W&F 2020/3

Im Auge des Sturms

Die WHO in der COVID-19-Pandemie

von Anna Holzscheiter

Who is WHO? Zweifelsohne hat sich innerhalb von nur wenigen Monaten die Zahl der Menschen vervielfacht, die wissen, was sich hinter dem Akronym WHO verbirgt. Wie schon bei anderen Gesundheitskrisen vor und nach dem Ende des Kalten Krieges blicken große Teile der Weltbevölkerung und selbst der Mitgliedsstaaten mit gemischten Gefühlen auf die Weltgesundheitsorganisation. Die Autorin geht den aktuellen Diskussionen um die WHO nach und erklärt am Ende, warum eine handlungsfähige und finanziell ausreichend ausgestattete WHO unverzichtbar ist.

Welchen Beitrag kann die Weltgesundheitsorganisation leisten, um „allen Völkern zur Erreichung des bestmöglichen Gesundheitszustand[s] zu verhelfen“ (Artikel 1 der WHO-Verfassung von 1946) und Gesundheitssicherheit selbst in Zeiten einer vielerorts schwer kontrollierbaren globalen Pandemie herzustellen? Wie sehr hängen unser persönliches Wohlbefinden und der Schutz unserer individuellen und öffentlichen Gesundheit von den Handlungsmöglichkeiten, der Autorität und möglicherweise auch der Intransparenz und Ineffektivität der WHO ab? Wie stark wird die WHO von unterschiedlichen staatlichen und gesellschaftlichen, unternehmensnahen und profitorientierten Akteuren vereinnahmt? Und wie beeinflussen ihre mächtigsten Geldgeber die Handlungsfähigkeit der WHO in Zeiten eines globalen Gesundheitsnotstands und darüber hinaus?

All diesen wichtigen Fragen zum Trotz verfolgte in den vergangenen Monaten die Öffentlichkeit vor allem den sich zuspitzenden Konflikt zwischen den USA und China innerhalb der WHO. Die Ankündigung des US-Präsidenten Donald Trump im April 2020, die Zahlungen an die WHO einzustellen, weil diese aufgrund ihrer zu engen Beziehungen zu China die Welt nicht rechtzeitig vor der drohenden COVID-19-Pandemie gewarnt habe, seine Ankündigung Ende Mai, die USA würden ihre Zusammenarbeit mit der WHO beenden, und schließlich Anfang Juli seine Kündigung der WHO-Mitgliedschaft binnen Jahresfrist werfen ein grelles mediales Scheinwerferlicht auf die WHO und ihre Rolle in der Pandemie.

Die Kritik am zögerlichen Handeln der WHO teilen viele Beobachter*innen. Ähnlich wie bei der Ebola-Epidemie ab 2014 wird der WHO vorgeworfen, sie habe zu spät einen internationalen Gesundheitsnotstand ausgerufen. Während das zögerliche Handeln bei Ebola vor allem auf die dysfunktionale Arbeitsweise der WHO und deren mangelnde Führung zurückgeführt wurde, fokussiert die Kritik an den Fehlern der WHO gegenwärtig darauf, dass sie einer Verschleierungstaktik der chinesischen Regierung nichts entgegengesetzt habe. Der WHO-Nothilfekoordinator Mike Ryan hatte nach dem Besuch einer WHO-Delegation in China Ende Januar 2020 die chinesische Regierung für ihren Umgang mit der Corona-Epidemie ausdrücklich gelobt. Ihre Anstrengungen seien vorbildlich gewesen. Andere Politiker*innen und Wissenschaftler*innen äußern sich allerdings ähnlich kritisch über die Schwäche und Vereinnahmung der WHO wie Trump.

Jenseits der Frage, ob und wieviel Schuld die chinesische Regierung und die WHO an der COVID-19-Pandemie tragen, wird im öffentlichen Diskurs immer wieder die allgemeinere Frage erörtert, warum Staaten die WHO als politische Plattform nutzen – eine Frage, die verdeutlicht, wie stark doch das Bild von der WHO als technokratischer Gesundheitsbehörde und politikfreier Zone die öffentliche Wahrnehmung dominiert. Gesundheitsfragen sollen bitte jenseits von Politik gelöst werden, daheim wie auf dem internationalen Parkett, und ganz besonders in Zeiten eines internationalen Gesundheitsnotstands.

