Im Zeichen der Gewalt
Rede zum Angela-Davis-Kongress 1972
von Oskar Negt
Die gegenwärtige Debatte in den Massenmedien über die Generation der »68er« wird wieder einmal an der Gewaltfrage festgemacht und dabei gibt es nur eine Gewalt, die »Gewalt der Straße«. Die Ursachen für den Protest vor allem junger Menschen bleiben ausgeblendet, genauso wie die damalige heftige Debatte innerhalb der »Linken« über Widerstandsformen und Gewalt. Die Rede des Soziologen Oskar Negt, die er am 3. Juli 1972 auf dem Frankfurter Opernplatz gehalten hat, geht ein auf das Verhältnis »Gewalt von oben und Gewalt von unten«. Gleichzeitig setzt er sich mit den Methoden des individuellen Terrors auseinander. Er eröffnete mit dieser Rede den Angela-Davis-Solidaritätskongress, der vom Sozialistischen Büro in Offenbach organisiert wurde. Die mit der Todesstrafe bedrohte US-Bürgerrechtlerin war im Februar 1972 nach einjähriger Haft und zahlreichen Protestaktionen in den USA und in Europa gegen eine Kaution von über 100. 000 Dollar freigelassen worden. Im Mittelpunkt des Frankfurter Kongresses stand das Verhältnis der Linken zur Gewalt und damit auch ihr Verhältnis zur »Rote-Armee-Fraktion«. Wir dokumentieren Negts Rede, leicht gekürzt, wie sie in der SB-Zeitschrift »Links« veröffentlicht wurde.
Dieser heute beginnende Kongress steht wie kein anderer der westdeutschen Nachkriegsgeschichte im Zeichen der Gewalt. Keine Pogromhetze gegen Linke, gegen Universitäten, Schulen, gegen die politisch aufgewachte Intelligenz und gegen die rebellierende Jugend dieses Landes wird uns aber davon abbringen, Gewalt nicht nur dort zu suchen und zu verurteilen, wo es den herrschenden Gewalten gefällt. Wir werden diesen Kongress zum Forum der Auseinandersetzung, der Anklage, des Widerstandes vor allem auch gegen jene Gewaltformen machen, die sich unter dem Deckmantel biederer Friedfertigkeit verbergen.
Wer von Gewalt spricht und sie mit Entrüstung verurteilt, ohne gleichzeitig und in erster Linie von Vietnam zu sprechen, ist ein Heuchler. Ehe es die Desperados der Baader-Meinhof-Gruppe gab, gab es die mörderischen Aktionen der angeblich fortgeschrittensten Demokratie der Welt gegen ein Volk, das sich nach jahrzehntelanger Unterdrückung und Ausbeutung endgültig von seinen korrupten Cliquen, den Diems und Thieus, befreien wollte.
Wo war die Entrüstung, ja auch nur die leise Andeutung eines Protestes unserer führenden Politiker, die die Gewalt des Faschismus erlebt hatten, um ein Beispiel der Integrität des politischen Verhaltens jener zu geben, die ihn nur aus Büchern kannten, aber eines sehr genau begriffen hatten: dass politische Moral unteilbar ist; dass derjenige, der den Völkermord in Vietnam toleriert oder gutheißt, das Recht verliert, im Namen der Demokratie zu sprechen; dass der unglaubwürdig wird, der zwar den Antisemitismus der Nazis verurteilt, während er für den gegenwärtigen Rassismus in der Welt, in Südafrika oder den Vereinigten Staaten, wohlwollendes Verständnis aufbringt.
Vietnam ist zum Symbol der Gewalt für diese Generation geworden. Nicht nur die alltäglich auf Vietnam niedergehende Bombenlast überschreitet bei weitem die des Zweiten Weltkrieges; die mechanische Vernichtung von Menschenleben hat Ausmaße angenommen, die sehr bald den Verwaltungsmassenmord des Dritten Reiches in den Schatten stellen können. General Westmoreland hat als Oberkommandierender der amerikanischen Truppen in Vietnam selbstsicher verkündet, dass „uns nicht mehr als zehn Jahre vom automatischen Schlachtfeld trennen“. – Diese Strategie wird heute in ganzer Brutalität befolgt. Die Visionen dieses Generals vom kommenden Reich der Unfreiheit sind die Visionen eines geschichtlich zum Untergang verurteilten Systems, das sich nur noch durch die Ausbildung von technologischen Vernichtungsfantasien und Zerstörungspraktiken am Leben erhalten kann. Der General sagt: „Ich sehe Schlachtfelder, auf welchen wir alles zerstören können … durch sofortige Informationsaufnahme und fast sofortige Anwendung von tödlicher Zerstörungskraft. Auf dem Schlachtfeld der Zukunft werden feindliche Kräfte lokalisiert, aufgespürt werden und fast ohne Zeitverlust beschossen werden können … (automatisierte Feuerkontrolle sichert eine) fast hundertprozentige Tötungswahrscheinlichkeit …“ (zitiert: Links, Nr. 7, Januar 1970, S. 8).
