W&F 1993/2

Indischer Nationalismus

Die Zerstörung der Babri Moschee in Ayodhya als Symbol für die Unerwünschtheit von Muslimen im Indien der 90er Jahre?

von Brigitte Schulze

Am 6. Dezember 1992 wurde nach lange andauerndem politischen Streit zwischen den Hauptkontrahenten und Repräsentanten sogenannter Hindu-, Muslim- und indischer Interessen im nordindischen Ayodhya eine fast 500 Jahre alte Moschee dem Erdboden gleichgemacht.

Hundertausende von »Hindu-Parteien« hingekarrte und angestachelte »Kar Sevaks« (Freiwillige) hatten sich mit bloßen Händen oder mit Spitzhacken, Schaufeln und ähnlichem Kleinwerkzeug an das Zerstörungswerk gemacht. Seit Mitte der 80er Jahre war dafür agitiert worden. Ende 1990 hatte der Parteiführer der hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP, Indische Volkspartei) eine wahltaktisch angelegte »Pilgerfahrt« nach Ayodhya bis zu einem Punkt getrieben, wo die Babri Moschee nur knapp ihrer Zerstörung entging. Zwei Jahre später wurden während und nach ihrer gelungenen Schleifung in den Straßen Ayodhyas Muslime verfolgt, angegriffen, getötet; Häuser gingen in Flammen auf.

Zu Gewaltakten zwischen Hindus und Muslimen kam es danach in zahlreichen Städten Indiens, mit umgekehrten Vorzeichen in Pakistan und Bangladesh. Polizei und Politiker wirkten maßgeblich daran mit, eine grausame Dynamik von Attacken und Racheakten in Gang zu setzen und aufrecht zu halten.

Viele Beobachter fühlten sich an die traumatischen Ereignisse in den Jahren vor und nach der Teilung des indischen Subkontinents 1946 bis 1948 erinnert.

Damals waren ca. 12 Mio. Menschen auf der Flucht, 2 Mio. sollen in dem wechselseitigen Morden zwischen Hindus und Muslimen umgebracht worden sein.

Erste Zeitungsmeldungen in Deutschland sprachen von einem Aufleben religiösen »Fanatismusses«, gar von »Fundamentalismus« und »Faschismus« auf Seiten von Hindus. Richtig ist, daß die seit Jahren zunehmende Betonung einer angeblich unterdrückten Hindu-Identität und Abgrenzung gegen »volksfremde« Muslime faschistische Züge trägt. Falsch wäre es aber für diese gesellschaftliche Entwicklung nur eine politische Gruppierung, gar in Assoziation mit »halbnackten heiligen Männern« oder ähnlichem, das für vormoderne Zustände stehen soll, verantwortlich zu machen. Die furchtbare Grausamkeit der jüngsten Gewalttaten zwischen Hindus und Muslimen beruht in erster Linie auf modernen Tatbeständen wie der Schaffung von zwei nachkolonialen Staaten: Indien und Pakistan. Auch die seit dem britischen Kolonialismus bis heute andauernde Zerstörung und Funktionalisierung vorkolonialer (Über-)Lebenszusammenhänge auf dem Subkontinent muß zur Erklärung der Vorgänge herangezogen werden.

So ist weder eine wie auch immer definierte Menschennatur (»lethargisch« und<|>/<|>oder »fanatisch«) von Hindus oder Muslimen, noch die individuelle Religiosität dieser Menschen der Grund, sondern eine Geschichte, in der Menschen zum Spielball von mächtigen wirtschaftlichen und politischen Interessen gemacht worden sind. Diese Geschichte ist eng mit dem Einfluß der britischen Kolonialherrschaft in Südasien verknüpft, mit der damit verbundenen Ausbildung von Nationalismen, insbesondere mit den Ideologien von »Hindu«- bzw. »Muslim-Identitäten« als Nationalitäten.

Gabriele Vensky formulierte in der Frankfurter Rundschau vom 8.12.1992 exemplarisch, zu welchen parteiischen Schlußfolgerungen ahistorische Verallgemeinerungen und Plausibilisierungen angesichts der Gewalt in Indien führen können: „Indien kann als Nation, so hat Narasimha Rao immer wieder hervorgehoben, nur überleben, wenn seine vielen Völker und Religionen Gesetz und Verfassung als oberste Institution anerkennen. … Indem sie (Hindu-Chauvinisten, BS) Religion und Nationalismus in gefährlicher Weise vermischen, in der Hoffnung, so an die Macht zu kommen, bereiten sie möglicherweise den Weg für die Jugoslawisierung Indiens. … Die Glaubwürdigkeit Indiens, aber mehr noch der Zusammenhalt der Nation stehen nun auf dem Spiel, weil wie im tiefsten Mittelalter Sants und Sadhus die Politik bestimmen wollen“.

In Indien gibt es schon seit Jahren eine von AkademikerInnen, JournalistInnen oder SozialarbeiterInnen geführte Diskussion über den Zusammenhang zwischen indischem Nationalismus und »communalism«. Dabei ist »communalism« der in Indien verwendete Begriff für Konflikte zwischen sozialen, meist religiösen Gruppen, den ich im Original verwende, da er nicht adäquat übersetzt werden kann. Im folgenden möchte ich mich auf eine Quintessenz aus Analysen und Argumenten zum Spannungsfeld Nationalismus – »communalism« konzentrieren. Die journalistische Öffentlichkeit Deutschlands nimmt diese Erklärungsansätze bis auf wenige Ausnahmen wie z.B. der um Differenzierung bemühte Artikel von Erhard Haubold „Der dämonisierte Muslim. Indien auf dem Weg zum Hindu-Faschismus?“ in der FAZ vom 13. 3. 1993, nicht wahr. In der akademischen Auseinandersetzung bleiben die wenigen Experten leider meist unter sich1).

Im folgenden werde ich mich auf die wichtigsten Aspekte beschränken, vieles kann sicherlich nur angerissen werden, soll aber als ungewohnte Sichtweise zur Belebung hiesiger Debatten über den angeblich bedrohlich in der sog. Dritten Welt anwachsenden »Fundamentalismus"/"religiösen Fanatismus« verstanden werden.

Wie aus Nachbarn Feinde werden oder die blutige Geschichte von »Identität«, Religion und Nation

Die erste Schwierigkeit bei der Betrachtung der Animositäten von Hindus, die sich als Hindus gegen Muslime, weil sie Muslime sind, wenden und umgekehrt, besteht darin, die Geschichte auf dem indischen Subkontinent nicht gemäß einer vom Ausgangspunkt schon parteiischen und ahistorischen Sichtweise zu interpretieren. Nämlich als immerwährenden Kampf zwischen »Hindus« und »Muslimen«.