Die ideale Weltgesundheitsorganisation stellen wir uns vor als Hort von Expert*innen, die Richtlinien und Standards formulieren, für Gesundheitskrisen genauso wie für eine lange Liste anderer Gesundheitsthemen und -probleme, die Länder beim Aufbau robuster und für alle zugänglicher Gesundheitssysteme beraten, die für die Koordination der Maßnahmen ihrer Mitgliedsstaaten und die Einbindung gesellschaftlicher Akteure zuständig sind. Wir wünschen uns die WHO frei vom Tauziehen um Einfluss, frei von Interessenpolitik und Lobbyismus, frei von Wettbewerb und Streit um Expertise, Wissen, Fakten und Daten. Die Vorstellung behagt uns gar nicht, dass im politischen Alltagsgeschäft von Regierungen, Ministerien und eben auch der WHO, in Zeiten großer Unsicherheit und trotz täglich sich wandelnder Fakten und Erkenntnisse weitreichende Entscheidungen fallen und Krisenstrategien beschlossen werden müssen. Genauso wenig wünschen sich viele innerhalb der WHO eine »Politisierung« der COVID-19-Pandemie, eine Infragestellung der Relevanz und Integrität der WHO und ihrer Führungspersonen, allen voran ihres Generaldirektors, und eine Kritik an ihrem Krisenmanagement zu einem Zeitpunkt, an dem in vielen Ländern und Regionen der Welt die Krise in vollem Gange ist.

Und doch kam – scheinbar aus heiterem Himmel – schon kurze Zeit nach dem Ausrufen einer »public health emergency of international concern« (PHEIC; gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite) durch die WHO die große Weltordnungspolitik ins Spiel, und viele, die sich sonst kaum mit internationalen Organisationen und internationaler Politik befassen, zeigten sich entsetzt. Ich möchte behaupten, dass die öffentliche Debatte über die Rolle der WHO in der Pandemie von einer seltsam ahistorischen und weltfremden Vorstellung von internationaler Politik und internationalen Organisationen geprägt ist.

Internationale Organisationen, und das schließt die WHO genauso ein wie das Welternährungsprogramm, das UN-Kinderhilfswerk oder die internationale Arbeitsorganisation, sind selbstverständlich immer auch politische Institutionen, selbst dann, wenn wir annehmen, dass sie vorwiegend technische, logistische oder humanitäre Aufgaben vor Ort erfüllen sollen. Einflussreiche Akteure der globalen Gesundheitspolitik, allen voran die großen Stiftungen und öffentlich-privaten Partnerschaften, die sich in diesem Feld tummeln, umschreiben globale Gesundheit gerne als ein Feld evidenz-basierter Strategien und Programme, deren vorrangiges Ziel es ist, Leben zu retten und Gesundheit und Wohlergehen weltweit sicherzustellen. Dass dabei natürlich auch Prioritäten gesetzt werden, dass um die Agenda der globalen Gesundheit, um Strategien, Therapien und Wissen ein fortwährender Konflikt ausgetragen wird – dieser Aspekt von Gesundheitspolitik als politischer Kampf um Einfluss, legitimes Wissen, Prioritäten und »value for money« soll lieber im Verborgenen bleiben.

Im Auge des Sturms

Internationale Gesundheitspolitik ist immer auch Ausdruck einer größeren und längerfristigen Weltordnungspolitik sowie von Auseinandersetzungen um Einflusssphären innerhalb und außerhalb von internationalen Organisationen. Und sie zeigt momentan auch, wie die Verachtung, die populistische Präsidenten, wie Trump oder Jair Bolsonaro, für multilaterale Organisationen hegen, sich für deren Zwecke als nützlich erweist. Indem sie nahelegen, auf der einen Seite stünden die WHO, auf der anderen einzelne Staaten der Welt, negieren sie die lange Geschichte und den Einfluss ihrer eigenen Länder als Mitgliedsstaaten und tragende Säulen der Politik, die internationale Organisationen wie die WHO machen. Eine solche Darstellung erlaubt es, die Schuld für die verheerende Lage im eigenen Land und das eigene klägliche Krisenmanagement auf die WHO abzuwälzen.