Mittlerweile weiß jedermann, selbst die Frankfurter Allgemeine beginnt es zu ahnen, dass es besonders in sozialrevolutionären Befreiungskriegen militärisch eingrenzbare Ziele nicht gibt; die Bombardierungen nach Planquadraten treffen alles Leben. Es war der amerikanische Präsident Johnson, der den Begriff der Vergeltung wieder in die politische Sprache einführte. Was ist aber der Unterschied zwischen Strafexpeditionen der Nazis in Oradour und Lidice und einem vernichteten vietnamesischen Dorf, wenn feststeht, dass es begrenzbare militärische Ziele nicht gibt?
Studenten und Jugendliche waren die Einzigen, die das Grundrecht der Informationsfreiheit ernst nahmen, um sich über Völkermordpraktiken auch verbündeter Nationen zu informieren und öffentlich dagegen aufzutreten. Sie wollten nicht in die gleiche Situation kommen, in der die Mitläufer und stillen Dulder des Naziregimes waren: Von der Gewalt, von den Konzentrationslagern nichts gewusst zu haben.
Auf ihren Protestdemonstrationen wurden sie geprügelt und beschimpft; für den großen Teil war es die erste Erfahrung der manifesten Gewalt im eigenen Lande, und viele haben das bei späteren Aktionen immer wieder bestätigt und niemals vergessen.
Das politische Bewusstein der ersten Generation, die vom Krieg nicht unmittelbar getroffen war, entzündete sich am Krieg, an der Gewaltpraxis der alten und neuen Kolonialherren, die mit Blut und Feuer ihre Herrschaft aufrecht erhielten. An den großen Protestdemonstrationen, die Jugendliche und Studenten gegen Tschombe und den Schah von Persien veranstalteten, zogen mitunter noch Politiker mit, die aber sehr bald die gesicherte Karriere dem Risiko der politischen Kompromisslosigkeit vorzogen.
Die erste zivile und politische Generation auf deutschem Boden, die aus der Katastrophengeschichte der deutschen Jugend der letzten 50 Jahre etwas gelernt hatte, die nicht bei jeder Gelegenheit nach dem Henker rief, die den stumpfsinnigen Hurra-Patriotismus überwunden hatte, die, als die Ostpolitik noch das gewagte Abenteuer eines Kreuzzuges gegen den Kommunismus war, für eine konsequente Anerkennung der von Hitler geschaffenen Resultate des Zweiten Weltkrieges eintrat – diese zivile und politische Generation stieß von Anbeginn auf eine Mauer von Aggression, von Unverständnis und Dickfelligkeit der Politiker aller Parteien, die gerade die sensibelsten der Studenten und der Jugendlichen besonders treffen musste.
Gerade in dieser Stunde ist es deshalb notwendig, an jenes fast auf den Tag genau fünf Jahre zurückliegende Ereignis zu erinnern, an dem der neurotische, aufgehetzte Waffensammler Kurras in Polizeidiensten Benno Ohnesorg erschoss – und schließlich freigesprochen wurde. Und auch der wild gewordene Anstreicher, der ein Jahr später das Attentat auf Dutschke verübte, ist nur das traurige Opfer der von der Springer-Presse und ihrem Anhang beharrlich gesteuerten Saat der Gewalt gegen Andersdenkende, die längst noch nicht in ganzem Umfang aufgegangen ist. Wenn Politiker der SPD heute davon sprechen, dass sie in den nächsten Wahlkampf mit kugelsicheren Westen gehen müssten, so werden sie wissen, von welcher Seite ihnen Gewalt droht. Wenn sie aber meinen, sie könnten das Schlagwort von den Linksradikalen als eindeutige Bestimmung für Freund-Feind-Verhältnisse verwenden, so unterliegen sie einer fatalen Täuschung: Es gibt kein objektives und eindeutiges Kriterium für die Unterscheidung von rechts und links; das rituale Bekenntnis zur demokratischen Grundordnung nützt gar nichts. Für Franz-Josef Strauß ist bereits Karl Schiller ein Linksradikaler.
