Ich hab’ den Krieg gezeichnet
Kinderzeichnungen aus sechs Jahrzehnten
von Anja Kuhr
„Sie müssen schon genau hinschauen, um die Details der Kinderzeichnungen zu erkennen“, fordert Alfred Brauner. „Es sind die Kleinigkeiten, die die Angst ausdrücken, wie ein Schlüssel eröffnen sie das Verständnis zu dem Bild. Dieses Kind in El Salvador war offenbar Augenzeuge einer Ermordung. Das Kind zeichnet sich selbst versteckt hinter Bäumen, sein Gesicht hat weder Mund noch Nase, nur Augen – es will sagen: Ich hab' es genau gesehen. Oder das Bild eines 10-jährigen aus Vietnam. Selbst im Moment der Rettung ist die Ohnmacht des Kindes noch gegenwärtig: Die Boat-People malt der Junge ganz klein, während die Mannschaft des Rettungsbootes in Gestalt kolossaler Quadratmenschen an Deck steht.“
Selbst im größten Chaos suchen die Kinder in ihren Zeichnungen nach Harmonie. Ein Kind aus El Salvador hat eine Hinrichtungsszene gemalt: Sechs Frauen mit gebeugtem Kopf stehen sechs Soldaten gegenüber. Die Figuren sind gleich groß, das Kind hat jedem »Paar« exakt ein Drittel des Platzes überlassen. „Ein typisches Merkmal für Kinderzeichnungen aus Kriegsgebieten, das Kind versucht so, ein Gleichgewicht in dem Schrecken herzustellen. (siehe Kinderzeichnung auf dieser Seite) Es gibt viele Bilder, in denen die zerstörten Häuser auf einer schnurgeraden Linie angeordnet sind. Hier hat das Kind die Szene in einem Sechseck dargestellt. Versuche, Ordnung zu schaffen in einer aus den Fugen geratenen Welt.“
Auf diese Kleinigkeiten zu achten, haben Françoise und Alfred Brauner im Lauf ihres Lebens gelernt. Angefangen hat alles 1936 im Spanischen Bürgerkrieg, als sich die Brauners – Françoise als Ärztin, Alfred als Pädagoge – den Internationalen Brigaden anschlossen und dann den Auftrag erhielten, Flüchtlingskinder zu betreuen. „Zunächst hatten wir genug damit zu tun, die Kinder mit Nahrung und Betten zu versorgen. Als das organisiert war, haben wir begonnen, sie zu beschäftigen. Einige Kinder haben spontan gezeichnet, und unter diesen Bildern fanden wir überwältigende Tatsachenberichte. Wir haben die Kinder dann motiviert zu malen und waren erstaunt und zugleich erschrocken, was da alles zum Vorschein kam.“
Was die Kinder mit Worten nicht ausdrücken konnten, erzählten sie mit Buntstift und Papier. Die Brauners machten Fotografien dieser Bilder, die sie mit nach Frankreich nahmen. Sie wollten dokumentieren, welche Spuren Kriegserlebnisse bei Kindern hinterlassen.
Zurück aus Spanien betreuten sie jüdische Kinder, die 1939 mit einem der letzten Transporte aus Deutschland nach Frankreich gebracht wurden. Unmittelbar nach dem Ende des Krieges, den Francoise und Alfred Brauner als Mitglieder der Résistance im besetzten Paris nur knapp überlebt haben, standen sie vor einer der schwierigsten Aufgaben in ihrem Leben: Sie haben 440 Kinder betreut, die als Überlebende aus den Konzentrationslagern Auschwitz und Buchenwald nach Frankreich gebracht wurden.
Auch später, als sie in Frankreich die erste Tagesklinik für mehrfach behinderte Kinder leiteten, ließ ihnen das Thema keine Ruhe. Sie haben aus der ganzen Welt Kinderzeichnungen zusammengetragen, rund 2000 Bilder, gelagert in unzähligen Mappen in ihrer Pariser Wohnung. Diese Sammlung bildete die Basis für mehrere wissenschaftliche Untersuchungen über die Bedeutung der Kinderzeichnung im Krieg.