Der Historiker Gyanendra Pandey von der University of Delhi, dessen Argumentation ich in diesem Zusammenhang hauptsächlich folge, führt aus: „Insbesondere die Teilung von 1947 hat ein bedeutenderes Zeichen für die Praxis indischer Geschichte und Politik gesetzt, als allgemein zugegeben wird. In Indien wie in Pakistan, wurde die Geschichte der gesamten Muslim-Politik und in einer weniger offensichtlichen, aber meiner Ansicht nach ebenso emphatischen Weise, aller Hindu-Politik niedergelegt als eine Vor-Geschichte der Teilung oder, was auf das Gleiche herausläuft, als der Kampf, um sie abzuwenden. Die Geschichte der indischen Muslime wird so eine Geschichte der »Muslim-Politik«, die schnell auf die Geschichte der Pakistan Bewegung reduziert wird, und weiter noch auf die Geschichte der Muslim League (Partei nationalistischer Muslime, BS) seit ihrer Gründung 1906 bis zur Errichtung des neuen Staates 1947. … Bemerkenswert ist, daß ihr (nationalistische Historiker aus Pakistan, BS) Rahmenkonzept allgemein von anderen geteilt wird, die nicht so strikt an die »Natürlichkeit« des Muslim-Nationalismus auf dem Subkontinent glauben. Hindu Propagandisten und Historiker ihrerseits beschreiben »Separatismus« als eine unausweichliche Folge des muslimischen Charakters – in Indien und anderswo. … Die Geschichte der Hindu-Politik wurde also mehr oder weniger auf die gleiche Art und Weise behandelt – als Teil einer sehr alten Tradition, als eines Ausdrucks einer »natürlichen« Solidarität und als »natürlicher« Kurs politischer Entwicklung in Indien.

Der Punkt, (…) ist, daß diese Argumentation vollkommen ahistorisch ist, daß es um Nationalismen überall lange Zeit und kräftige Auseinandersetzungen gab, daß »communities« und »Nationen« nicht fix und fertig ankommen, vollentwickelt geboren werden, natürlich und unverändert. Es muß auch betont werden, daß der nationalistische Diskurs in Indien, und damit das, was als »communalist« Diskurs bezeichnet wird, immer politisch ist, wie auch immer er sich bemühen mag, in der »nicht-politischen« Sprache von Religion oder »community« zu sprechen.“ 2

Die Teilung des indischen Subkontinents von 1947 ist tatsächlich beständiger Ausgangs- und Bezugspunkt von Hindu- oder Muslim-Nationalisten. Die Existenz von zwei bzw. drei Staaten (Indien, Pakistan und Bangladesh) soll »Beweis« dafür sein, daß die als Theorie aufgebauschte Sichtweise, Hindus und Muslime seien letztendlich zwei Nationalitäten, die nicht zusammenleben könnten, Geltung habe. Weite Teile der Öffentlichkeit in Indien, nicht nur Hindu-Nationalisten, machen deshalb Muslime für diese Amputation des vormals großen »British India« samt der vor der Teilung existierenden assoziierten und unabhängigen Fürstenstaaten, mit all ihren schrecklichen Konsequenzen verantwortlich.

Betrachtet man die Teilung unparteiisch und bemüht sich, die damals beteiligten konkurrierenden Interessen von Clement Attlee, dem damals neuen Premier Groß-Britanniens, Muhammad Ali Jinnah für die Muslim League, Jawaharlal Nehru bzw. Mohandas K. Gandhi für den Indian National Congress zu benennen und in Beziehung zu setzen, so wird nachvollziehbar, warum damals so viele Menschen wie wilde Tiere übereinander herfielen. Über Nacht waren diesseits und jenseits der am grünen Tisch neu gezogenen Grenzen zwischen der Indischen Republik und West-/Ost-Pakistan aus Nachbarn Angehörige unterschiedicher, konkurrierender und sich um Staatsgebiete streitender Nationen geworden. 12 Millionen Menschen fühlten sich plötzlich heimatlos und als Flüchtlinge, etwa 2 Millionen Menschen kämpften in dem so initiierten Volkskampf ums nackte Leben.

Muslime hatten sich schon seit Monaten immer wieder der Agitation der Nationalisten von der Muslim League gegenübergesehen. Seit etwa einem Jahrzehnt hatte der Parteiführer der 1906 gegründeten Muslim League Jinnah in seinem Profilierungskampf gegen den Congress-(Hindu-)Politiker Nehru, die Forderung nach einer nationalen Einheit »indischer« Muslime in den Gebieten aufgestellt, in denen sie die Mehrheit der Bevölkerung ausmachten. Das betraf hauptsächlich die nördlichen Gebiete von Britisch Indien: im Nord-Westen Sind und Punjab, im Nord-Osten Bengalen. Seit 1940 berief sich seine Forderung nach Pakistan auf die »Zwei-Nationen-Theorie« und war Gegenstand des Pokers über die Ausgestaltung des Machttransfers von der unter 14 Mrd. US-$ Schulden, einer immensen Geldentwertung und ihrem Kriegsengagement leidenden ehemaligen Weltmacht England zu den Nationalisten auf dem Subkontinent. Clement Attlee drang auf eine möglichst schnelle Entlassung der einstigen Kronkolonie in die Unabhängigkeit, als Mitglied eines Verbundes souveräner Staaten im Commonwealth.

Zur Bekräftigung der Forderung nach einem eigenen, souveränen Muslim-Staat Pakistan, mit der natürlich auch die Frage nach dem zukünftigen Staatsgebiet verknüpft war, rief Jinnah am 16.8.1946 einen »Direct Action Day« aus. Es waren von Jinnah keine konkreten Aktionen auf die politische Tagesordnung gesetzt worden, doch besonders in Bengalen wirkte sich dieser Aktionstag katastrophal aus. Hier konnten daher die neuen Grenzen von den Bevölkerungszahlen her gesehen nicht so eindeutig festgelegt werden, gab es also noch Spielraum, um Einfluß auszuüben. Auf skrupellose Art und Weise versuchte der Führer der Muslim League in Calcutta H. Suhrawardy beispielsweise durch Anstachelung Muslime gegen Hindus zu hetzen. Um aus Calcutta eine mehrheitlich von Muslimen bewohnte Stadt zu machen, sie damit »eindeutig« in das zukünftige Pakistan eingliedern zu können, wurde ein Pogrom gegen bengalische Hindus provoziert. Die Berufung auf diese sog. Massaker zwischen Muslimen und Hindus wiederum diente als »Beweis« dafür, daß diese zwei Religionsgruppen nicht zusammenleben könnten.

