W&F 2000/1

Ho Chi Minh

Versuch über einen Mythos

von Günter Giesenfeld

Wer sie miterlebt hat, die Friedensdemonstrationen Ende der Sechziger- und Anfang der Siebzigerjahre, der hat die »Ho-Ho-Ho Chi Minh«-Rufe noch im Ohr; skandiert als Protest gegen den Agressionskrieg der USA in Vietnam, als Solidarität mit »David« im Kampf gegen »Goliath«, skandiert aber auch als Ausdruck des Strebens nach gesellschaftlicher Veränderung, nach einer Alternative zum Kapitalismus. Wurde Ho Chi Minh in der Protestbewegung des Westens – neben Che Guevara – zum Symbol für den antiimperialistischen Kampf, so wurde er im eigen Volk – den Sieg selbst nicht mehr erlebend – zum Mythos. Wer war dieser Mann? Günter Giesenfeld – Versuch über einen Mythos:

Ho Chi Minhs Lebensstil hat in bäuerlichen Lebensformen seine Wurzeln und diese Herkunft ist auch der Hintergrund seiner Entscheidung, als Staatsoberhaupt nicht den im Kolonialstil erbauten Palast – den ehemaligen Amtssitz des französischen Generalgouverneurs – zu beziehen, sondern in einem kleinen Holzhaus im Garten nicht weit davon entfernt zu wohnen, das man heute noch besuchen kann.

Diese Bescheidenheit – ein zentrales Element seines Charakters – drückt sich in der Architektur der Monumente, die zu seinem Gedenken erbaut wurden (Mausoleum und Museum) nicht aus, ja deren Existenz an sich steht im Widerspruch zu ihr. Sie war offenbar nicht leitend bei der Planung durch die Architekten und die Partei: Die Verehrung der Bescheidenheit sollte nicht die Form der Bescheidenheit haben.

Es ist wenig sinnvoll, diese Widersprüche als einen »Verrat« am Geist und Vermächtnis Ho Chi Minhs zu kritisieren wie es Robert Kramer und vor ihm viele andere, vor allem im Ausland, getan haben – es müsste dann wenigstens die Frage mit einbezogen werden, ob nicht vielleicht die Bevölkerung Vietnams, entgegen den Vorstellungen des Präsidenten, diese Lösung doch befürwortet und ob der sich selbst durchaus als öffentliche Figur verstehende und inszenierende Onkel Ho allein berechtigt war, über die Art, wie sein Andenken gepflegt werden soll, zu entscheiden.

Für mich symbolisiert etwa die Nachbarschaft des Holzhauses mit dem Mausoleum den Beginn einer Trennung zwischen dem Menschen Ho Chi Minh und dem Mythos desselben Namens, was ebenfalls zunächst keine negative oder positive Feststellung ist. In dem Holzhaus hat man im Obergeschoss sorgfältig alle Dinge des täglichen Lebens von Ho Chi Minh so erhalten, wie sie sich am letzten Tag seines Lebens vorfanden – seine Bücher, den kleinen Radioapparat usw. Und es ist deutlich, dass damit nicht so sehr der Arbeitsplatz eines Staatsoberhauptes assoziiert wird, sondern eher das Hauptquartier einer Widerstandsbewegung. Dieses ist dem Andenken des Menschen Ho Chi Minh gewidmet, die anderen, großen und pompösen Bauten seinem Mythos und der ist auch eine Realität.

Ich glaube, dass die Untersuchung dessen, was man kritisch als Hagiographie bezeichnet hat, ebenso interessant ist wie die Erforschung seines Lebens (in dem es auch noch dunkle Punkte gibt). Der Mythos Ho Chi Minh ist ein geschichtliches Faktum von vergleichbarer Wichtigkeit geworden und diese wächst in dem Maß, wie im Gedächtnis seines Volkes mit dem Wechsel der Generationen dieser Mythos bereits an die Stelle der konkreten Erinnerung zu treten beginnt und sie in naher Zukunft ganz ersetzen wird.

Welches ist also der Gehalt dieses Mythos? Woran denken, glauben oder wovon träumen diejenigen, die ihn im Mausoleum besuchen kommen oder sein Bild in ihrem Haus hängen haben? Welche Botschaft wollen diejenigen vermitteln, die seine Inszenierung architektonisch und ikonographisch planen und durchführen? Es ist sicher vermessen zu glauben, es gäbe – zumal von Europa aus – eine einzige Antwort auf diese Frage. Deswegen versuche ich, mehrere anzudeuten, die einander vielleicht sogar widersprechen.