In Deutschland besteht die gefährliche Neigung, grundlegende gesellschaftliche Konflikte durch die Polizei zu lösen. Die Masse der Polizisten steht heute in allen kapitalistischen Ländern an der vordersten Front der Klassenauseinandersetzungen. Sie holen für die, die mit der Aufrechterhaltung dieser gesellschaftlichen Zustände profitable Interessen verbinden, die Kastanien aus dem Feuer. Sie werden schlecht bezahlt; die Planstellenhierarchie ist so, dass für den einfachen Polizisten praktisch nur geringe Chancen des Aufstiegs bestehen, während der Abiturient, gar ein Akademiker, der von oben einsteigt, nach relativ kurzer Zeit Offizier und Vorgesetzter wird. Das kann nicht die Sympathien für die Intellektuellen, mit denen sie sich an den Universitäten und Schulen herumschlagen müssen, erhöhen. Das Wort von Rosa Luxemburg, dass Soldaten und Politiker in Uniform gesteckte Proletarier sind, trifft heute sicherlich nicht mehr in gleicher Weise zu; aber ihre Lebenssituation ist nicht besser als die der Arbeiter. Das einzige Privileg, das sie haben, besteht in der legalen Abreaktion ihrer Aggressionen, die bei ihnen nicht weniger als bei Studenten und anderen Menschen das Produkt von Unterdrückung und Ausbeutung sind.
Wenn man ihnen heute wieder einzureden versucht, das Gewaltpotenzial dieser Gesellschaft würde sich wesentlich durch die Zentralisierung der Verbrechensbekämpfung und den Ausbau des Polizeiapparates verringern, wird sich dies als eine grandiose Täuschung erweisen. Die Profilierungsbedürfnisse eines »liberalen« Innenministers, der sich als ein Mann von Recht und Ordnung ins Bild setzen will, gehen auf die Amerikanisierung der Verbrechensbekämpfung, die bei der chronischen Neigung der Deutschen, politische Konflikte als kriminelle Delikte zu behandeln, für uns alle eine bedrohliche Entwicklung bedeutet.
Aber kein einziges Problem wäre dadurch gelöst. Denn der Nährboden von Krankheiten, psychischer Zerrüttung, Aggressionen und Gewalt ist der kapitalistische Betrieb, ist die bürgerliche Restfamilie, die ausgleichen soll, was anderswo entsteht; sind die Schulen, in denen die Kinder in kleine Räume eingepfercht sind, so dass sie ihre sozialen Fähigkeiten nicht entwickeln können; es sind die Universitäten mit vollgestopften Hörsälen, in denen vernünftiges Leben kaum noch möglich ist; man sollte sich hüten, die linken Lehrer und Hochschullehrer aus Schulen und Universitäten zu drängen, sie sind die einzigen, die durch alltägliche Überstunden, durch Organisation kleiner Gruppen diesen katastrophalen Laden überhaupt noch am Laufen halten.
Wissen die Politiker, die diese Probleme mit der Polizei lösen wollen, dass der Boden, auf dem kriminelles Verhalten wächst, die missglückte Sozialisation in der Familie und in der Schule ist?… Ein führender Arzt und enger Freund Nixons hat vorgeschlagen, Massenuntersuchungen aller sechs- bis achtjährigen Kinder einzuleiten, ob sie kriminelle Verhaltensanlagen zeigen. Für gestörte Kinder mit verbrecherischem Kern schlage er den Aufbau von »Behandlungslagern« vor.
Wir wissen heute, dass kriminelles Verhalten ein gesellschaftliches Produkt ist. Würde man nur einen Teil des Geldes, das für die oft aussichtslose Bekämpfung der Folgen, für Gefängnisse, Irrenanstalten, für Polizei und Privatdetektive ausgegeben wird, für die Bekämpfung der Ursachen verwenden, dann könnte man mit langfristigen Wirkungen rechnen. Eine Gesellschaft, die diese Minimalaufgabe nicht zu lösen vermag, hat ihre Berechtigung verloren.
