W&F 2000/1

„Ich möchte zu meinem Leben stehen können“

von Inge Jens

Tausende blockierten in den Achtzigerjahren in Mutlangen, im Hunsrück und anderswo US-Atomraketenbasen. Gezielt wurden staatliche Vorschriften und Gesetze verletzt um Wichtigeres einzufordern: Die Sicherung des Friedens durch Abrüstung. Zivilcourage: Die »Blockierer« nahmen für ihre politischen Ziele Verurteilungen in Kauf, Geldstrafen und manchmal auch Haft.
Inge Jens, seit Jahrzehnten aktiv in der westdeutschen Friedensbewegung, blieb auch während des Golfkrieges ihrer pazifistischen Position treu und gewährte US-Deserteuren Obdach. Wir dokumentieren ihre »Verteidigungsrede« vor Gericht.

Ich bin ein Kriegskind, Herr Richter. Die entscheidenden Erlebnisse meines Lebens sind Kriegserfahrungen. Keine besonderen, nichts was über den Rahmen eines für damalige Verhältnisse normalen“ Alltags hinausgegangen wäre: Einsätze im Nacht für Nacht von Bombern heimgesuchten Hamburg, wie sich's gerade bot: Freischaufeln von verschütteten Kellereingängen, Betreuung von Menschen, die, nach dem Verlust von Hab und Gut – manchmal auch von Angehörigen: Kindern, Eltern, Freunden – zu den Evakuierungszügen gebracht werden mussten. Hilfe für Fronturlauber, die von uns in den Vermisstenstellen arbeitenden Kindern erfahren wollten, wo sie ihre ausgebombten Angehörigen wiederfänden. Später dann – der Krieg war lang, als er endete war ich immerhin 18 Jahre alt – die Arbeit in einem Provinzkrankenhaus, in das man die Verwundeten brachte, die mit Lazarettzügen aus dem Rheinland kamen: unter ihnen Willi, ein Junge, so alt wie ich. Ich hatte Dienst, als man ihm eine Bein amputierte und ich besuchte ihn später auf unserer Schwerverletztenstation. Er hatte Jockey werden wollen.

Nichts besonderes, wie gesagt, nur das, was man damals Kriegsalltag nannte. Aber er hat mich geprägt. Krieg als Inbegriff aller Ängste, Schrecken und sinnlosen Leiden wurde zur bis heute entscheidenden Erfahrung meines Lebens. Ich kann und will sie nicht vergessen und habe mich seither bemüht, jedenfalls im Rahmen meiner bescheidenen Möglichkeiten als Pazifistin dafür zu sorgen, dass einer neuen Generation dergleichen erspart bleibt.

Ich war dankbar dafür, dass unsere Verfassung meinen Kindern die Möglichkeit gab, statt der Handhabung von Gewehren und anderen Waffen die richtige Bedienung von Rollstühlen und den Umgang mit Behinderten zu erlernen und ich war glücklich, als sie beide von dieser Möglichkeit Gebrauch machten und den Wehrdienst verweigerten. Die Begründung meines Jüngsten: „Ich kann den Gedanken nicht ertragen, eines Tages der Mutter eines Soldaten zu begegnen, den ich getötet habe. Was soll ich ihr sagen, wenn sie mich fragt: »Warum?«“ ging mir nach. Ich musste an sie denken als man uns bat, zwei amerikanische Kriegsdienstverweigerer aufzunehmen und sie gewann eine für mich existenzielle Dimension, als die beiden dann wirklich vor unserer Haustür standen.

