W&F 2019/4

»House Demolitions«

Eine szenische Darstellung ästhetischen Widerstandes in Palästina

von Tim Bausch

Die nachfolgende Erzählung und die damit verbundene Analyse sind Teil einer größeren Recherche, die sich auf Formen ästhetischen Widerstandes in Israel und Palästina konzentriert. Der Beitrag beschäftigt sich im Speziellen mit der ästhetischen Dimension von Hauszerstörungen und den damit verbundenen Widerstandspraktiken. Ästhetik wird hier nicht als Synonym für etwas Schönes/Ansehnliches verstanden, sondern vom ursprünglichen Wortsinn (aisthesis = sinnliche Empfindung) her gedacht.

Die in der folgenden Darstellung erwähnten Personen und Umstände sind real. Die Familie hat gebeten, auf eine Anonymisierung zu verzichten, und sucht die Öffentlichkeit.

I. Szene: Spätsommer 2019. Das Grundstück der Familie Qaisyeh liegt etwas abseits der palästinensischen Stadt Beit Jala. Das Anwesen besteht aus einem Restaurant, einem kleinen Garten und einem Wohnhaus, auf dessen Dach ein großes Holzkreuz wacht. Vor einigen Tagen erhielt die Familie einen amtlichen Bescheid über den Abriss der Gebäude. Nun finden sich die Angehörigen mit einem Vertreter des »Committee Against the Wall and Settlements in Bethlehem« zusammen. Während die juristische Situation von den Anwesenden diskutiert wird, liegt eine paradoxe Mischung aus Alltag und Ausnahmesituation in der Luft.

Raum und seine Ausgestaltung sind wesentliche Felder des israelisch-palästinensischen Konfliktes. So kam es, dass der Abriss von Wohnhäusern zum integralen Bestandteil der Auseinandersetzungen wurde. Die Gründe für den Abriss können unterschiedlich sein: als Strafaktion gegenüber Familien palästinensischer Attentäter*innen, als baurechtliches Resultat sicherheitspolitischer Einschränkungen oder schlicht aufgrund fehlender Baugenehmigungen (vgl. Hatz 2018, S. 5 f.).

Um diese Gemengelage zu verstehen, muss man wissen, dass das weitgehend von Israel besetzte Westjordanland in drei administrative Zonen (A, B, C) eingeteilt ist. In den A-Gebieten, die vornehmlich palästinensische Großstädte markieren, hat die Palästinensische Autonomiebehörde Handhabe über zivile und sicherheitsrelevante Angelegenheiten; in den B-Gebieten verfügt sie lediglich über die zivile Hoheit. Die C-Gebiete wiederum (ca. 65 % des Westjordanlandes) markieren die Ländereien rund um israelische Siedlungen. Hier hat die Palästinensische Autonomiebehörde, die als regierungsähnliche Repräsentanz der Palästinenser*innen fungiert, keinerlei Befugnisse. Die C-Gebiete werden also vollumfänglich von Israel kontrolliert. Dort finden Abrissaktionen palästinensischer Wohnhäuser aufgrund fehlender Baugenehmigungen besonders häufig statt. Während die israelischen Siedlungen wachsen, ist es für Palästinenser*innen sehr schwierig, in diesen C-Gebieten Baugenehmigungen zu erlangen. Trotz fehlender Genehmigung entschließen sich manche Familien zum Hausbau. Dieser wird so zum widerständigen Akt per se. Das Haus der Familie Qaisyeh befindet in einer Region namens al-Makhrour, die in eben einem solchen C-Gebiet liegt. Die israelische Siedlung Har Gilo ist nur wenige Kilometer entfernt.

Neben diesen politischen und rechtlichen Umständen hat der Komplex »Hauszerstörung/Wiederaufbau« auch eine ästhetische Dimension. Im Zuge des vorliegenden Beitrages wird jener ästhetischen Spur auf den Grund gegangen. Dabei wird unter Ästhetik eine Verschränkung von sinnlicher Darstellung und kognitiven Folgen verstanden (vgl. Baumgarten 1983). Ästhetik ist folglich ein Phänomenkomplex, der sowohl die eigentliche Darbietung als auch die individuellen und kollektiven Folgen in eine direkte Beziehung setzt. Ästhetik als solche erhebt den Anspruch, soziale Wirklichkeit auf eine besondere Art und Weise darzustellen.