Als wir vor etwa fünfundzwanzig Jahren auf den Straßen »Ho-Ho-Ho Chi Minh« riefen, wussten wir eigentlich recht wenig über seine Person und die Politik der Partei oder der Befreiungsfront, waren aber überzeugt alles zu wissen, weshalb sich unsere Neugier in Grenzen hielt. Der Name stand damals für das siegreiche vietnamesische Volk, das die größte Militärmacht der Welt herausforderte. Eigentlich aber war die Antikriegsbewegung damals eher eine des Protestes gegen die Feinde Vietnams, in der die Solidarität mit dem leidenden Volk im Vordergrund stand, mit den Opfern der US-amerikanischen Aggression. Und nur in zweiter Linie und zumeist ohne große Sachkenntnis unterstützten wir auch den Entwicklungsweg zum Sozialismus, der in Vietnam eingeschlagen wurde. Der Slogan Ho Ho Ho Chi Minh bezog sich auf den zweiten Aspekt und repräsentierte also eine Minderheit.

Nach dem Ende des Krieges ist nicht nur der Slogan verschwunden, sondern es kennt heute kaum mehr jemand überhaupt Ho Chi Minh. Das scheint mir zwei Gründe zu haben.

Einmal war das Bild Ho Chi Minhs so eng mit dem Kampf des vietnamesischen Volkes gegen die amerikanische Aggression verknüpft, dass es außerhalb Vietnams keine eigenständige Bedeutung hatte, die sich mit der Person selbst verband. Zum Beispiel waren uns damals nur sehr wenige Details seiner Karriere vor 1960 bekannt. So verblasste dieses Gesicht sobald der Krieg aufgehört hatte sehr schnell und verschwand bald vollständig aus unserem Gedächtnis.

Zum anderen ist der Name Ho Chi Minh niemals mit einer Doktrin oder Ideologie verbunden gewesen. Es gibt keinen Ismus, der mit seinem Namen verknüpft ist, wie Marxismus, Stalinismus oder meinetwegen Maoismus. Diese Abwesenheit eines Inhalts von der Art eines politischen Programms trug zur Abstraktheit – und beliebigen Interpretierbarkeit – des Heldensymbols bei.

Ich möchte aus diesem Befund über die europäische Rezeption der Figur eine erste Schlussfolgerung ableiten: Die Tatsache, dass sein Name auch in Vietnam in der Erinnerung an den Kampf gegen den Aggressor so völlig aufgeht, verleiht der Verehrung, die er dort genießt, einen Charakter, der sich signifikant unterscheidet von der Art, wie hierzulande die Erinnerung an große Gestalten der Geschichte, wie Karl den Großen, Bismarck oder de Gaulle etwa, gepflegt wird. Hier steht die Größe und Einmaligkeit der Figur im Mittelpunkt, während man in Vietnam in der Gestalt des Präsidenten die Erinnerung an den eigenen Kampf in Ehren hält. Ho Chi Minh war der Führer des Volkes bei dessen eigenem Kampf und wurde folglich zur Personifikation dieses Kampfes. Niemand würde auf die Idee kommen zu behaupten, er habe ihn geführt (so etwa wie man bei uns gedankenlos sagt »Bismarck hat das Reich geeinigt«, oder »Napoleon hat die und die Schlacht gewonnen«). Vietnams Kampf ist ja dann auch ohne ihn siegreich zu Ende geführt worden. Um es zugespitzt zu sagen, das Mausoleum erfüllt für das vietnamesische Volk auch die Funktion einer Freiheitsstatue.

Ich leite daraus die Feststellung ab, dass seine Verehrung, auch wenn sie in der Perspektive von außen1 manchmal pseudo-religiöse Züge annimmt, nicht in der Gefahr ist, zum Personenkult zu degenerieren. In den Sechzigerjahren hat ein US-Offizier, der im Mekong-Delta stationiert war und sich schon längere Zeit im Lande aufhielt, gesagt: „Sehr einfach. Der Kampf der Guerilla und die Hilfe, die ihnen die Bauern gewähren, geschehen im Namen Ho Chi Minhs, der eine geradezu magische Wirkung hat. Solange unsere Gegner sich auf den »Onkel« stützen können, werden sie durchhalten. Aber Ho Chi Minh ist alt und wird eines Tages sterben. Dann wird in Ermangelung von Anregungen und Einfällen der Widerstand des Vietkong zusammenbrechen.“2

Ein krasses Fehlurteil, selbst wenn man einräumen muss, dass der Tod Ho Chi Minhs kurze Zeit später ein schwerer Verlust war. Aber was da verloren ging, waren konkrete Elemente: seine Erfahrung, sein diplomatisches Geschick, seine Integrationskraft. Nicht aber die »magische« Wirkung einer charismatischen Persönlichkeit.