Ich will nicht verschweigen, dass ich etwas Angst gehabt hatte vor diesem Moment: zwei fremde Menschen, Berufssoldaten aus dem US-Unterschichtsmilieu, die sich irgendwann einmal freiwillig für den Dienst mit der Waffe entschieden hatten… wie würde das gehen? Aber eben dieses »irgendwann« – unter Umständen also, die ich (noch) nicht kannte – gab den Ausschlag und machte mir die grundsätzliche Entscheidung leicht. Ich wusste nämlich auch, dass sich die beiden angesichts ihrer konkreten Erfahrungen mit und in der Armee dazu durchgerungen hatten, auszusteigen. Sie hatten den Antrag auf »conscientious objection« gestellt. Er war noch nicht entschieden. Aber die politische Situation ließ keinen Zweifel daran, dass er nicht mehr entschieden würde, ehe der Krieg losbrach. Man würde die beiden also zwingen, eben das zu tun was zu verweigern sie sich durchgerungen hatten: auf Menschen zu schießen, sie zu verwunden, sie umzubringen.

Und ich? Kam es mir zu, ein schwebendes Verfahren dadurch abzukürzen, dass ich die beiden Akteure einfach ihrem Schicksal überließ? Einem Schicksal zudem, das – da ihre Einheit an den Golf verlegt werden sollte – möglicherweise ihren Tod bedeutet hätte? Meine Entscheidung, das wurde mir plötzlich mit erschreckender Deutlichkeit klar, konnte irreversible Folgen haben. Gesetzt den Fall, die beiden würden (was zumindest im Bereich des Möglichen, wenn nicht gar des Wahrscheinlichen lag) als Wehrdienstverweigerer anerkannt werden zu einem Zeitpunkt, da sie – in Handschellen an die Front gebracht und dort in einem Strafbataillon zu schießen gezwungen – längst jämmerlich verreckt wären… würde nicht auch ich dann für ihren Tod zumindest mitverantwortlich sein?

Nein, die Sache war klar. Es bedurfte nur eines Blickwechsels zwischen meinem Mann und mir, und wir wussten, dass diese Bitte um Hilfe – konkret um Unterkunft für die beiden Soldaten die sich ohne Urlaubsgenehmigung von ihrer Truppe entfernt hatten – weder zu delegieren noch zu ignorieren war, sondern – mit allen Implikationen – uns ganz persönlich betraf: Eine Verweigerung wäre einem Widerruf all dessen gleichgekommen, für das wir unser ganzes gemeinsames Leben lang eingestanden waren…

Ich habe einen wichtigen Teil meiner sicherlich stark autobiographisch beeinflussten Beweggründe bereits genannt. Aber es bleibt noch ein weiteres Moment das ich erwähnen muss, auch wenn es wiederum autobiographischer Natur ist: die Auseinandersetzung mit den konkreten Formen nationalsozialistischer Inhumanität, die ich als Jugendliche – aus welchen Gründen auch immer – nicht zur Kenntnis genommen hatte. Sie vollzog sich wesentlich durch die Arbeit mit Dokumenten des studentischen Widerstandes, ergänzt durch das Studium entsprechender Zeugnisse und Berichte aus anderen Bereichen der Résistance sowie der systematischen Lektüre von historischen Analysen und biographischen Berichten, zu denen damals auch Anna Seghers Roman »Das siebente Kreuz« gehörte, die Geschichte des flüchtigen KZ-Ausbrechers Georg Heisler, dessen Überlebenschance von der Bereitschaft seiner Mitmenschen abhängt, ihm Unterkunft und Schutz vor Verfolgung zu gewähren. Die Details des Buches, die Namen der Akteure, habe ich vergessen, aber geblieben ist mir das Bild des Fliehenden, der nicht durch große, spektakuläre Aktionen, sondern durch viele kleine, temporär begrenzte Hilfeleistungen am neuen Ufer ankommt.