Diese Einschätzung des bestehenden Gewaltpotenzials und der Aktionsstrategien der herrschenden Gewalt gegenüber der sozialistischen und kommunistischen Linken darf uns aber nicht den Blick dafür verstellen, unmissverständlich und in aller Öffentlichkeit zu erklären: Es gab und gibt mit den unpolitischen Aktionen, für die die Gruppe um Andreas Baader und Ulrike Meinhof die Verantwortung übernommen hat, nicht die geringste Gemeinsamkeit, die die politische Linke der Bundesrepublik zur Solidarität veranlassen könnte. Das gilt im Grunde für alle Fraktionen der Linken, die sich mehr und mehr auf eine langfristige, beharrliche, sehr viel Klarheit erfordernde Politik eingestellt haben. Wer Politik zu einer individuellen Mutprobe macht, ohne noch die sozialen Ziele und die einzelnen Veränderungsschritte angeben zu können, wird allmählich Opfer der eigenen Illusionen. Er verkennt die Angst, die er verbreitet, als politischen Erfolg.
Wer glaubt, mit exemplarisch gemeinten Aktionen, mit spektakulären Gefangenenbefreiungen, Bankeinbrüchen, Bomben legen unter hiesigen Verhältnissen eine revolutionäre Situation herstellen oder auch nur die Aktionsbasis erweitern zu können, errichtet eine undurchdringliche Mauer zwischen sich und der gesellschaftlichen Erfahrung.
Verletzte oder getötete Springer-Journalisten tasten nicht den Springer-Konzern an; ein verletzter oder getöteter Polizist mag den Polizeiapparat einen Augenblick verunsichern, aber mit Sicherheit wird er ihn langfristig verstärken. Und eines kommt hinzu: So wenig der Polizeiknüppel das Zentrum der reaktionären Gewalt ist, so wenig hat das geschickte Bombenlegen irgendetwas mit revolutionärer Gewalt zu tun. Die Fanale, die sie mit ihren Bomben setzen wollen, sind in Wirklichkeit Irrlichter.
Wenn überhaupt von zusammenhängenden Vorstellungen einzelner dieser Gruppen gesprochen werden kann, so handelt es sich um ein Gemisch von Illegalitätsromantik, falscher Einschätzung der gesellschaftlichen Situation als offener Faschismus und illegitimer Übertragung von Stadtguerilla-Praktiken auf Verhältnisse, die nur aus einer Verzweiflungssituation heraus mit Lateinamerika verwechselt werden können. In der Tat sind es Verzweiflungsaktionen, die hier zur Diskussion stehen; und die politische Kritik an ihnen besteht darin, dass sie lediglich die Krankheitssymptome dieser Gesellschaft auf einer anderen Ebene widerspiegeln. Die Pathologie dieser Gruppen reicht nicht hin, auch nur die pathologischen Erscheinungsformen des Kapitalismus zu treffen, sondern sie ist deren ganz getreues Spiegelbild. Und weil diese Gruppen den Bedürfnissen des Systems entgegenkommen, alle sozialistische Politik zu kriminalisieren, sollten sie ihren aussichtslosen Kampf einstellen und ihre Niederlage offen eingestehen, um nicht noch andere, vor allem Jüngere, in selbstmörderische Abenteuer hineinzuziehen.
Viele, die die Bitterkeit der erfahrenen Ohnmacht gegenüber der Polizei und den Gerichten nach wie vor spüren und mit Sympathie über zwei Jahre hinweg die vom ohnmächtigen Fahndungsapparat Verfolgten begleiteten, ohne allerdings die Rolle des distanzierten Beobachters eines Politschauspiels aufzugeben, werden in dieser Distanzierung nur Einseitigkeit, Verständnislosigkeit für die Motive und Konzeptionen der Baader-Meinhof-Gruppe sehen. Was immer geschieht: für sie hat jeder, der etwas gegen das System unternimmt, ganz unabhängig von der jeweiligen Beziehung zwischen Zielen und eingesetzten Mitteln, einen verbürgten Anspruch auf Solidarität der gesamten Linken.