Der in Deutschland lebende Wissenschaftler Indu Prakash Pandey zitiert in seiner Studie über „Regionalismus in Hindi Novellen“ 3 aus einer Novelle von Raahii Maasuum Razaa »Aadhaa Gaon« (Das halbe Dorf). Hier wird eine Geschichte über eine Muslim »community« und ihr Verhältnis zu den anderen »communities« in der Zeit zwischen 1937 und 1952 erzählt. Vor dem Hintergrund der oben erwähnten Pogrome in Calcutta heißt es: „Thaakur Jaipaal Singh bietet Bafaatii Caa, einem Muslim, der von den Hindu Fanatikern bedroht worden war, Schutz an. Und als die Hindus kommen, um die Muslime anzugreifen und ihre Häuser zu verbrennen, ist Jaipaal Singh außer sich und befiehlt ihnen niemals ans Kämpfen zu denken.“ Die Szene wird in der folgenden Weise beschrieben: „Wenn die Gewalttaten von den Muselmannen gegen die Hindus in Calcutta verübt wurden, warum sollen … unsere Muselmannen dafür bestraft werden? Wie kann irgendjemand diese Mädchen der Muselmannen vergewaltigen, die als Säuglinge auf unserem Schoß sitzend Wasser gelassen haben? Ich kann nicht verstehen, wie man die Häuser dieser Muselmannen, die mit uns seit Jahrhunderten zusammenleben, in Brand stecken kann. Wie kann man einen Muslim Priester töten, der, nachdem er in der Moschee seine Gebete verrichtet, die Kinder der Hindus ebenso wie die der Muslime segnet? Die Bauern könnten natürlich die Ernte vom Feld ihrer Rivalen schneiden. Ein oder zwei Morde im Zusammenhang mit Landstreitereien sind für sie normal. Aber jemanden zu töten oder sein Haus niederzubrennen, nur weil er ein Muselmann ist – die Bauern könnten das nicht verstehen.“(a.a.O., S. 343) „Die einfachen Muslims aus den Dörfern von Utter Pradesh waren so vollkommen in das Leben des Landes und seiner Kultur integriert, daß sie sich niemals als Außenseiter empfanden. Niemand gab ihnen je das Gefühl, daß sie ein eigenes Volk wären und fortgehen sollten in ein anderes Land. Sie litten niemals unter einer geringeren Stellung als Minderheit bis die Muslim League ihre Politik startete, in der sie Angst und Mißtrauen schürte. Sie fühlten sich den Hindus überlegen, weil sie mehrere Jahrhunderte lang die Herrscher Indiens waren. Es ist schon wahr, daß zwischen den zwei »communities« nach der Khilaafat Bewegung von 1921 zahlreiche Fälle von Unruhen stattfanden; im ganzen Land wurden Hunderte von Muslimen und Hindus in diesen Unruhen getötet. Aber in der indischen Geschichte gibt es bei weitem nicht genügend Aufzeichnungen über Hindu-Muslim Unruhen auf Dörfern. Tatsächlich haben sie oft in den Städten stattgefunden. Interessensgegensätze sind im ländlichen Indien natürlich an der Tagesordnung, aber sie sind selten »communal"… Baljiit Singh informiert uns darüber, daß die indische ländliche Gesellschaft in ihrem Wesen eine Gesellschaft »einzelner Gruppeninteressen« (»factional society«) ist. … In dieser vollkommen aufgespaltenen Gesellschaft könnte jede der Gruppen von cleveren Politikern ausgenutzt werden, um eine politische Karriere zu machen. Das grundlegende Problem des ländlichen Indiens liegt in Gruppenkämpfen (»factional fights«), die sich von Kasten- oder Glaubenskämpfen unterscheiden; religiöse Kämpfe stellen kein Problem dar, weil die tief abergläubigen Menschen der beiden Hauptreligionen Indiens sogar die Götter und Göttinnen und die Andachtsstätten der jeweils anderen respektierten.“ (S. 133). Dieser Ausschnitt aus der Novelle, die zur Tradition der realistischen Erzählungen zählt und autobiographische Züge trägt, spricht wie die akademische Debatte über »communalism« zwei weitere zentrale Punkte an. Einmal die Frage, seit wann und wo es zu »communalism« kam, zum anderen die Unterscheidung zwischen Kasten-, Klassen- oder Religions-Auseinandersetzungen.

Seit wann und wo ist »communalism« aufgetreten?

Über die Beantwortung dieser Frage streiten sich selbst kritische Geister. Zunächst einmal gibt es keine entsprechende Chronik, auf die man sich beziehen könnte. So argumentieren Sozialwissenschaftler wie Ashis Nandy, daß »traditionelle indische Werte« durch »wesensfremde westliche« unterdrückt wären, und in diesem Sinne sei »communalism« Ausdruck einer korrumpierten, auf verwestlichte Mittelschicht-Interessen zurückgehenden Pervertierung der politischen Auseinandersetzung. Diese Analysen vorbritischer Dorfökonomien werden jedoch wegen ihres Idealismus, der Romantisierung der indischen Dorfökonomie kritisiert4. Insbesondere die damals – und oft auch heute noch – von der elitären Interpretation des Brahmanen-Hinduismus vorgenommene Kodifizierung sozialer und ökonomischer Ausbeutungsverhältnisse wird nicht problematisiert. Andere argumentieren »materialistisch« und versuchen für jedes Massaker mächtige politische oder ökonomische Interessen auszumachen, die die »Massen« für ihre Zwecke manipulierten5. Wahr ist sicherlich, daß es unter britischer Okkupation und danach kaum ein Morden im Namen von Islam oder Hinduismus gegeben hat, bei dem »rationale« Interessen nicht beteiligt gewesen wären (Großgrundbesitzer oder Politiker). Abhängigkeits-, Ausbeutungs- und Konkurrenzstrukturen fördern auch die, allerdings nicht als Zwangsmechanismus zu verstehende, Psychologie des nationalistischen Fanatismus: so unterstützen zum Beispiel weite Teile des hinduistischen Bürgertums von heute die chauvinistische Politik hindu-nationalistischer Parteien, sind mit ihnen der Meinung, Muslime seien »Schmarotzer« und gehörten aus dem Land getrieben. In dem Bewußtsein, zum »richtigen« (Hindu-)Volk zu gehören, werden solche Nationalisten auch schon einmal selber aktiv – zahlreiche Hindu-Politiker waren beispielsweise an den Pogromen gegen Muslime in Bombay im Februar 1993 direkt beteiligt.

Eine Psychologie der Angst herrscht, wo Menschen angesichts der Teilung 1947 oder auch später sich in Gebieten aufhielten, in denen ihre Bevölkerungsgruppe in der relativen Minderheit und unerwünscht war. In einem Kampf aller gegen alle sichert nur die Gegenwehr ein Überleben. Rachegelüste tun ihr übriges, und wo eine staatliche Gewalt fehlt, die die Gewalt der Einzelnen kontrolliert, wo die individuelle Gewalt sogar oft noch von den Staatsrepräsentanten angeheizt wird wie in Ayodhya Ende 1992 oder in Bombay 1993, wird fast aus jedem ein Rächer oder ein Verteidiger. Auch manche Privatfehde endet unter solchen Konstellationen oft mit Mord.