Ich will in dem Versuch, den Gehalt des Mythos zu bestimmen, noch einen Schritt weiter gehen. Außer dass er zugleich die Abstraktion und Personifikation des Kampfes seines Volkes war (eine Einheit von Distanz und Nähe die typisch ist für volkstümliche Mythen), verkörperte der Name Ho Chi Minh für dieses Volk auch das Bild eines beispielhaften Menschen. Inwiefern aber ist dieses Menschenbild beispielhaft?

Gehen wir von dem aus, was in unserer Öffentlichkeit über ihn als Menschenbild im Umlauf ist, entworfen und immer wieder bestätigt wird von JournalistInnen und SchriftstellerInnen, die ihn gut zu kennen behaupten. Einer von ihnen ist Jean Lacouture. Er schreibt über eine Begegnung mit Ho Chi Minh: „Ich hatte ihn nicht kommen sehen, ich hatte ihn nicht einmal gehört. Seine ausgetretenen Mönchssandalen glitten über das glänzende Parkett des Palais, das vor ihm der französische Hochkommissar von Tongking bewohnt hatte. (…) Man brauchte keineswegs an alles zu denken, was er erlebt und was man über ihn erzählt hatte – und ich hatte alles, was man über ihn erfahren konnte, aufgesogen wie ein Schwamm, alles, was ich von Journalisten, Propagandisten, Polizisten und Biographen erfahren konnte –, man war von der eintretenden Persönlichkeit auch ohne all dies fasziniert. Ich hatte gedacht, er sei größer und gebeugt, nicht sehr friedlich und heiter, und ich hatte mir vorgestellt, dass die Verfolgungen und die Gefängnisse ihn härter gezeichnet hätten.

Was einem zuerst auffällt an dieser offensichtlichen Güte, das ist der brennende Blick unter den buschigen Brauen, die enorme Stirn und sein struppiger, weißer Haarschopf, der fast ein wenig an einen Clown erinnern würde, wenn sein Gesicht und seine ganze Erscheinung nicht eine solche Würde ausstrahlten. Ein milder Blick? Man könnte es vielleicht sagen, wenn man über diesen Mann nicht Dinge wüsste, die es unmöglich machen, Milde zu seinen Eigenschaften zu rechnen.

In seiner Höflichkeit und seiner Zuvorkommenheit liegt eine gewisse Ungeschicklichkeit. Ob er eine Tasse Tee anbietet, einen Sessel vorschiebt, eine Zigarettendose reicht, man hat immer den Eindruck, als wolle er sich entschuldigen, dass er sich da so im Luxus eines Kolonialgouverneurs breitmacht. Ich habe inzwischen erfahren, dass dieses linkische Benehmen einer der sorgfältig einstudierten Züge des »poverello communiste«, des armen Kommunisten, ist, eines Persönlichkeitsbildes, das er sich mit viel Geduld erarbeitet hat. Aber ist es wirklich nur etwas Angelerntes, diese Liebenswürdigkeit, dieses Auf-den-Besucher-Zukommen, diese wunderbare Gabe, Sympathie zu schaffen, die sofort zwischen ihm und den anderen eine angeregte Unterhaltung entstehen lässt und banalen Worten einen überraschenden Klang verleiht? Wie kommt es, dass ich von dem, was wir an diesem Tag sprachen, nur einen Teil behalten habe, der mir längst nicht so gegenwärtig ist, wie dieser warme Blick, der voller Aufmerksamkeit auf mir, dem jungen, unbekannten Gesprächspartner, ruhte?“

Ho Chi Minh sprach dann über seine Liebe zur französischen Literatur und Kunst und bedauerte, dass die VertreterInnen dieser Kultur „ihr Land hier schlecht vertreten haben(…)Ach, was für eine schlechte Sache muss der Kolonialismus sein, dass er die Menschen so verändert!“

„Sein Bart zitterte“, so fährt Lacouture in seinen Erinnerungen fort, „seine Hände wurden lebhafter und seine Stimme schriller. Aber plötzlich wollte er nicht mehr in Polemik sprechen und in einer Kritik, die mich, seinen Gast, hätte verletzen können. Ein eigenartiges Lächeln glitt über sein gebräuntes Gesicht, die Wangen schoben sich nach oben, verkleinerten die lebhaften Augen, die plötzlich wirklich nicht mehr mild waren. Ein faltiges Lächeln erschien, das plötzlich ein schlechtes Gebiss enthüllte. Auch der Charme dieser Persönlichkeit hatte seine Grenzen. Aber das flüchtige Bild eines chinesischen Kupplers verwischte sich schnell, und sein rührend naiver Blick, halb Gandhi, halb Franziskanermönch, war wieder da.“3