Anna Seghers` Flüchtling war mir nah in den Tagen, da ich auf meine Schützlinge wartete. Und dann standen sie wirklich vor meiner Haustür, ein farbiger Junge und ein weißes Mädchen. – Ich hatte offenbar vergessen, wie jung Soldaten sind; jedenfalls waren alle Zweifel und Ängste wie weggeblasen und ich hatte nur noch ein einziges Gefühl: »Mein Gott, das könnten ja deine Kinder sein« und ich musste an die Frage meines Sohnes denken, die für mich jetzt hieß: »Was soll ich sagen, wenn sie mich fragen, warum hast du sie nicht aufgenommen?« „Die ghöret au ebbam“ – „Es sind Menschen, auch sie haben Angehörige, die sich um sie sorgen“, sagte später, nüchtern und unsentimental, meine Zugehfrau und brachte damit meine Argumente und Beweggründe mit der Treffsicherheit und verweisenden Ausdruckskraft des Dialekts auf den Begriff.

Ich habe dem, was die Sache betrifft, nichts hinzuzufügen und möchte nur noch wenige Sätze zur aktuellen Situation sagen: Wie immer das Urteil ausfallen mag: ich fühle mich weder einer Tat schuldig, die ich zu bedauern oder gar zu bereuen hätte, noch denke ich etwas gemacht zu haben was überhaupt, weder positiv noch negativ, öffentliche Beachtung verdient. Wir haben keine Juden versteckt oder Widerstandskämpfern Unterschlupf gewährt und damit Leib und Leben riskiert – der Vergleich mit der Situation, in der sich Helfer während der Zeit des Nationalsozialismus befanden, ist in höchstem Maße indezent. Wir haben zwei Soldaten versteckt… nein, nicht versteckt, das war im friedlichen Tübingen, wo man an jeder Straßenecke weiße, gelbe oder schwarze Jugendliche treffen kann, weiß Gott nicht nötig. Unsere Schützlinge konnten sich in dieser Stadt frei bewegen; niemand hat ihnen ein Haar gekrümmt… nicht versteckt also, sondern aufgenommen. Aufgenommen, weil ihnen die große Geschichte die Möglichkeit nahm, ihr Recht auf Berücksichtigung einer Gewissensentscheidung einzuklagen.

Nie hätte ich versucht, den Prozess einer solchen Entscheidungsfindung von außen her, also durch Aufrufe oder wie immer geartete Agitation zu beeinflussen. Vorwürfe, die in diese Richtung gehen, sind absurd und treffen mich nicht. Eine Gewissensentscheidung kann nur der Betroffene selbst fällen oder es ist keine Gewissensentscheidung mehr. Sehr wohl aber haben wir versucht, zwei Menschen zu helfen die in Not gerieten, weil ein martialisch gesinnter Truppenkommandeur in der sicheren Erwartung von Krieg die Modalitäten außer Kraft setzte, die ihnen von Gesetzes wegen zur Regelung ihres Konfliktes zwischen einmal zugesagtem soldatischen Gehorsam und dem Gebot ihres Gewissens zustanden.

Mehr zu tun lag weder in unserer Absicht, noch in unseren Möglichkeiten. Das Geringe was zu bewirken in unserer Macht stand jedoch auch wirklich zu tun war eine Forderung, die wir nicht nur unseren Schützlingen, sondern auch unseren Kindern und allen jenen schuldig waren die sich gelegentlich an unserem Verhalten zu orientieren suchen. Darüber hinaus war es ein sich aus unserer Biographie und Überzeugung ergebendes Gebot der Selbstachtung, dem nicht zu gehorchen für uns in diesem Fall weiß Gott schlimmere Folgen gehabt hätte als eine mögliche Verurteilung wegen Beihilfe zur Fahnenflucht. Eine Verweigerung hätte, ich wiederhole es, all unser bisheriges Reden und Handeln zur Farce gemacht, ja ausgelöscht. Ich möchte aber zu meinem Leben stehen können, Herr Richter – und deswegen habe ich den beiden Flüchtlingen geholfen.

Dr. phil. Inge Jens ist Literaturhistorikerin und Publizistin.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2000/1 Der schwierige Weg zum Frieden, Seite