W&F 2014/1

In Furcht vor dem Allerschlimmsten

von Thomas Seibert

Bei meinem letzten Besuch in Kabul, Mitte vergangenen Jahres, hörte ich überall fast wortgleich denselben Satz: „Niemand weiß, was im nächsten Jahr geschehen wird. Ich weiß nicht, wo ich dann sein werde.“ Einige meiner Gesprächspartner haben diese Ungewissheit zwischenzeitlich hinter sich gelassen. Sie nutzen ein US-Stipendium für Kulturschaffende, haben ein Auslandsstudium begonnen, folgten einer Einladung von Freunden. Bis zum Abzug der »Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe« (ISAF) aus Afghanistan werden ihnen andere nachreisen. Zur zermürbenden Ungewissheit gehört, dass nicht einmal sicher ist, ob die Truppen, deren Anwesenheit von immer weniger Menschen gewollt wird, überhaupt gehen werden. Die USA wollen mindestens bis 2024 bleiben, mit bis zu 15.000 eigenen Soldatinnen und Soldaten und mehreren Tausend anderer Länder. Der scheidende Präsident Karzai hat seine Zustimmung dazu noch nicht gegeben: Er verhandelt weiter den Geschäftsanteil der afghanischen Gewaltoligarchie. Die wiederum steht, da gibt es jetzt kein Vertun mehr, der Demokratie, den Menschenrechten und der Frauenbefreiung nur wenig ferner als die Taliban.

Natürlich ist verglichen mit 2002 vieles anders, vieles besser geworden. Damals gab es in Afghanistan sechs Hochschulen mit 4.000 Studierenden. Heute gibt es 26 solcher Einrichtungen mit 80.000 Studierenden. 20% der 3.000 Lehrkräfte sind Frauen, unter den Taliban waren es ganze vier. Verändert hat sich auch Kabul. Die 2002 völlig zerstörte Stadt ist wieder aufgebaut, füllt das umgebende Tal gänzlich aus, quillt über alle Bergpässe. Sie beherbergt jetzt fast sechs Millionen Menschen, gegenüber 2,7 Millionen unter den Taliban und gerade mal 400.000 in den 1970er Jahren. Viele Kabuli leben relativ geschützt vor unmittelbarer Gewalt und oberhalb der absoluten Armut. Ihnen haben sich Chancen eröffnet, die es vorher nicht gab und anderswo in Afghanistan noch immer nicht gibt. Das ist festzuhalten.

Dagegen steht, unendlich bitter und aussichtslos: 70% der Menschen sind ohne Arbeit, ihre durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 43 Jahren. Und das in einem Land, in dem wiederum 70% der Menschen unter 25 sind. Weil das so ist, wird unterhalb des Niveaus eines offenen Krieges weitergekämpft: in den Reihen der staatlich-afghanischen Streitkräfte, der privaten Sicherheitsagenturen, der Warlord-Milizen, der Taliban. Gekämpft wird zuerst und immer um das eigene Auskommen, das eigene Überleben, in den meisten Fällen direkt oder indirekt auf Rechnung der Opiummafia. Die politische Begründung für den Kampf vieler gegen viele kommt in jedem einzelnen Fall erst hinterher, weil es auch in Afghanistan ganz ohne solche Idealisierung nicht geht.

Das ist so und wird, wenn es nicht schlimmer kommt, noch lange so bleiben, weil in den zwölf Jahren des ISAF-Kriegs die Taliban zwar zeitweise geschwächt, alle anderen Kriegsparteien aber systematisch gestärkt wurden. Weil die ISAF nur das Arrangement stabilisieren konnte, mit dem sich die verschiedenen Gewaltherren, wer sie auch seien, gegenseitig absichern. Weil die ISAF nie ein Akteur war, der etwas anderes erreichen wollte. Das konnte man 2002 schon wissen, jetzt ist es unstrittig dokumentiert: im Fehlschlag der ganzen Mission.

Soll dieses Resultat vor dem noch Schlimmeren – der Entfesselung des offenen Kriegs – bewahrt werden, müssten die Taliban der Gewaltoligarchie offiziell beitreten. Vielen Menschen wäre das mehr als recht, weil die Chance aufs Überleben dann größer wäre. Auch wenn die Verhandlungen dazu aktuell unterbrochen sind, ist diese Option noch nicht verspielt.

Die Menschenrechte aber bleiben, wie heute schon, zuerst Sache der Afghaninnen und Afghanen, die eigens und ausdrücklich mit ihrem eigenen, nicht mit dem Leben anderer für sie einstehen. So wird eine kleine Allianz von Menschenrechtsorganisationen in diesem wie schon im letzten Jahr versuchen, der Gewaltoligarchie den 28. April streitig zu machen. In Afghanistan ist das ein ganz besonderer Tag: Am 28. April 1978 putschten sich die »Volkspartei«-Kommunisten an die Macht. Am 28. April 1992 zogen die Mujaheddin in Kabul ein. Am 28. April 2014 wird Karzais Nachfolger, aller Voraussicht nach, zumindest benannt sein. Ihnen allen gilt dieser Tag als »Victory Day«. Für die Aktivisten aber ist er der Tag des Gedenkens an anderthalb Millionen Kriegstote. Sie fordern das öffentliche Schuldeingeständnis aller Gewaltherren, die Anerkennung des Rechts der Kriegsversehrten und Kriegswitwen auf Wohnung, Schule, Ausbildung und eine Pension von 400 Afghani, nicht einmal sechs Euro. Ihretwegen und wegen des Einsatzes derer, die sich um sie scharen, gibt es auch und sogar in Afghanistan einen demokratischen Prozess, trotz der Gewaltherren und trotz allen, die sich mit ihnen arrangiert haben. Das Allerschlimmste wäre, würde dieser Prozess – ein weiteres Mal – ausgelöscht: politisch und physisch.

Thomas Seibert ist Südasienreferent von medico international.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2014/1 Konfliktdynamik im »Globalen Norden«, Seite 5