dessen Verfassung das Streben nach Glückseligkeit ein Grundrecht ist, verfolgen die Menschen sich wechselseitig aufgrund von Ängsten, nicht reich und erfolgreich, d. h. von den säkularen Heilsgütern ausgeschlossen zu sein. Diese paranoide Grundstimmung findet im ausgeführten Mord Entlastung und Befriedigung. Die Hinrichtung entlastet besonders von Schuldgefühlen, weil sie einem von der Öffentlichkeit gerechtfertigten Strafimpuls entspricht.

Literatur

Bauman, Z. (1994): Tod, Unsterblichkeit und andere Lebensstrategien. (Fischer) Frankfurt.

Canetti, E. (1976): Masse und Macht. 2 Bde. (Hanser).

Diner, D. (1995): Kreisläufe. (Berlin Verlag) Berlin.

Freud, S. (1912-13): Totem und Tabu. Studienausgabe.

Freud, S. (1933): Warum Krieg? Studienausgabe.

Girard, R. (1972): La violence et le sacre. (Grasset) Paris; dt. Das Heilige und die Gewalt. (Fischer) Frankfurt 1992.

Lifton, R. J./Marcusen, E. (1990): The Genocidal Mentality. Nazi Holocaust and Nuclear Threat. (Basic Books) New York; dt. Die Psychologie des Völkermordes. Atomkrieg und Holocaust. (Klett-Cotta) Stuttgart 1992.

Sofsky, W. (1996): Traktat über die Gewalt. (Fischer) Frankfurt.

PD Dr. Dr. Norbert Spangenberg ist Facharzt für Psychotherapeutische Medizin und Dozent am Sigmund-Freud-Institut, Frankfurt.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1998/1 Gewaltverhältnisse, Seite