Wenn Françoise und Alfred Brauner die Geschichte erzählen, die hinter jedem einzelnen Bild steckt, sind sie leidenschaftliche Anwälte der Kinder. „Wenn es um Kinder geht, gibt es keine nationalen Grenzen, nur internationale Verbrechen. Nehmen Sie die Zeichnungen und zeigen Sie sie überall. Sie müssen als Waffe dienen gegen den Wahnsinn aller Kriege“ – so verabschiedeten sie mich bei meinem Besuch 1993.
Bis dahin waren Teile der Sammlung ausschließlich auf Fachkonferenzen gezeigt worden. Im Herbst 93 haben wir dann erstmals einen Teil dieser Sammlung öffentlich ausgestellt. Nach der überwältigenden Resonanz beim Publikum und den Medien, die die Ausstellung in Hamburg fand, war die Ausstellung inzwischen in 40 Städten im In- und Ausland.
Unter dem Titel »Ich hab' den Krieg gezeichnet«, zeigen wir 78 Kinderzeichnungen aus verschiedenen Krisen – und Kriegsgebieten. Die Bilder entstanden in Konzentrationslagern, im Spanischen Bürgerkrieg, in Hiroshima, Afghanistan, Palästina, der West-Sahara, in Guatemala oder Kroatien. Diese Zusammenstellung soll belegen, daß Kinder von den psychosozialen Auswirkungen von Kriegen überall auf der Welt massiv betroffen sind. Kriege, die diese Kinder nie gewollt haben und deren Ursachen sie nicht verstehen können. Die Zeichnungen – das zeigen die Reaktionen der Besucher und die Eintragungen in die Besucherbücher – sprechen für sich. Sie machen betroffen, dem Betrachter wird eine Haltung abverlangt.
In vielen Städten wurden im Begleitprogramm zu der Ausstellung Diskussionsveranstaltungen durchgeführt, die am Beispiel der Rüstungsexporte und anderer Fragen auch auf die Mitverantwortung eingingen, die gerade auch die Bundesrepublik hat.
Darüber hinaus will diese Ausstellung auch auf einen anderen aktuellen Konflikt in diesem Land hinweisen, den Umgang mit Flüchtlingen und die besondere Verantwortung, die wir gerade gegenüber den Kindern und Jugendlichen haben, die als unbegleitete Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Denn Flüchtlingskinder, ob begleitet oder allein unterwegs, sind in besonderer Weise verletzte Kinder. Alle ExpertInnen, die mit Flüchtlingskindern arbeiten, haben immer wieder darauf hingewiesen, daß diese Kinder eine beschützende Umgebung brauchen, die ihnen Sicherheit bietet und Menschen, die für sie da sind. Die heutige Asylpraxis nimmt aber gerade auf diese Kinder keinerlei Rücksicht. Wenn sie bei uns ankommen, erhalten sie häufig zum Trauma der Trennung und Flucht auch noch das Gefühl, unerwünscht zu sein. Selbst Kinder müssen sich inquisitorischen Verhören unterziehen, in denen sie ihre individuellen Verfolgungsgründe nachweisen sollen. Die rigorose Anwendung des Asylrechts hat dazu geführt, daß inzwischen auch immer mehr Kinder abgeschoben werden. Um sich der drohenden Abschiebung zu entziehen, tauchen viele Kinder und jugendliche Flüchtlinge unter. Ohne jeden Schutz sind sie gezwungen, sich in den Rotlichtvierteln der Großstädte durchzuschlagen. Wie würden wohl die Zeichnungen dieser Kinder aussehen ?
Es wäre ganz im Sinne von Françoise und Alfred Brauner, wenn diese Ausstellung dazu beiträgt, allen Menschen Mut zu machen, sich einzumischen, als Anwälte der Kinder.
Informationen über die Ausstellung und die Ausleihbedingungen: Cultur Cooperation e.V., Nernstweg 32-34, 22765 Hamburg, Tel.040-394133, Fax: 040-3909866
Anja Kuhr, Cultur Cooperation e.V.