Über Gewalttaten zwischen den »communities« in vor-britischer Zeit liegen keine gesicherten Informationen vor. Viele der damaligen Herrscher veranlaßten keine Geschichtsschreibung, außerdem könnten auch Bilanzen von Opfern kaum etwas »beweisen«. Es müßten schon auch soziale, politische und ökonomische Zusammenhänge des Alltagslebens der jeweiligen Menschen und nicht nur Herrschafts- oder Politikgeschichte beleuchtet werden. Erst in jüngster Zeit bemühen sich SozialwissenschaftlerInnen wie Asghar Ali Engineer vom Institute of Islamic Studies in Bombay Geschichte auf dem indischen Subkontinent »von unten« zu rekonstruieren, »subaltern studies« zu betreiben. Das wegweisende Buch »The Construction of Communalism in Colonial North India« von dem schon zitierten Gyanendra Pandey thematisiert die fragwürdige Kumpanei zwischen Historikern und »communalists«. Auch in dem von A.A. Engineer herausgegebenen Buch über die Babri Masjid-Ramjanambhoomi Kontroverse6 ist nachzulesen, wie es die britische Kolonialherrschaft schaffte, aus religiösen »Identitäten« von Hindus und Muslimen, konkurrierende politische Identitäten zu konstruieren.

Die Brutalität, mit der politisierte, sich wechselseitig in Frage stellende Identitäten aufeinandertreffen, hat in den letzen zehn Jahren dramatisch zugenommen. „Zwischen 1980 und 1989 erlebte Indien nahezu 4500 Fälle von »communalism«, in denen mehr als 7000 Menschen ihr Leben verloren, fast viermal soviele Tote wie in den 70er Jahren.“ 7

Bei Entstehung und Praxis von »communalist conflicts« spielen, wie schon ausgeführt, verschiedene Faktoren eine Rolle. Was Indu Prakash Pandey in seiner Analyse zur Bedeutung der Sprache in der untersuchten Hindi Novelle »Aadhaa Gaon« reflektiert, kann sicherlich auch als ein allgemeines Motto gelten, wenn man sich »communalism« anschaut und beurteilen will: „Regionale Novellen lassen die Wirklichkeit größerer Zusammenhänge beiseite und konzentrieren sich auf die Wirklichkeit der kleineren. Die Wirklichkeit des Dorfes, der Kaste, des Stammes, der bestimmten religiösen Sekte, hat nur für jede dieser Einheiten eine Bedeutung, während die Wirklichkeit der größeren Zusammenhänge unterschiedlich sein, sogar im Widerspruch zu derjenigen der kleineren Zusammenhänge stehen kann. So muß man sich das Leben in Indien anschauen, das verschieden auf verschiedenen Ebenen gelebt wird. Es ist so nicht überraschend, daß die vorliegende Darstellung der Siiyaa »community« (eine in Utter Pradesh lebende Kaste und Grundbesitzerklasse von Muslimen, BS) nicht vollkommen mit der gesamten Muslim Gesellschaft übereinstimmt“ (a.a.O., S. 144).

Angesichts zunehmender »communalisms« in der indischen Gesellschaft nach einem »Allgrund« (Religion, Faschismus o.ä.) zu suchen, grenzt daher an intellektuellen Mystizismus. Sofern Interesse daran besteht, sich über Gründe bestimmter Massaker Klarheit zu verschaffen, muß die alltägliche Gewalt, die spezifische Anatomie und Geschichte dieser bestimmten Ereignisse rekonstruiert werden. Oft entpuppt sich dann ein »communal conflict« als sozialer Konflikt oder als abgekartetes Spiel zwischen Grundeigentümern, Unternehmern, Polizisten und Politikern. Ausschlaggebend für die Explosionskraft der jeweiligen Gewaltsituation und ihr Potential sich auf andere Regionen auszudehnen, ist jedoch letztendlich das Verhältnis zwischen indischem Staat und seinem Volk, repräsentiert in Haltungen und Taten maßgeblicher PolitikerInnen. Der offiziell vertretene Nationalismus.

Staatsnationalismus und Mehrheitsnationalismus

Das »junge, aufstrebende« Indien unter seinem ersten Premierminister Jawaharlal Nehru hatte »Einheit in der Vielfalt« definiert und praktiziert. Alle Menschen, die innerhalb der indischen Grenzen lebten, egal welcher Kaste, Klasse, Ethnie, Religion oder welchem Geschlecht sie angehörten, sie alle waren Teil des »Großen Ganzen«. Unter anderem gab es Quotensysteme für Ausbildungs- und Arbeitsplätze, damit es zumindest auf der formalen Ebene auch für die sozial oder ökonomisch Benachteiligten oder ethnischen Minderheiten eine Chance gab, gerecht in das demokratische System eingebunden zu werden. Ob das gelang oder gelingen konnte, soll nicht zur Debatte stehen, da es um die Skizzierung des staatlich nach innen und außen vertretenen Nationalismus gehen soll.

Heute sind »Sonderrechte« für sozial Schwache und Unterdrückte, insbesondere die Arbeitsplatzquotierung für sog. rückständige Klassen und Kasten oder für die Stammesbevölkerung, Anlaß für Parteienstreit,-konkurrenz und fanatische Aktionen von (privilegierten) hochkastigen StudentInnen: Demonstrationen, auch Selbstverbrennungen fanden vor allem in Nordindien gegen die Implementierung der Beschlüsse der »Mandal-Kommission« im Herbst 1990 statt – nicht zufällig zeitgleich mit der ersten großangelegten Kampagne der BJP gegen die Babri Masjid. Die unten näher ausgeführte Scheidungs-Rechtsprechung für Muslime von 1986, der sich darauf beziehende Kampf von Hindu-Nationalisten gegen die »Sonderbehandlung«(wegen eigener islamischer Rechtsprechung) von Muslimen war zentraler Auslöser für eine ganze Woge von Lügen über angebliche Privilegien der in Indien lebenden Muslime. Der Staatsnationalismus tendierte insbesondere in den 80er Jahren (vgl. unten: Die Entwicklung seit den 80er Jahren) weg von seiner Definition von »Indertum« ohne Ansehen der Person (Religion, Ethnie u.ä.) hin zu einem »Mehrheits-Nationalismus«8, der sich auf die 84% Hindus im Lande stützen will.