Jetzt, da die WHO wie keine andere Institution im Rampenlicht der internationalen Politik steht, ist das Interesse daran, die Politik hinter der globalen Gesundheit zu verstehen, größer denn je. Die Vorwürfe Donald Trumps gegen die WHO sind ungeachtet ihrer Verdrehung und Instrumentalisierung in Verschwörungstheorien offenbar auf fruchtbaren Boden gefallen. Befürworter*innen und Kritiker*innen der WHO finden sich in Politik, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Wirtschaft. Die Serie an Interviews, Medienbeiträgen und Kommentaren, beispielsweise in »Foreign Policy« (Lynch 2020), »Foreign Affairs« (Bollyky und Fidler 2020) oder »The Lancet« (Durrheim et al. 2020), reißt nicht ab. Immer wieder steht dabei die Frage im Raum, wie sehr sich die WHO von Interessen, Staaten und privaten Geldgebern abhängig machen darf, welche Macht sie über starke Mitgliedsstaaten, wie China, hat und welches Handeln wir in Zeiten einer globalen Gesundheitskrise von ihr erwarten.

Einmal mehr zeigt sich in der COVID-19-Pandemie, wie sehr internationale Gesundheitsnotstände ein diplomatischer Drahtseilakt für die WHO sind. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn Regierungen, die ein ungewöhnliches Infektionsgeschehen im eigenen Land beobachten, dies zu vertuschen versuchen (wie schon bei der SARS-Epidemie 2002/2003), obwohl sie gemäß den Internationalen Gesundheitsvorschriften der WHO die Verpflichtung haben, die Staatengemeinschaft zu alarmieren. Bei der Ebola-Epidemie 2014 brauchte die WHO viereinhalb Monate, um endlich von ihrem Recht Gebrauch zu machen, die höchste Alarmstufe, einen internationalen Gesundheitsnotstand, auszurufen. Die berechtigte Kritik an der Schwerfälligkeit der Organisation und die verheerenden »lessons learned« aus der Ebola-Krise führten zu weitreichenden Reformen im WHO-Krisenmanagement, allen voran die Einrichtung eines Gesundheitsnotstandsprogramms und einer unabhängigen Aufsichts- und Beratungskommission, die die Notstandsmaßnahmen der WHO engmaschig evaluieren soll.

In der COVID-19-Pandemie hat die WHO vier Wochen gebraucht, um einen internationalen Gesundheitsnotstand auszurufen. Kritiker urteilen, die WHO habe auch hier zu spät auf den Alarmknopf gedrückt. Die unabhängige Aufsichtskommission wiederum weist in ihrem ersten Bericht von Mitte Mai daraufhin, trotz der Ausrufung eines Gesundheitsnotstandes Ende Januar 2020 hätten viele Länder nur sehr zögerlich auf die Warnung der WHO reagiert. Auch in Deutschland stufte das Robert Koch-Institut erst am 17. März 2020 das Infektionsrisiko der Bevölkerung als »hoch« ein.

Ungeachtet des »shitstorm« aus den USA und des machtpolitischen Strudels, in dem die WHO sich seit Mitte April befindet, zeigte die online abgehaltene Jahresversammlung der WHO-Mitgliedsstaaten Mitte Mai, dass die internationale Gemeinschaft, und zwar nicht nur die Staaten, sondern auch die wissenschaftlichen und nicht-staatlichen Akteur*innen und Organisationen, mehr denn je auf die WHO angewiesen ist. Überraschend wenig Raum nahm während des Gipfels die Auseinandersetzung zwischen den USA und China ein. Stattdessen bewirkten die Besonnenheit einiger Staatschef*innen, einschließlich Kanzlerin Merkel, und die vermittelnde Rolle der Europäischen Union, dass eine Resolution mit einem umfangreichen Maßnahmenkatalog verabschiedet werden konnte (WHO 2020).