Aber die Mechanik der Solidarisierung zerstört jede sozialistische Politik. Sie ist das schlechteste Erbteil der Protestbewegung. Die unter Solidarisierungszwang stehende Masse der Politisierten, der Studenten, Schüler, Jungarbeiter, die sich mühsam von ihren Familien, dem disziplinierenden Druck der Betriebe und der Ausbildungssituation abgesetzt haben, verlieren allmählich die Fähigkeit, selber Erfahrungen zu machen. Ständig im Zugzwang, den Anschluss an die radikalsten Positionen nicht zu verpassen, gewinnen sie ihre labile, außen geleitete Identität aus der bloßen Identifizierung mit den Erfahrungen anderer. Selbst ernannte Avantgarden, ob es sich nun um »Partei«-Gründungen oder um die »Rote Armee Fraktion« handelt, spiegeln ihnen gesellschaftliche und geschichtliche Erfahrungen vor, die der einzelne, der Schüler in der Schule, Arbeiter und Lehrling im Betrieb, Student in der Hochschule, in den eigenen Arbeitszusammenhängen weder nachvollziehen noch auf politische Konsequenzen bringen kann.
Und was bedeutet hier überhaupt Solidarität? Sie beruht stets auf Gegenseitigkeit. Ohne ein Minimum an proletarischer Öffentlichkeit, ohne die Möglichkeit der aktiven Beteiligung an der Diskussion über Strategie und Taktik, über geplante Aktionen, verliert Solidarität ihren materiellen Boden; sie wird zu einer Form erpresserischer Solidarität, die auf Trennungsängsten beruht, und diese schlägt mit Sicherheit auf die Akteure zurück. Durch sie wird jeder, der seine eigene politische Existenzweise einem kurzfristigen Abenteuer nicht zu opfern bereit ist, der keine aktive Hilfe leistet, wenn sie ungebeten und oft auch anonym vor der Türe steht, mit dem Verratsstigma belastet. Der Versuch, jeden vor vollendete Tatsachen zu stellen, mag nicht in ihrer Absicht liegen, aber eine politische Kritik an der Praxis der Baader-Meinhof-Gruppe, an individuellem Terror, der zur Verschärfung der Klassenkämpfe und zur gewalttätigen Selbstentlarvung des kapitalistischen Systems führen soll, ist auch gar nicht auf der Ebene von guten Absichten und verstehbaren Motivationen möglich. Der Knoten, der mechanisierte Solidarität, Minderwertigkeitskomplexe gegenüber der angeblich großen, revolutionären Politik der »Rote Armee Fraktion«, die die Alltagsarbeit der Basisarbeit auf das Niveau blinder Handwerkelei herabdrückt, und verzerrte Realitätsauffassung miteinander verknüpft, mit der fatalen Wirkung der Vernebelung der Gehirne zahlreicher Einzelner innerhalb der Linken – dieser Knoten kann nur zerhauen, nicht mehr mit behutsamem Verständnis aufgelöst werden.
Die Gleichung von Radikalität und revolutionärer Politik geht nicht auf; wenn Marx sagt, radikal sein bedeutet die Sache an der Wurzel packen, die Wurzel für den Menschen sei aber der Mensch, so kann sich keine sozialistische Politik von der Erfahrungsweise der Menschen, vor allem der arbeitenden Massen, ungestraft ablösen. Eine Gruppe, die diesen Boden verlässt, hat kein objektives Korrektiv mehr für die Überprüfung der politischen Wirksamkeit ihrer Aktionen; sie folgt einer abstrakten Stufenleiter formaler Radikalität; da die Wirkungen sie jedweder Kontrolle entziehen, muss jeder Aktion eine neue, radikalere aufgesetzt werden. Am Ende steht die totale Isolierung, der als Offensivstrategie getarnte Rückzug auf das eigene Überleben, dessen Ausweglosigkeit auch durch das gemeingefährliche Anlegen von Waffenlagern in Hochhäusern und durch das Hin- und Herschleppen von Waffen und Sprengstoff nicht zu verdecken ist. Dass die führenden Köpfe der »RAF« nach den Bombenanschlägen fast mit einem Schlage gefasst werden konnten, ist weder dem Verrat noch der gewachsenen Organisationsfähigkeit der Polizei zu danken, sondern der Logik ihrer eigenen Strategie. Die Bomben haben die Massen aufgerüttelt, wachsam gemacht – zweifellos. Aber nicht gegenüber dem Klassenfeind und den existierenden Gewaltverhältnissen, sondern gegenüber den unmittelbaren Urhebern ihrer Angst.