Mehrheits-Nationalismus und »Hindutva«

Die Geschichte der Forderung nach »Hindutva«, Herrschaft der Hindus, aufgestellt von hindu-nationalistischen Parteien und Organisationen skizziert die Entwicklung des Hindu-Nationalismus, der schon immer »Mehrheits-Nationalismus« auf dem Subkontinent war.

Derzeit leben in Indien etwa 84% Hindus, 13 % Muslime, 8% Adivasis (Stammesbevölkerung), 2,5 % Christen und 2% Sikhs. Weniger als 10% der Hindus gehören der höchsten Kaste, den Brahmanen, an. Die große Mehrheit besteht aus Niedrigkastigen und Dalits (Nichtkastige), die auch heute noch am stärksten von Elend und Unterdrückung betroffen sind.

»Communities« und ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung erhielten in dem Maße eine politische Dimension, wie sie im Laufe der Zeit als Wählerpotentiale aufgebaut wurden.

Mehrheitsbeschaffung und Religionsgruppen

Als das berühmte Zünglein an der Waage zur politischen Macht wird insbesondere auf die Muslime geachtet. Im Unterschied zu Hindus, von denen man sagt, sie orientierten sich in ihrem Wahlverhalten stärker an regionaler Besonderheit und Kastenzugehörigkeit, sollen Muslime aus ihrer Minderheitenerfahrung heraus meist geschlossen wählen.

Durch das taktische Schielen auf Wählerstimmen haben PolitikerInnen massiv dazu beigetragen, Muslime und Hindus gegeneinander auszuspielen. Rajiv Gandhi hat so den Boden für die aktuellen, brutalen Auseinandersetzungen um Ramjanambhoomi bzw. Babri Masjid bereitet.

Im April 1985 sprach das Höchste Gericht Indiens einer muslimischen Frau das Recht auf Unterhaltszahlungen durch ihren geschiedenen Ehemann zu. Daraufhin erhob sich ein Großteil der muslimischen Elite und warf dem Gericht unrechtmäßige Einmischung in einen Bereich des Familienrechts vor, der in die Zuständigkeit islamischen Rechtsverständnisses fiele. Die sich darauf beziehende Agitation bezeichnete den Richterspruch als eine ungeheure Bedrohung muslimischer Identität. Rajiv Gandhi gab diesen Forderungen nach und schrieb die Regelung der Unterhaltszahlungen bei Scheidungsfällen in muslimischen Ehen durch die Ausrichtung an islamischer Gesetzgebung fest. Die »Muslim Women (Protection of Rights on Divorce) Bill« wurde von ihm am 25. Februar 1986 dem Parlament zur Verabschiedung vorgelegt. Um es sich deshalb nicht mit Hindus zu verscherzen, veranlaßte Rajiv Gandhi am 1. Februar 1986 die Öffnung der seit 1949 offiziell verriegelten Tore zum Schrein der Babri Masjid, in dem Hindus in einer Nacht-und-Nebel Aktion im Dezember 1949 Idole von Ram und seiner Frau Sita aufgestellt und damit die Moschee nicht nur entweiht, sondern praktisch in einen hinduistischen Tempel verwandelt hatten. Zwei Ausgangs- und Bezugspunkte des heutigen Babri Masjid-Ram Janambhoomi-Konfliktes waren damit etabliert. Das Zugeständnis an die Muslime, in bestimmten Fällen nach ihrem eigenen Rechtsverständnis zu verfahren, wird von den an »Hindutva«(Herrschaft der Hindus) orientierten als »Pseudo-Säkularismus« bezeichnet. In jeder Hetzrede gegen die Muslime wird auf die Existenz der »Muslim Women Bill« verwiesen, um darauf zu deuten, wie sehr die Muslime in Indien bevorzugt würden.

Das aktuelle Kräftemessen zwischen Bharatiya Janata Party, BJP, und dem Congress (I), das seine Zuspitzung am 25. Februar 1993 in der verbotenen und auf Narasimha Rao's Geheiß niedergeknüppelten Massendemonstration der BJP fand, ist mehr als ein Gerangel um die Macht. Es ist ein Streit um die bei indischen WählerInnen erreichte Glaubwürdigkeit in Bezug auf die jeweilige Definition dessen, was als »nationale Idee« der Indischen Republik in den 90er Jahren Geltung haben soll: Welche Interpretation der Nation und damit verbunden der »nationalen Identität« setzt sich durch, vertreten Congress (I) oder BJP die neue (alte) Idee der Hindu-Nation wahlwirksamer? Dabei steht ein offensiv vorgetragener Hindu-Nationalismus der BJP dem taktierenden, auf Wählerstimmen schielenden, versteckten Hindu-Nationalismus des heutigen Congress (I) gegenüber.

»Hindutva« als Herrschaftsideologie

Der Präsident der BJP Lal Krishna Advani titulierte in seiner Antrittsrede 1986 die BJP als „die Stimme eines ungetrübten Nationalismus. Unsere Partei ist die »Nation-hat-Vorrang«-Partei. Sie strebt an, der Herzschlag Indiens zu sein“.

»Hindutva« als selbstbewußter Slogan wiederum seit Mitte der 80er Jahre in der politischen Agitation verwendet und traf bei weiten Teilen der Hindu-Mittelschicht auch auf Resonanz. 1989, als die BJP Ramjanmabhoomi (Geburtsort Rams) bzw. Babri Masjid zum zentralen Wahlkampfthema gekürt hatte, kam sie von 2 auf 80 Sitze im Parlament und stellte seit 1991 auch die Regierung des Bundesstaates Utter Pradesh, zu dem Ayodhya gehört.

Die Forderung nach »Hindutva« ist nicht neu. Sie entwickelte sich langsam parallel zu einem erstarkenden »Hindu-Bewußtsein« in Form des sog. Neo-Hinduismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Angehörige der herrschenden Elite wie Raja Ram Mohan Roy zu Beginn des letzten Jahrhunderts (Brahma Samaj) bzw. später ein erstarktes Bildungsbürgertum und die Hindu-Priesterschaft waren Träger dieser reformorientierten Interpretation des Hinduismus. Dazu gehörte, in eindeutiger Weise zu definieren, wer »Hindu« sei. Gestützt auf die traditionell bestehende Vielfalt in Interpretationen und Praxis des Hinduismus war eine exakte Bestimmung nicht zu vollziehen. Nationalismus und Religion rückten in Auseinandersetzung mit den Briten näher zusammen. Man suchte eine funktionale inklusive, möglichst weite Fassung von »Indertum«. Die Kolonialmacht hatte in ihrem, an der Religion orientierten Familienrecht einen Hindu als jemanden bestimmt, „der weder Muslim, noch Parse, noch Christ, noch Jude ist“ 9. So eine Negativ-Definition reichte dem »Neo-Hinduismus« nicht aus. Positiv sollte sich die Hindu Community bestimmen und kämpferischer Nationalgeist schmiedete die enge Verknüpfung von „Hindi (Sprache) – Hindu (Religion) – Hindustan (Nation)“.Seit Gründung des Indian National Congress (INC) 1885 schwelte allerdings auch der Streit darum, wie der indische Nationalismus ausgefüllt werden, auf welche Kulturgeschichte er sich berufen sollte. Wer war also InderIn? Schließlich bestanden auch neben »British India« zahlreiche, von muslimischen, hinduistischen oder Sikh-Herrschern regierte Fürstentümer und Königreiche weiter. Die Briten verstanden es auch nur allzu gut, die verschiedenen Fürsten und Könige gegeneinander auszuspielen. Nachgewiesenermaßen trugen sie einen nicht unbeträchtlichen Teil zur Konstruktion »der Hindus« und »der Muslime« als »Erbfeinde« im südasiatischen Raum bei). Für eine antagonistisch definierte Identität gab es zuerst nur wenig Anhaltspunkte, herrschten Ende des 19. Jahrhunderts noch vor allem regionale geschichtliche Erfahrungen von Kasten und Klassen vor. Auch Muslime galten in der Dorfgemeinschaft als Kaste. Eine Einheit »aller Inder« gab es nicht.