Diese Resolution stärkt der WHO einerseits den Rücken, verlangt aber zugleich eine „unparteiische, unabhängige und umfassende“ wissenschaftliche Untersuchung des Ursprungs des Coronavirus. Statt die WHO noch stärker in ihrer Autonomie und Autorität einzuschränken – und damit möglicherweise noch anfälliger für die Vereinnahmung durch starke Mitgliedsstaaten zu machen –, bestätigen die Mitgliedsstaaten die Rolle der WHO als Koordinationsinstanz des internationalen Gesundheitsmanagements. Die Resolution unterstreicht auch die beispiellose Relevanz der WHO für den Austausch zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden. Die Forderungen nach einem gerechten Zugang zu Diagnostik, Therapie und Impfstoffen für SARS-CoV-2, nach einem freiwilligen Pool für Patente und generell nach internationaler Solidarität und Zusammenarbeit offenbaren, wie wichtig diese Institution für eine wahrhaft »globale Perspektive« ist in einer Zeit, in der Grenzen geschlossen, Medizinprodukte gehortet und bereits egoistische Ansprüche auf den Impfstoff »in spe« erhoben werden.

Die Untätigkeit des UN-Sicherheitsrats

Während die WHO momentan extrem belastet ist und mit einer nie dagewesenen Präsenz zugleich an ihrem Image und an der Bewältigung der Krise arbeitet, war das mächtigste Organ der Vereinten Nationen, der UN-Sicherheitsrat, in den vergangenen Monaten aus einem anderem Grund massiver Kritik ausgesetzt. In der Ebola-Krise 2014/15 hatte sich der Sicherheitsrat zum ersten Mal in seiner Geschichte zu einer Dringlichkeitssitzung aufgrund einer Gesundheitskrise getroffen und die Ebola-Epidemie als Gefahr für Frieden und Sicherheit weltweit eingestuft (Resolution S/RES/2177 vom 18. September 2014). Er forderte unter anderem, die UN-Mitgliedsstaaten sollten die Reise- und Grenzbeschränkungen aufheben (!), die während des Ebola-Ausbruchs verhängt worden waren.

In der aktuelle Pandemie gelang es dem UN-Sicherheitsrat nach monatelangen Verhandlungen erst Anfang Juli, eine dringend notwendige Resolution zu verabschieden. Am 23. März 2020 hatte UN-Generalsekretär António Guterres verkündet, es sei Zeit „bewaffnete Konflikte zu beenden und sich gemeinsam auf den wahren Kampf unseres Lebens zu konzentrieren”, und rief zu einem „sofortigen globalen Waffenstillstand in allen Teilen der Welt“ auf (Guterres 2020). Daraufhin drängte insbesondere Frankreich zum Handeln, um dem UN-Generalsekretär den Rücken zu stärken. Die USA versuchten, die 15 Mitglieder des UN-Sicherheitsrates, dem China als ständiges Mitglied mit Vetorecht angehört, dazu zu überreden, in der Resolution China als Ursprungsland zu nennen, ja gar das Virus als »Wuhan-Virus« zu bezeichnen. Überdies, so die Forderung der USA, solle die WHO in einer solchen Resolution auf keinen Fall erwähnt werden. Russland wiederum stellte sich bei Formfragen quer und unterstellte, das Votum des Sicherheitsrates sei nur bei körperlicher Anwesenheit gültig, nicht per Videokonferenz. Nachdem der überarbeitete Resolutionstext, von Deutschland und Estland als nicht-ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates eingereicht, die Nennung der WHO nicht mehr vorsah, bestand nun die chinesische Delegation darauf, es müsse zumindest die UN Health Group erwähnt werden. Erst als am 1. Juli 2020 Deutschland als nicht-ständiges Mitglied des Sicherheitsrates für einen Monat den Vorsitz übernahm, gelang endlich der Durchbruch, und der Sicherheitsrat sprach sich einstimmig für Resolution 2532 aus, die eine globale Waffenruhe fordert, aber zugleich die WHO nicht namentlich benennt – stattdessen wird dort nur von „allen relevanten Teilen des UN-Systems“ gesprochen (Resolution S/RES/2532(2020)).