Ästhetischer Widerstand trägt wiederum ein starkes politisches Moment in sich, indem er das Bestehende negiert oder zumindest in Frage stellt. Sinnliche Welterzeugung ist folglich der Modus Operandi des ästhetischen Widerstandes: So kann das Unverfügbare (beispielsweise fehlende politische Rechte) erfahrbar gestaltet werden, es können politische Utopien verkörpert und Möglichkeitsräume für Ideen eröffnet werden.

II. Szene: Der Kampf der Familie dauert schon einige Jahre an. Teile des Anwesens wurden mehrfach wegen fehlender Baugenehmigungen abgerissen. Und so kommt es auch diesmal: Wenige Tage nach dem Zusammentreffen in der ersten Szene ziert das große Holzkreuz nicht mehr den Giebel des Wohnhauses, sondern steht wie ein stiller Zeuge vor dessen Trümmern (Abb. 1). Der staatlich verordnete Abriss konnte trotz juristischer Anstrengungen nicht aufgehalten werden. Nun stehen Hab und Gut der Familie aufgereiht auf dem Rasen. Daneben zwei Zelte, in denen die Familie vorerst nächtigen wird (Abb. 2). Und auch in dieser Szene ist die paradoxe Stimmung von Alltag und Ausnahmesituation zu spüren. Neben Wut und Trauer finden sich bereits Überlegungen zum Wiederaufbau. Während der Aufräumarbeiten wird gescherzt, die Stimmung ist wolkig bis heiter.

Wieso ist da trotz der familiären Katastrophe eine Spur Heiterkeit? Wieso wird über einen Wiederaufbau nachgedacht, wo doch bei ausbleibender Baugenehmigung die abermalige Zerstörung die logische Konsequenz sein dürfte?

Um das Phänomen der Hauszerstörungen und des ungenehmigten (Wieder-) Aufbaus zu verstehen, muss auf einen größeren Zusammenhang verwiesen werden: Während der gewaltvollen Auseinandersetzung zwischen Palästinenser*innen und Israelis, die mit der Gründung des israelischen Staates einhergingen, wurden knapp fünfhundert palästinensische Dörfer zerstört. Von den meisten dieser Dörfer sind heute nur noch die Reste der Grundmauern zu erkennen. Auch ehemals palästinensische Zentren, beispielsweise Jaffa, haben sich seitdem sehr verändert: Hochhäuser schossen empor, Straße wurden umbenannt, und ein neuer Lifestyle hat Eingang in den Alltag gefunden. Kurz, die Landschaft hat eine neue Sichtbarkeitsordnung bekommen (vgl. Rancière 2002). Die Raumkomponente des Konfliktes wird folglich nicht nur durch die politische Geographie, sondern auch durch dessen ästhetische Gestaltung getragen. Den Konfliktakteuren geht es dabei auch um ihre eigene kulturelle Präsenz und Sichtbarkeit. So kann die (Nicht-mehr-) Existenz eines Olivenhains ebenso zum Konfliktfeld werden wie die Beschaffenheit einer Hausfassade. Dies gilt insbesondere für das so genannte Westjordanland. Während sich israelische Siedlungen durch ihre Lage auf Anhöhen buchstäblich hervorheben, liegen palästinensische Dörfer oftmals in Tälern. Der Architekt und Aktivist Eyal Weizman (2012) bezeichnet solche Ordnungen auch als „Politik der Vertikalität“. In den C-Gebieten wirken die israelischen Siedlungen somit deutlich markanter als die Dörfer der Palästinenser*innen. Viele Palästinenser*innen verstehen dies bereits als visuelle Repräsentation einer spezifischen Machtordnung.

