W&F 2014/1

In keiner Weise erschöpfend behandelt

von Regina Hagen

Konflikte gehören zu unserem Leben, niemand bleibt davon verschont, sei es im privaten und beruflichen Umfeld oder auf nationaler und internationaler Ebene.

»Wissenschaft und Frieden« interessiert sich in dieser Ausgabe für Konflikte mit gesellschaftlicher Relevanz, die bei uns im »Globalen Norden« ablaufen, für ihre Dynamik und ihre Akteure. Das kann lediglich punktuell geschehen, ist doch allein die Zahl der Konflikte in Europa, die sich aktuell in den Medien widerspiegeln, erschreckend groß. Stellvertretend genannt seien hier nur die Massenproteste in Bosnien-Herzegowina, die offene und latente Ausländerfeindlichkeit, wie sie sich gerade anlässlich der Volksabstimmung in der Schweiz zeigt, und das Erstarken neofaschistischer Kräfte in Deutschland und zahlreichen weiteren Ländern.

Am Beispiel Ukraine lässt sich prototypisch nachvollziehen, was Ulrich Wagner und Christoph Butenschön in ihrem Artikel über die Dynamiken und sozialpsychologischen Ursachen von Intergruppenkonflikten beschreiben. In der Ukraine geht es unter anderem um die Frage der Identität, die zumindest in den westlichen Mainstream-Medien zugespitzt wird auf die Spaltung in den Westen des Landes mit starker Westeuropa-Orientierung und den Osten mit seiner Nähe zu Russland. Es geht um politische Werte und Normen. Und es geht um wirtschaftliche Belange, um die Assoziierung mit der Europäischen Union mit ihren gravierenden ökonomischen Folgen für die ukrainische Industrie und Landwirtschaft versus die Anbindung an die von Russland dominierte eurasische Zollunion, und um Ressourcen, wie die (rabattierte) Belieferung mit russischem Gas.

Ebenfalls prototypisch beobachten lässt sich in der Ukraine die Rolle von Akteuren, die von außen in das Land hineinwirken: Die Regierung Putin drängt die ukrainische Führung zum Beitritt in die eurasische Zollunion und schwankt in ihrem Verhalten zwischen dem Versprechen großzügiger finanzieller Unterstützung und der Drohung mit Handelssanktionen. Die Europäische Union, und mit ihr die deutsche Bundesregierung, setzen gleichfalls auf Zuckerbrot und Peitsche. Was weder Russland noch Europa bislang bieten, ist die Zusage, sich des Themas im Sinne einer Deeskalation kreativ und kooperativ anzunehmen, anstatt konfrontativ.

Bei der Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU versprach Kommissionspräsident Barroso im Dezember 2012: „Sie können darauf zählen, dass wir uns weiterhin für dauerhaften Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit in Europa und in der Welt einsetzen.“ Ist die Einlösung dieses Anspruchs schon innerhalb der EU kritisch zu hinterfragen –unsere AutorInnen beschreiben das Näherrücken unterschiedlicher Krisen- und Konfliktphänomene beispielhaft für die Länder Frankreich, Griechenland, Spanien und Ungarn –, so spricht dem Anspruch direkt Hohn, wie die EU nach außen agiert und dort Konfliktdynamiken provoziert oder verstärkt: Rückübernahmeabkommen mit Ländern, die Flüchtlingen keinen Schutz bieten; Ausbau der »Festung Europa« gegen unerwünschte Migration; Unterwerfung zahlreicher Länder unter die kapitalistische Logik der großen Konzerne und der »Troika«, was vielerorts zu Verarmung, hoher (Jugend-) Arbeitslosigkeit und gesellschaftlicher Marginalisierung führt; Militarisierung der EU von der Forschung bis zur praktischen Politik; Rüstungsexporte in Kriegs- und Spannungsgebiete und vieles mehr.

Und Deutschland? Deutschland strotzt seit Jahren vor Kraft und treibt die EU mit seiner Politik vor sich her. Nun werden die Machtansprüche offener und schärfer formuliert. Bundespräsident Gauck kündigte bei der Sicherheitskonferenz in München selbstbewusst an, Deutschland wolle sich global „einmischen“ und „mehr Verantwortung in der Welt übernehmen“. Außenminister Steinmeier formulierte es beim gleichen Anlass so: „Deutschland muss bereit sein, sich außen- und sicherheitspolitisch früher, entschiedener und substanzieller einzubringen. […] Deutschland will und wird Impulsgeber sein für eine gemeinsame europäische Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik.“ Verteidigungsministerin von der Leyen bekräftigte vor demselben Publikum, „Abwarten“ sei bei Krisen und Konflikten wie in Syrien, Libyen oder Afrika „keine Option“. Sie fügte ergänzend hinzu, „dass diese Aufzählung in keiner Weise erschöpfend ist […] Wenn wir über die Mittel und Fähigkeiten verfügen, dann haben wir auch eine Verantwortung, uns zu engagieren.“ Gauck, zu dessen Aufgaben als Bundespräsident es keinesfalls gehört, sich in die aktuelle Außen- und Militärpolitik der Regierung einzumischen, begründete den neuen Machtanspruch wie folgt: „[W]ichtigstes außenpolitisches Interesse“ Deutschlands sei es bei alledem, „dieses [Welt-] Ordnungsgefüge, dieses System zu erhalten und zukunftsfähig zu machen“. Ein Denken und eine Politik, die die Konfliktdynamiken weiter anheizen dürften.

Wir können in diesem Heft nur auf wenige Konflikte im »Globalen Norden« eingehen und diese keineswegs erschöpfend behandeln. Interessante Lektüre wünsche ich Ihnen dennoch damit.

Ihre Regina Hagen

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2014/1 Konfliktdynamik im »Globalen Norden«, Seite 2