Der INC wurde mit seinem Anspruch »alle Inder« politisch zu repräsentieren, auch nie anerkannt, zumal das Gros der Parteiführer und -anhänger aus Hindus bestand, eine »hinduistische« Congress-Politik betrieben wurde. B.G. Tilak machte z.B. aus dem Ganesh Fest der Hindus eine nationalistische Kundgebung. Shivaji, der (hinduistische) Marathonkönig, der im 17. Jahrhundert gegen die Vorherrschaft der (islamischen) Moghule kämpfte, wurde zum »nationalen Helden« stilisiert. Zur Mobilisierung der Massen wurden – und dies gilt später insbesondere für M. K. Gandhi – hinduistische Symbole und Begriffe verwendet. Ironischerweise führten demokratische Gepflogenheiten wie die sich an Mehrheiten orientierende Abstimmung bei nationalistischen Muslimen im INC zur Überzeugung, daß sie an einer einflußreichen Gestaltung dieser Politik nicht teilnehmen könnten.

Trotz taktischer Zugeständnisse des INC-Politikers Motilal Nehru (Vater von Jawaharlal Nehru) an Muslime, gründeten diese 1906 die Muslim League. Parallel bestand eine Organisation von Hindus, die mit der »kompromißlerischen« Politik des INC und den Zugeständnissen an Muslime unzufrieden war: die Hindu Mahasabha (Große Versammlung der Hindus). Die Hindu Mahasabha war die immer präsente Mahnung, den indischen Nationalismus mit dem von der Brahmanenelite definierten Verständnis von Hinduismus zusamenzuschließen.

Der Großteil der Bevölkerung hingegen war von dieser Politisierung der Religionen zunächst ausgeschlossen bzw. fühlte sich nach wie vor als Angehörige einer bestimmten Kaste. »Indien« bleibt bis heute für viele ein abstraktes Gebilde, das mit ihnen und ihrem täglichen Leben nichts zu tun hat. Die politische Elite in Indien war und ist sich dessen bewußt und bedient sich zur Weckung des Nationalbewußtseins (»nation building«) seit jeher alter, vertrauter Symbole, meist aus dem religiösen Bereich. Die Abstraktion »Indien« z.B. wurde dem Volk von allen Parteien durch Personifizierung nahegebracht: »Bharat Mata«, »Mutter Indien«.

In den 20er Jahren formierten sich hingegen auch Teile des Bürgertums, die von einer ganz anderen Idee beseelt waren. Nicht Trennung der Massen, nicht Appelle an religiöse Identität, sondern die Einheit der Massen gegen Unterdrückung und Ausbeutung war das Ziel. 1924 wurde, inspiriert vom Beispiel der UdSSR die Communist Party of India ins Leben gerufen.

Ein Jahr später gründete K.S. Hedgewar die Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS, Nationale Freiwilligenvereinigung), eine strikt durchorganisierte hinduistisch-nationalistische Kaderorganisation, die eine gewichtigere Rolle als die Hindu Mahasabha zu spielen gewillt war. Angestachelt fühlten sich ihre Gründer auch von der zunehmend islamische Identität betonenden »Muslim Khilaafat« Bewegung der 20er Jahre. Der spätere Präsident der All India Hindu Mahasabha ( AIHM, 1939 – 45) V.D. Savarkar verfaßte 1923 die für die hindu-nationalistische Bewegung programmatische Schrift »Hindutva«. Darin unterstrich er, daß »Bharatiya«, also InderIn, und Hindi synonym seien. In seiner Amtszeit als Präsident der AIHM forderte er „Hinduisiert die Politik und militarisiert das Hindutum!“

Den ersten dramatischen Höhepunkt erfuhren die sich immer schärfer gegeneinander abgrenzenden Nationalismen von Hindus und Muslimen in der Spaltung des Subkontinents 1947. Die nach dem II. Weltkrieg hergestellte bipolare Weltordnung mit Großbritannien im westlichen Lager, hatte letztendlich die Teilung auch nicht ungern gesehen, konnte man doch die zwei neuen, sich nicht freundlich gesinnten Staaten in die Polarisierung der Welt einspannen.

1947 äußerte V. D. Savarkar sich zur indischen Nation und bezeichnete es als „das natürlichste von der Welt, daß Hindus eine Nation, Hindustan“ bilden.

Millionen Menschen mußten für Muslim- und Hindu-Nationalismen ihre Heimat oder ihr Leben opfern. Die schreckliche Erfahrung hat sich bei Hindus, Muslimen und Sikhs tief eingegraben. Viele haben daraus jedoch den falschen Schluß gezogen und diese Art von Nationalismus ihrerseits unterstützt. Im Alltagsleben sind Vorurteile gegen die jeweils andere »community« weit verbreitet.

Zentrale Elemente der »Hindutva«-Ideologie

Als die größten Feinde von »Hindutva« gelten die »inneren Feinde«, wie es der RSS Ideologe M.S. Golwalkar in den 60er Jahren ausdrückte: „Muslime, Christen und Kommunisten“.