Widerständige Praktiken haben häufig das Ziel, die herrschende Sichtbarkeitsordnung zu stören. Und so sind palästinensische Häuser, insbesondere jene, die ohne Genehmigung entstehen/bestehen und dadurch die herrschende Sichtbarkeitsordnung stören, die ästhetische Grundierung eines politischen Widerstandsnarratives (vgl. Braverman 2007, S. 335). Für den Soziologen Hermann Pfütze (2018) hat ästhetischer Widerstand das Ziel, dem Zerstörerischen ein schöpferisches Potential entgegenzusetzen. In der palästinensischen Ideengeschichte hat dieses Entgegenstellen einen Begriff: »sumud«, was sich mit Standhaftigkeit übersetzten lässt. Oder wie Hassan Breijieh vom »Committee Against the Wall and Settlements in Bethlehem« zu sagen pflegt: „Wo palästinensisches Leben ist, hat Okkupation keinen Raum. Also müssen wir Leben kreieren.“ In diesem Sinne fungiert jedes wiederaufgebaute palästinensische Haus als eine visuelle Metapher des »sumud« – der palästinensischen Standhaftigkeit.

Durch den Wiederaufbau wird die Gerichtsbarkeit der israelischen ­Besatzung negiert. Schließlich geht es den hier handelnden Palästinenser*innen weniger um Recht, sondern um Gerechtigkeit. Für sie sind die Verfügungen israelischer Gerichte ein illegitimes Verwaltungsinstrument der Besatzung. Die Palästinensische Autonomiebehörde kann bei dieser Auseinandersetzung kaum helfen, weshalb die widerständigen Akteure selbst tätig werden. Der Wiederaufbau ist also Selbsthilfe von unten mit dem Ziel, die eigene Existenz zu sichern und die damit verbundenen Ansprüche auch ästhetisch geltend zu machen. Das, was augenscheinlich nicht verfügbar ist, also die Selbstbestimmung, wird mittels der ästhetischen Widerstandspraktik des Wiederaufbaus sinnlich erzeugt. Ästhetischer Widerstand ist, wie sich hier zeigt und eingangs bereits festgestellt wurde, eine Form der Welterzeugung. Darüber hinaus ist ästhetischer Widerstand auch immer ein Produzent von Empfindungen. Auch dies zeigt sich an der Geschichte der Familie Qaisyeh: Die Geschehnisse ziehen (Wirk-) Kreise und wecken so die Aufmerksamkeit verschiedenster Akteure.

III. Szene: Einige Tage nach dem Abriss: Das Kreuz wacht noch immer vor den Trümmern des Wohnhauses. Die Familie ist nicht allein. Verwandte, lokale Politiker und Geistliche sind anwesend. Die Tragik der Ereignisse erfährt mediale Aufmerksamkeit und die Familie Zuspruch.

Die Geschehnisse rund um eine Hauszerstörung erfolgen alles andere als klang- und sanglos. Auch wenn die israelischen Soldat*innen während des eigentlichen Aktes der Zerstörung das Terrain um das Anwesen absperren, versammeln sich Pressevertreter*innen in der Nähe. In den Tagen vor und nach der Zerstörung findet sich die Geschichte in sozialen Medien, wie Twitter und Facebook, wieder. Auch die Familie dokumentiert mit Handykameras den Abriss. Die daraus resultierenden Bilder fördern Trauer und Wut, wie in der Kommentarfunktion von Facebook deutlich wird. Aus dem Akt der Zerstörung folgt also eine weitere ästhetische Ebene, sind die produzierten Bilder doch eindrücklich: Große Maschinen lassen die Gebäude wie Kartenhäuser zusammenfallen, aufgeregt versuchen sich die Bewohner*innen und Angehörigen den Abrissbirnen entgegen zu stellen und werden schließlich doch von israelischen Soldat*innen an die Seite gedrängt. Die Szenerie hat eine ritualisierte Theatralik (vgl. Goffman 2011). Ästhetik und Emotionen sind zwei Seiten einer Medaille. Ästhetik ist also eine Form der Welterzeugung, die in einer spezifischen Weltempfindung mündet.