Dieser Bericht scheint zunächst geprägt zu sein von dem Versuch, die widersprüchlichen Eindrücke stehen zu lassen und gerade nicht in das zu verfallen, was Ho Chi Minh bei seinen Landsleuten genießt: kindliche Verehrung und Vertrauen. Beide Verhaltensweisen erwecken Skepsis beim europäisch geprägten Intellektuellen, der eine bestimmte Vorstellung vom Charakter eines Politikers hat. Er versucht, der Faszination zu widerstehen, die die bekannten Eigenschaften seines Gesprächspartners bei ihm auslösen: Liebenswürdigkeit, Bescheidenheit, Bildung. In den Bericht (wahrscheinlich nicht in das Gespräch selbst) geht Misstrauen ein, es wird der Verdacht angedeutet, die Offenheit sei nur eine Maske, die die wahren Absichten verdecken solle.

Der hier nur verdeckt anklingende Versuch ist eine Variante der Bemühungen, die immer wieder angestellt wurden, die Erscheinung und Bedeutung Ho Chi Minhs in eine gängige Formel zu fassen, sie den Vorstellungen westlicher historiographischer Konventionen anzunähern. Dort wird nämlich normalerweise die historische Figur eines Politikers als von gegensätzlichen Elementen geprägt, von widerstreitenden Kräften beherrscht dargestellt – etwa Humanismus und Despotismus (alle großen Staatsmänner waren, mussten zugleich gütig und streng sein). Die Stärke der inneren Spannung zwischen diesen Polen (die als ewiges Schicksal des Staatenlenkers gilt) ist zugleich das Zeichen dieser besonderen Ausprägung von menschlicher Größe. Diese Vorstellung bildet die Grundlage für die Mythen, die große Gestalten der europäischen und amerikanischen Geschichte inspiriert haben. Immer haben sie – in dem Bild, das von ihnen in Geschichtsbüchern, mehr noch in unzähligen Romanen und Filmen, die ihr Leben zum Gegenstand haben, verbreitet wird – um den Erhalt ihrer Macht kämpfen und ihre Ideen verteidigen müssen gegen eine feindliche Umgebung, die meistens als geschichtlich rückständig erscheint. Daraus entspringt auch ein charakteristischer Zug dieser Mythen: die Isolation, die Einsamkeit des Genies, das mit der Außenwelt nur durch Befehle und Drohungen kommuniziert.

Für Ho Chi Minh (den Menschen oder den Mythos) kann diese Konvention keinerlei Erklärungswert haben. Das Bild, das er repräsentiert und symbolisiert, ist nicht durch den Gegensatz zwischen Spannung und Harmonie geprägt, ihm gemäß erscheinen andere Begriffe: Einheit, Identität. Identität etwa mit allem, was er im praktischen Zugriff an Errungenschaften der Menschheit an Kenntnissen und Erfahrungen hat aufgreifen und zu einer Lebensform assimilieren können. Insofern steht er für eine Vorstellung vom Menschen, in der das Bild der in sich ruhenden (wenn auch spannungsreichen) Persönlichkeit abgelöst wird von dem des in der Geschichte ruhenden Menschen, der diese in Kenntnis ihrer Gesetze und im Einklang mit ihnen gestaltet, selbst wenn dieses bedeutet, dass man den schwierigeren Weg gehen muss, den der Opfer und Mühen.

Ich füge eine noch elementarere Bedeutung des Mythos Ho Chi Minh hinzu, weil die die ich gerade angesprochen habe sicher nicht die bewusste Grundlage darstellt für die Popularität des »Onkels Ho« bei den einfachen Leuten.

Für das Volk war er, so hat man es ausgedrückt, der »Familienvater der Nation«. Er hat selbst diesen Vergleich oft gewählt um sein Verhältnis zum Volk zu beschreiben. Es ist interessant festzustellen, dass dieser Familienvater selbst keine Familie hatte und – zumindest offiziell – keine Kinder. Onkel Ho, dieser so familiäre Mensch, war Junggeselle, was normalerweise in Vietnam nicht gut angesehen ist. Die Vorstellung der Familie repräsentiert er nur auf einer sehr globalen Ebene. Und hier finden wir wieder diese Einheit von Nähe und Distanz, Abstraktion.