Der Hindu-Nationalismus der Hindu Mahasabha und RSS bestimmte alles als »fremd«, was nicht hinduistisch war und bemühte sich andererseits darum, die Hindu-Mehrheit möglichst umfangreich zu definieren. Die Sikhs beispielsweise, die im heutigen Indien etwa 2% der Gesamtbevölkerung ausmachen, gelten als Hindu-Sekte. Eine besondere Ironie dieser Sichtweise besteht darin, daß der Gründer des Sikhismus' Guru Nanak, im 15. Jahrhundert Teil einer seit dem 10. Jahrhundert vom Süden sich ausbreitenden Prostestbewegung (»Bhakti«) gegen den »Brahmanismus«, die brahmanische Interpretation des Hinduismus, und insbesondere gegen das Kastenwesen war. Er strebte die Versöhnung von Hinduismus und Islam durch Verbindung der jeweils als moralisch gut empfundenen Stärken beider Religionen an, betonte den Gleichheitsgrundsatz der Menschen vor Gott und den Monotheismus. Dies sind bis heute Grundsätze der Sikh Religion.

Auch Adivasis (Stammesangehörige) und Dalits (Nicht-Kastige) werden vom Anspruch auf die Einheit aller Hindus erfaßt. Dabei spielen mehrere Erwägungen eine Rolle. Zum einen natürlich die Bemühung, möglichst viele Menschen in die Bewegung zu integrieren. Zum anderen waren es gerade die als politischer Protest der Dalits auf Dr. B.R. Ambedkar zurückgehenden Massenkonversionen zum Buddhismus, die das Konzept der Mehrheitsbeschaffung für »Hindutva« durchkreuzten. Ein großer Anteil der heutigen muslimischen Bevölkerung in Indien besteht aus konvertierten niedrig- oder nicht-kastigen Hindus.

Ein wichtiger Aspekt zur Schmiedung der wehrhaften »Hindu-Identität« ist die Konstruktion einer Bedrohung, der sie angeblich unterliegt. Hindus kämen, so die hindu-nationalistische Behauptung, nicht „zu ihrem Recht“, weil der Staat, der aus dieser Sichtweise ja eigentlich die „natürliche Heimstatt der Hindus“ darstellen müsse, eine andere, »un-indische« Bevölkerungsgruppe bevorzuge: die Muslime. Das macht Hindu-Nationalisten bisweilen zu unversöhnlichen Gegnern des Congress (I), dem sie „Pseudo Säkularismus“ vorwerfen, weil in der Nehru-Tradition Minderheiten Sonderrechte zugestanden wurden (s.o.)

Geschichtsklitterung zur Rechtfertigung anti-muslimischer Gefühle

In der Vergangenheit der nordindischen Regionen hatte es eine acht Jahrhunderte dauernde Eroberung durch muslimische Herrscher gegeben. In zahlreichen Schlachten zwischen ihnen und den lokalen hinduistischen Königen baute sich eine dauerhafte Erfahrung des Gegensatzes auf. An diesem Punkt sollte jedoch auch der Hinweis erlaubt sein, daß diese Erfahrungen Herrscher und Priester sicherlich anders prägten als Bauern, Handwerker oder Händler. Ob die Untertanen diese Zeiten als einen Gegensatz zwischen den Religionen, als etwas, das ihren Alltag besonders einschneidend veränderte, ansahen, muß bezweifelt werden; zumal nicht jeder islamische Herrscher die ihm Unterworfenen automatisch unter seine Religion (z.B. Akbar) und eine jeweilige Steuer- und Abgabenpolitik die Leute wesentlich härter traf. Nichts destotrotz gab es eine handfeste Feindschaft zwischen den sich bekämpfenden Herrschern, die ihre jeweilige Religion meist als »Staatsreligion« begriffen.

Im Streit um Ramjanmabhoomi/Babri Masjid in Ayodhya trat jedoch die sehr eigenwillige Geschichtsinterpretation der »Hindutva«-Parteien von heute wieder deutlich zutage: islamische Herrscher der vorangegangenen Jahrhunderte gelten als „Fremde, Zerstörer, Barbaren“.

Im Süden Indiens ist »Hindutva« bezeichnenderweise von weitaus geringerer Attraktivität, obwohl auch hier prozentual die Hindus die Mehrheit der Bevölkerung stellen. Der konstruierte Verweis auf die »Hindu Community« kann seinen historischen »Beweis« nur mit Anlehnung an Erfahrungen des Nordens stiften. Umgekehrt hatten sich zahlreiche Ureinwohner Indiens, die Draviden, vor den Attacken der ca. 1500 v. Chr. eingedrungenen vedischen Arier der Unterwerfung unter ihre Religion in den Süden zurückgezogen. Im Dravidischen Süden können Hindu-Nationalisten kaum an Gefühle gemeinsamer Kultur und Geschichte appellieren.

Das konstruierte Geschichtsbild wurde um das Bild vom »Muslim«, der »eigentlich« seine Heimat nicht in Indien haben könne, bereichert. Seit der Schaffung von Pakistan erhielt dieser prinzipielle Verdacht auch eine materielle Gestalt. Der Staat Pakistan gilt als die „Heimstatt der Muslime“ des Subkontinents, zumindest wenn man Hindu- und Muslim-Nationalisten glauben will. Gegen alle Muslime, die nach 1947 in der Republik Indien blieben, und das waren immerhin die Hälfte der damals dort lebenden Muslime, wird der Verdacht gehegt, sie seien „verkappte Pakistani“, also quasi Ausländer, einem anderen Staat loyal. Die Schaffung Pakistans und Indiens hatte den religiös fundierten Nationalismus auf beiden Seiten praktisch bestätigt und ist seitdem in Indien ständiger Bezugspunkt für Mißtrauen und Haß gegenüber Muslimen. Ihr Status als Minderheit im demokratischen System der Mehrheiten trug dazu bei, daß ihre religiöse Zuordnung automatisch politisiert wurde.

Die Entwicklung seit den 80er Jahren

Als 1948 Nathuram Godse Mahatma Gandhi ermordete, kam in diesem Akt die kompromißlose Haltung eines Großteils politisierter Hindus gegen Muslime zum Tragen. In den Augen des Attentäters hatte sich der Mahatma gegen »Hindutva« versündigt, indem er für die Versöhnung von Muslimen und Hindus eintrat und sich gegen die Schaffung von Indien und Pakistan aussprach. Godse stand ideologisch der RSS sehr nahe, die einige Tage nach dem Attentat, am 4.2.1948 verboten wurde. Zehntausende ihrer Mitglieder hatten sich am Symbol des unabhängigen Indien vergangen. Hindu-Nationalismus galt als verpönt. Mit der nehruschen religionenübergreifenden Politik konnten sich weite Teile der indischen Mittel- und Oberschichten identifizieren. Fast idealistisch widmeten sie sich dem Aufbau der jungen Republik, glaubten an das demokratische Bekenntnis „Wir sind alle Inder“, zumal sie von den meist sehr armen Muslimen in Indien auch keine Infragestellung ihres Besitzstandes zu befürchten hatten. Der Feind saß außen: Indien betonte seine Position als Ordnungsmacht im südasiatischen Raum und führte kurz hintereinander drei Kriege, zwei gegen Pakistan und einen gegen China.