Die sicherheitspolitischen Risiken der COVID-19-Pandemie sind offensichtlich und groß, die Konflikte im Sicherheitsrat werfen daher ein verheerendes Licht auf den Mangel an Vertrauen und Kooperationsbemühungen unter den UN-Mitgliedsstaaten. Gerade weil die COVID-19-Pandemie ungleich dramatischere Ausmaße angenommen hat als die Ebola-Pandemie 2014/15, ist ein koordiniertes Handeln von UN-Sicherheitsrat, UN-Generalsekretär und den anderen Organisationen im UN-System notwendiger denn je. Vergangene Gesundheitsnotstände und Resolutionen des Sicherheitsrates hatten gezeigt, wie stark globale Gesundheit und sicherheitspolitische Fragen miteinander verknüpft sind. Das Gezerre um die COVID-19-Resolution verdeutlicht, dass nicht alle Mitgliedsstaaten des Sicherheitsrates sich eine solche Ausweitung des Mandats wünschen. Auch der chinesische UN-Botschafter Zhang Jun wollte das Thema lieber bei den UN-Organisationen sehen, die sich explizit mit Gesundheit befassen, und nicht beim Sicherheitsrat.

Who pays WHO?

Die Aufregung über den Rückzug der USA aus der wichtigsten internationalen Organisation für Gesundheitsfragen ist groß. Die WHO mitten in der Pandemie in Frage zu stellen, „wäre wie während eines Flugs den Piloten aus dem Flugzeug zu werfen“, twitterte der deutsche Außenminister Heiko Maas Mitte April. Zugleich warnte er die USA vor einem internationalen Bedeutungsverlust, sollten sie sich aus der WHO zurückziehen.

Welche Auswirkungen wird die US-amerikanische Abkehr von der WHO aber tatsächlich haben? Was passiert, wenn der größte Beitragszahler den Geldhahn zudreht? Geht dann der WHO tatsächlich das Geld aus? Natürlich nicht. Im Nu stehen andere bereit, um nicht nur die finanzielle Lücke zu schließen, die die USA hinterlassen, sondern auch die Machtlücke in der WHO. Die 2019 von Deutschland und Frankreich gegründete »Allianz der Multilateralisten«, die aus gut 20 Staaten besteht, sprach sich am Tag nach der Hiobsbotschaft aus den USA für eine Stärkung der WHO aus. Angela Merkel räumte zwar ein, die WHO habe zu Beginn nicht ausreichend über die Gefahr des COVID-19-Ausbruchs in der chinesischen Provinz Wuhan informiert, sicherte der Organisation aber dennoch ihre volle Unterstützung zu. Auch Bill Gates kritisierte den US-Präsidenten scharf für seine Abkehr von der WHO und machte unmissverständlich klar, dass auch er, der mit seiner Stiftung wie kein anderer privater Akteur globale Gesundheitspolitik beeinflusst, gerne für die fehlenden Beiträge der USA aufkommen wird. Der chinesische Präsident Xi kündigt bei der Jahresversammlung der WHO an, China wolle die Arbeit der Organisation in der COVID-19-Pandemie mit zwei Milliarden Dollar unterstützen, um vor allem Entwicklungsländern den Zugang zu einem Impfstoff zu ermöglichen.

Die WHO hat sich seit dem Ende des Kalten Krieges, aber vor allem seit der Jahrtausendwende, stark verändert. Der Siegeszug des Liberalismus nach 1990, der sprunghafte Anstieg zivilgesellschaftlicher Akteure und Organisationen, die sich transnational vernetzten und organisierten, und das steigende Interesse multinationaler Unternehmen, über philanthropische Stiftungen und öffentlich-private Partnerschaften soziale Verantwortung zu übernehmen – all dies vergrößerte in den 1990er Jahren auch in der globalen Gesundheitspolitik den Einfluss privater Akteure immens. Vor allem die damalige WHO-Generaldirektorin Gro Harlem Brundlandt förderte die Zusammenarbeit zwischen der WHO und gemeinnützen sowie profitorientierten Akteuren. Damit sollte sichergestellt werden, dass die WHO sich als zentraler Akteur in einer stetig länger werden Liste von Gesundheitsproblemen einbringen konnte: HIV/AIDS, Malaria, Tuberkulose, vernachlässigte Tropenkrankheiten, Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten …

Zugleich schlossen sich jedoch auch viele Mitgliedsstaaten der WHO alternativen, öffentlich-privaten Gesundheits­initiativen an, allen voran dem »Globalen Fonds zur Bekämpfung von AIDS, Malaria und Tuberkulose« oder der globalen Impfallianz GAVI. Diese neuen, als flexible, unbürokratische und auf einzelne Gesundheitsprobleme zugeschnitten konzipierte Institutionen sollten der WHO Konkurrenz machen. Das schwindende Vertrauen der Mitgliedsstaaten in »ihre« WHO drückt sich auch darin aus, dass der WHO-Generalsekretär und die Mitarbeiter*innen seiner Behörde über ein immer kleiner werdendes reguläres Budget verfügen. In den 1970er Jahren betrug das Verhältnis zwischen den Pflichtbeiträgen der Mitgliedsstaaten und den freiwilligen, mit einem speziellen Verwendungszweck versehenen Beiträgen 80:20. Inzwischen liegt es bei 20:80. Wer sich eine WHO wünscht, die weder von großen privaten Stiftungen noch von autokratischen oder populistischen Regierungschef*innen überrollt wird, muss zwangsläufig fordern, dass die Mitgliedsstaaten mehr Beiträge in das reguläre Budget der WHO einzahlen – das ist der dringendste Reformbedarf für die WHO.

Ein Appell für eine starke WHO

Eine Organisation, die weltweit tätig ist, die sich mittlerweile nicht nur um Impfstandards, die Eindämmung von Infektionskrankheiten oder Medikamentenkontrolle kümmert, sondern auch um eHealth, Homöopathie, Gesundheit in Gefängnissen oder mentale Gesundheit, und die vor allem der Verständigung und demokratischen Willensbildung zwischen 194 Mitgliedsstaaten und einer Vielzahl nichtstaatlicher Akteure dient – eine solche Organisation ist zwangsläufig schwerfälliger und bürokratischer als kleine, hierarchisch organisierte und oft hochgradig intransparente »public-private partnerships«, die sich für einzelne Gesundheitsprobleme zuständig erklären. Für schwächere Länder, insbesondere Länder des Globalen Südens, genauso wie für die vielen NGOs, Berufsverbände, Betroffenengruppen, Stiftungen, Unternehmen und Wissenschaftler*innen, die in der WHO zusammentreffen, ist es von immensem Wert, über die grundlegenden Werte, Themen und Strategien globaler Gesundheitspolitik mitbestimmen zu können, eine Stimme zu haben, wenn über Agenden, Budgets und die Validität und Folgen wissenschaftlicher Erkenntnisse entschieden wird.

Die Botschaften der WHO und ihres Generaldirektors in den vergangenen vier Monaten haben unmissverständlich die internationale Solidarität mit ärmeren Ländern des Globalen Südens und die globale Gerechtigkeit thematisiert und darauf hingewiesen, wie sehr die Pandemie auch eine Pandemie der Armut und Ungleichheit ist – und wie groß die Verantwortung mächtiger und wohlhabender Staaten, durch internationale Kooperation und Solidarität globale Gesundheitssicherheit möglich zu machen.

Literatur

Bollyky T.J.; Fidler, D.P. (2020): It’s Time for an Independent Coronavirus Review. Foreign Affairs, 24.4.2020.

Durrheim, D.N.; Gostin, L.O.; Moodley, K. (2020): When does a major outbreak become a Public Health Emergency of International Concern? The Lancet, 19.5.2020.

Guterres, A. (2020): Aufruf zu einem globalen Waffenstillstand. Regionales Informationszentrum der Vereinten Nationen (UNRIC), 23.3.2020.

Lynch, C. (2020): Can the United Nations Survive the Coronavirus? Foreign Policy, 8.4.2020.

WHO (2020): Seventy-Third World Health ­Assembly, Agenda item 3 – COVID-19 re­sponse. Dokument WHA73.1 vom 19. Mai 2020.

Prof. Dr. Anna Holzscheiter ist Leiterin der Forschungsgruppe »Governance for Global Health« am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und Professorin für Internationale Politik an der Technischen Universität Dresden.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2020/3 Der kranke Planet, Seite 28–31