Es ist wichtig zu verstehen, dass die palästinensische Gesellschaft in unterschiedlichem Maße von der Okkupation betroffen ist. Okkupation kann konkret oder abstrakt sein. Privilegiertere Familien in Ramallah erfahren die Okkupation auf eine andere Weise als etwa Palästinenser*innen in den C-Gebieten. Geteilte Bilder können durch die hervorgerufene Anteilnahme Kollektivität fördern.

Ein weiteres Spezifikum des Ästhetischen wird hier sichtbar: Durch die Empfindungen/Emotionen, die mit den produzierten Bildern einhergehen, erwächst eine Mobilisierung, denn die Anteilnahme, die mit Hauszerstörungen einhergeht, geht über die palästinensische Gesellschaft hinaus: In aktivistisch-akademischen Diskursen (Stichwort »domicide«), von internationalen und nationalen (palästinensischen, aber auch israelischen) Nichtregierungsorganisationen und unterschiedlichsten Medien werden die Geschehnisse verarbeitet und multipliziert.

Das Beispiel der Hauszerstörungen ist nur eines von vielen, in denen Ästhetik eine signifikante Rolle in Konflikten spielt. Oftmals verbinden sich ästhetische Momente mit raumtheoretischen Fragen. Die Stadt Hebron kann hier als Beispiel angeführt werden. Mehrere israelische Siedlungen und (bewaffnete) Auseinandersetzungen zwischen dem israelischen Militär und dem palästinensischen Widerstand haben das Gesicht der Stadt verändert: Verschiedenste Sicherheitszonen und Kontrollpunkte entstanden, Häuser wurden geräumt und zerstört. Das von der Palästinensischen Autonomiebehörde geförderte »Hebron Rehabilitation Committee« hingegen hat es sich zur Aufgabe gemacht, die palästinensische Architektur in der umkämpften Stadt zu erhalten und/oder wieder herzustellen. Am so genannten »Land Day« wiederum, der jährlich stattfindet und an staatliche Enteignungen seitens Israel erinnert, pflanzen viele Palästinenser*innen im Westjordanland Olivenbäume. Der Olivenbaum fungiert hier als Symbol für die palästinensische Verwurzelung mit dem Land. Und so zeigt sich, dass Ästhetik und ästhetischen Widerstandspraktiken in Konflikten eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zukommt. Für die Familie Qaisyeh ist im Übrigen klar, dass das alte Kreuz auch wieder auf ihrem neuen Haus stehen wird. Auf die Frage, was den Optimismus der Familie nährt, antwortet die Tochter: „Nun, wir sind eben Palästinenser.“

Literatur

Baumgarten, A.G (1983): Theoretische Ästhetik: die grundlegenden Abschnitte aus der
»Aesthetica«. Hamburg: F. Meiner.

Goffman, E. (2011): Wir spielen alle Theater – Die Selbstdarstellung im Alltag. München/Zürich: Piper.

Hatz, S. (2018): Selective or collective? Palestinian perceptions of targeting in house demolition. Conflict Management and Peace Science, 21 S., Online-Publikation 18.9.2018.

Pfütze, H. (2018): „Schönheit ist Personenschutz“. In: Bosch, A.; Pfütze, H. (Hrsg.): Ästhetischer Widerstand gegen Zerstörung und Selbstzerstörung. Wiesbaden: Springer VS, S. 9-25.

Rancière, J. (2002): Das Unvernehmen – Politik und Philosophie. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Weizman, E. (2012): Hollow Land – Israel’s Architecture of Occupation. New York: Verso.

Tim Bausch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Lehrstuhles für Internationale Beziehungen an der Universität Jena. In seinem Disserationsprojekt arbeitet er zu ästhetischen Widerstandsformen vor dem Hintergrund spezifischer Herrschaftsformen.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2019/4 Ästhetik im Konflikt, Seite 20–22