Die mit der Baader-Meinhof-Gruppe im Bewusstsein der Linken entstandenen Probleme stellen sich nicht in erster Linie auf einer moralischen Ebene – obwohl ohne politische Moral revolutionäre Politik undenkbar ist. Der noch heute bei manchem, der kaum eigene politische Erfahrungen gemacht hat, wirksame Komplex von Sentimentalität und Sympathie gegenüber dieser Gruppe wird sich erst dann auflösen, wenn die eklatante Unangemessenheit von Mitteln und Zielen ihrer Strategie und Taktik sichtbar wird. – Niemand verwechselt ungestraft lateinamerikanische Militärdiktaturen, an deren konkreten Verhältnissen die ursprüngliche Konzeption der Stadtguerilla entwickelt wurde, mit halbwegs funktionierenden demokratisch-parlamentarischen Systemen, die sich im Ernstfall immer noch auf eine relativ stabile Massenloyalität stützen können…
Die »Rote Armee Fraktion« hat die Absicht, die kapitalistischen Widersprüche auf die Spitze zu treiben, um sie dem Volk durchsichtiger und erkennbarer zu machen. Was sie aber bewirkt hat, ist das Gegenteil: Sie hat sie verschleiert. Der alten Täuschung, dass die revolutionären Chancen um so größer sind, je stärker der staatliche Repressionsapparat ist, sind auch sie zum Opfer gefallen. Denn revolutionäre Situationen stellen sich durch erhöhte Repression nur dann her, wenn gleichzeitig das politische Herrschaftssystem, das staatliche Gewaltmonopol im Zerfall begriffen ist. Erst dann suchen die Massen selbsttätig nach neuen politischen Ausdrucksformen ihrer Lebensinteressen.
Wo dieses politische Herrschaftssystem, wie zur Zeit in der Bundesrepublik, relativ intakt und aktionsfähig ist, bewirkt die voluntaristische Strategie der Verschärfung der Klassenkämpfe nur die Einschnürung der Aktionsmöglichkeiten der gesamten Linken.
Die an diesen drei Komplexen aufgezeigte Verkehrung der Absichten und Motive der »RAF« lässt sich an jedem anderen Punkt der Strategie und Taktik der Baader-Meinhof-Gruppe in gleicher Weise nachweisen. Theorie und Praxis, die in der Stadtguerilla die einzig sinnvolle organisatorische Einheit gewonnen haben soll, weisen bei keiner Gruppe der politischen Linken so sehr auseinander wie bei der »Rote Armee Fraktion«. Ihre Absichten und Motive, ihre Deklamationen und Programme schlagen, weil sie bloß formal sind, die konkreten Erfahrungszusammenhänge der Wirklichkeit nicht in sich enthalten, zwangsläufig in ihr Gegenteil um. Das liegt nicht an diesen Absichten und Motiven, sondern an der Realität, auf die sie bei der praktischen Aktion stoßen.
Jeder politisch ernst zu nehmende Sozialist muss heute begreifen, dass es ohne aktive Unterstützung der Arbeiterklasse keine wirkliche Veränderung in diesem Lande gibt; wir müssen uns mit aller Kraft dagegen wehren, uns die fatale Alternative von Bombenlegern und Anpassung aufzwingen zu lassen. Die Arbeiterbewegung… hat in ihrer Geschichte einen unerbittlichen Kampf gegen den individuellen Terrorismus aus den eigenen Reihen und vor allem gegen jene Gruppen geführt, die sich den Arbeitern als Avantgarden aufzwingen wollten. Lenin hat unermüdlich immer wieder darauf hingewiesen, dass die Massen ihre Erfahrungen mit den Klasseninstitutionen selber machen müssen; dass sie Selbstbewusstsein und Selbsterziehung nur aus ihren eigenen Kämpfen gewinnen können.
Auch für diese Gesellschaft gilt, dass ein unter Opfern durchgestandener Streik, Arbeitskämpfe auf den verschiedensten Ebenen, politische Demonstrationen immer noch mehr an sozialistischem Bewusstsein und Erfahrungserweiterung der Arbeiter und der Intellektuellen bewirken als tausend Bomben…
Wir können unsere Solidarität mit Angela Davis, mit allen politischen Gefangenen des Rassenterrors und der Unterdrückung nicht besser demonstrieren als durch die Überwindung unserer eigenen Zersplitterung, durch die Zusammenfassung unserer Kräfte mit dem Ziel, gesellschaftliche Bedingungen zu schaffen, damit solche Kongresse nicht mehr im Zeichen der Gewalt stehen müssen.
Dr. Oskar Negt ist Professor für Soziologie an der Universität Hannover.