Abstraktion auch vom patriotischen Element, von dem Teil des Mythos, der Heldenverehrung ist. In dieser Abstraktion kommt das zum Vorschein, was ich den Kern dessen nennen würde, was Ho Chi Minh letztlich verkörperte: auf sein Wesen reduziert, der Kontexte von Held und Staatsmann beraubt und zugleich der konkreten Person wieder näher, erscheint im Zentrum des Mythos das Bild des guten Menschen an sich, als Personifikation eines Welthumanismus, der, in Legenden und Anekdoten überliefert, nicht mehr ist als eine Zusammenfassung von menschlichen Qualitäten, die universell anerkannt und geschätzt sind.

Es ist dann auch nicht verwunderlich, dass etwa die Interpretationen seines Lebens in den Büchern über ihn aus Vietnam – deren Wahrheitsgehalt hier nicht zur Debatte steht – den modellhaften Lebensbeschreibungen ähneln, die wir in unzähligen Romanen und Epen der Weltliteratur finden: Die Geschichte dessen, der seine Heimat verlässt um in der Fremde Erfahrungen und Kenntnisse zu erwerben und der gereift und gebildet zurückkehrt um seine neuen Fähigkeiten anzuwenden. Oder diejenige des Helden, der sich immer gefährlicheren Abenteuern aussetzt um seine Kräfte und seinen Mut zu erproben.

So erscheinen die Werte die sein Bild letztlich repräsentiert, trotz ihrer konfuzianischen und buddhistischen Herkunft, nicht nur einfach, sondern auch universell. Diese typischen Tugenden, auf die uns sein Bild verweist: Einfachheit, Bescheidenheit, Menschenliebe, Ehrlichkeit, Gerechtigkeitssinn, Uneigennützigkeit – diese Tugenden sind die Essenz aller sozialen Utopien der Weltgeschichte, die sich in den Literaturen, Legenden und Ideologien widerspiegeln. Man findet sie in der Wertewelt der Ritterepen ebenso wieder wie in der klassischen französichen Tragödie, im deutschen Entwicklungsroman ebenso wie in der Revolutionsliteratur der Zwanzigerjahre, und, natürlich, in dem klassischen vietnamesischen Epos Kim Van Kieu ebenso wie in den Gedichten von – Ho Chi Minh.

Der Gute Mensch in seiner universellsten Erscheinung – ist das nicht, trotz der familiären Züge, schon zu abstrakt? Ist das allgegenwärtige Gesicht auch in dieser Auslegung nicht schon zum Heiligenbildchen geworden, aller konkreten Erinnerung entzogen, Anlass nur noch zu einer oberflächlichen Andacht?

Eine Frage, die zu beantworten von hier aus schwierig ist. Immer wieder versuchen die Regierenden in Vietnam, die einigende Kraft des Mythos zu beleben. Immer wieder begegnen wir Versuchen, sie in der Konfrontation mit Ho Chi Minh-Worten oder Taten von außen zu kritisieren. Die Wiederherstellung der geschichtlichen Wahrheit, die mit der Veröffentlichung des gesamten Testaments endlich erfolgte, geschah unter dem Zeichen der Wiederannäherung an die humanitären Elemente des Mythos – ebenso wie die Errichtung des monumentalen Museums eine Entfernung von ihnen darstellte. Der uneindeutige, für die gegenwärtige Lage Vietnams durchaus typische Befund macht auch deutlich, wie sehr der Mythos Ho Chi Minh sich der unmittelbaren Vereinnahmung, selbst durch seine unmittelbaren Erben, entzieht. Denn darin scheint seine Besonderheit zu liegen, dass, sobald er aus der Legende befreit und in die öffentliche Debatte eingeführt wird, unweigerlich die Interessen des Volkes ins Spiel kommen.

Anmerkungen

1) Vielfältig sind aber auch die Versuche, den VietnamesInnen einen Personenkult mit Ho Chi Minh zu unterstellen. Westliche ReporterInnen sollen, so hörte ich von ÜbersetzerInnen, die mit ihnen unterwegs waren, sogar Ho Chi Minh-Büsten auf dem Markt gekauft und überall da, wo sie Bilder machten, hingestellt haben.

2) Jean Lacouture: Ho Tschi Minh, Frankfurt/M, 1968, S. 223

3) ebda, S. 126ff

Prof. Dr. Günter Giesenfeld lehrt am Fachbereich Neuere Deutsche Literatur und Medien der Philipps-Universität Marburg.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2000/1 Der schwierige Weg zum Frieden, Seite