Interessanterweise förderte Indien den Unabhängigkeitskampf des ehemaligen Ost-Pakistans gegen West-Pakistan, beides mehrheitlich von Muslimen bewohnte Gebiete, bis Bangladesh 1972 mit indischer Unterstützung seine Unabhängigkeit erklärte. Erst 1977 erhielt die RSS wieder Auftrieb und politisches Gewicht. Nach der brutalen Notstandsregierung Indira Gandhis gewann die Janata Party (Volkspartei) in diesem Jahr die Wahlen zum nationalen Parlament. Zahlreiche Kader der Janata Party stammten aus der RSS, insbesondere aus der Studentenorganisation Akhil Bharatiya Vidyarthi Parishad. Der parlamentarische Flügel, die Bharatiya Jana Sangh (BJS, Indische Volksvereinigung), war Teil der Janata Koalitionsregierung. Diese zerbrach schließlich unter anderem am Streit zwischen den Parteigängern der BJS, die nun eine stärker an der indischen Hindu-Mehrheit orientierte Politik betreiben wollten, und der Opposition von Anti-RSS-Kräften innerhalb der Janata Party.

Der endgültige Bruch mit dem nehruschen Verständnis von »Säkularismus«, der versucht hat, den Mehrheits-Nationalismus von Hindus nicht gegen andere religiöse Minderheiten, sondern mit ihnen für die Idee einer gesamtindischen Identität zu mobilisieren, wurde von der 1980 mit Triumph ins Amt der Premierministerin zurückkehrenden Indira Gandhi vollzogen. In den 80er Jahren versuchte sie gezielt den bei hinduistischen Mittel- und Oberschichten offener zutage tretenden Hindu-Nationalismus anzusprechen und zu fördern und damit den RSS/VHP-Kräften das Wasser abzugraben. Diese hatten 1980 für die Umsetzung ihrer »Hindutva«-Politik eine neue Partei gegründet, die ihrerseits das parlamentarische Gegengewicht gegen den Congress (I) darstellen sollte: die BJP.

Kennzeichen und Strategie seit den 20er Jahren war es immer gewesen, die Aktivitäten und Ideen der Hindutva-Bewegung möglichst breit zu streuen. So organisierte sich die RSS in Zellen. Da keine Listen über die Mitglieder geführt werden, kann man ihre Zahl nur ungefähr angeben. Heute geht man von ca. 2 Mio. aus. Weitere 5 Mio. gehören den Bruderorganisationen an: Akhil Bharatiya Vidhyarti Parishad (Gesamtindische Schüler- und Studentenvereinigung) ist an fast allen Universitäten vertreten; Bharatiya Mazdoor Sangh, der Gewerkschaftsflügel, organisiert allein ca. 2 Mio. Arbeiter.

Die einflußreichste, auch finanzkräftigste Organisation ist die 1964 gegründete Vishwa Hindu Parishad (VHO, Weltrat der Hindus). Mit welchem Geschick es die Führer der VHO verstehen, gerade auch im Ausland die Gleichung Hindu=Inder durchzusetzen, zeigte sich jüngst in Frankfurt/M.. Hier tagte im August 1992 die Welthindu-Konferenz. Während in Indien BJP-Präsident Dr. Murli Manohar Joshi oder VHP-PolitikerInnen wie die radikale Sadhavi Rithambara die Hetze gegen Muslime vorantrieben und die Vorbereitungen zur Zerstörung der Babri Masjid liefen, gaben sie sich auf ihrer Weltkonferenz als humanistisch gesinnte Weltbürger. Grußadressen und finanzielle Unterstützung deutscher Politiker durften nicht fehlen, sind einige der im Ausland lebenden VHP-Mitglieder doch so finanzkräftig, daß sie über die Treuhandanstalt Betriebe in den neuen Bundesländern aufkaufen. So wird auch hier in Deutschland mit politsicher und universitärer Unterstützung (die Veranstaltung fand an der J.W. Goethe Universität statt) das tatsächlich aufgrund von Unwissen verbreitete, undifferenzierte Fehlurteil gefördert, in Indien lebten Hindus, die quasi von Natur aus furchtbar tolerant seien. In der Grußadresse eines Frankfurter Professors hieß es bspw.: „Hinduismus ist die toleranteste der Religionen …“. Swami Chinayananda verkündete: „Rama gehört Jedem“. In Indien fielen Tausende Muslime unter den „Jai Sri Ram“-Rufen (Hoch lebe Gott Ram) dem Hindu-Nationalismus zum Opfer.

Solange mehr als 2/3 der indischen Bevölkerung in Armut und in sozialen Verhältnissen leben, in denen Kastenzugehörigkeit und Religion stabilisierende und exklusive Wirkung haben, also eine Verständigung zwischen den Volksgruppen vereitelt, können religiöse Gefühle für politische Zwecke weiterhin leicht mobilisiert werden.

Anmerkungen

1) Außer Prof. Dr. Jürgen Lütt vom Südasien-Institut der Universität Heidelberg gibt es kaum Gesellschaftswissenschaftler, die sich schwerpunktmäßig mit »Hindu-Nationalismus« auseinandersetzen und dazu veröffentlichen. Sehr interessant ist Lütts Aufsatz: „ Der Hinduismus auf der Suche nach einem Fundament“, in: Kochanek, Hermann (Hrsg.): Die verdrängte Freiheit: Fundamentalismus in den Kirchen, Herder Verlag, Freiburg i.B. u.a., 1991 Zurück

2) Gyanendra Pandey: Hindus und Others: The Militant Hindu Construction, in: Economic and Political Weekly, Bombay, Dec. 28, S. 2997-3009 Zurück

3) Pandey, Indu Prakash: Regionalism in Hindi Novels, Beiträge zur Südasien Forschung des Südasien-instituts der Universität Heidelberg, Franz Steiner Verlag, Wiesbaden, 1974, S. 132 ff. Zurück

4) Upadhyaya, Prakash Chandra: The Politics of Indian Secularism, in: Modern Asian Studies, 26, 4 (1992), Cambridge University Press, S. 815-853 Zurück

5) Chandra, Bipan: Communalism in Modern India, Vikas Publishing House, New Delhi, 1984 Zurück

6) Engineer, Asghar Ali (ed.): Babri Masjid Ramjanambhoomi Controversy, Ajanta Publications (India), 1990 Zurück

7) Upadhyaya, P. Ch., a.a.O., S. 821/22 Zurück

8) Upadhyaya (1992) erklärt dieses Phänomen, das er als »majoritarianism« bezeichnet. Zurück

9) Lütt, Jürgen, 1991, a.a.O. Zurück

Brigitte Schulze ist freie Autorin und lebt in Frankfurt / Main

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1993/2 Das UN-System, Seite