W&F 2003/4

Indonesien: Krieg im Gewand des »Antiterrors« und Nationalismus

von Rainer Werning

Am 21. Mai 2003 jährte sich zum fünften Mal der Abgang des mit 32 Jahren dienstältesten Despoten in Südostasien, doch Freude über das Ende des Ex-Generals Suharto mochte in Indonesien nicht aufkommen. Eine politische Krise folgt der nächsten und die tiefgreifende Wirtschaftsmisere verursacht soziale und kommunale Unruhen Die Militärs, seit Suhartos Zeiten die eigentlichen Machthaber im Lande, demonstrieren ihre Macht, maßen sich an, nach Gutdünken darüber befinden, wer als »Staatsfeind« oder »Terrorist« abgestraft wird und setzten jetzt auch durch, dass über die im Norden der indonesischen Insel Sumatra gelegene Region Aceh das Kriegsrecht verhängt wurde. Notfalls wollen sie den Frieden herbeibomben – mit fatalen Folgen für die Zivilbevölkerung und die nationale Wirtschaft.
Über die langjährig unruhige Region Aceh wurde am 19. Mai das Kriegsrecht verhängt. Präsidentin Megawati Sukarnoputri vollzog diesen drakonischen Schritt ohne parlamentarische Zustimmung auf der Grundlage des Gesetzes Nr. 23/1959. Kurz zuvor war der als »zu wenig resolut« eingestufte Militärkommandeur Acehs, Generalmajor M. Djali Jusuf, von der Armeeführung durch einen Hardliner ersetzt worden. Der Krieg in Aceh hat verheerende Konsequenzen für die regionale Zivilbevölkerung und die nationale Wirtschaft. Die Militärs in Jakarta kalkulieren unverhohlen bis zu 200.000 interne Flüchtlinge als Kriegsopfer ein.

Ultimativ hatte Jakarta zuvor die Widerstandsorganisation Bewegung Freies Aceh (Gerakan Aceh Merdeka – GAM) aufgefordert, sich seinem Friedensdiktat zu beugen. Andernfalls drohe die seit der Osttimor-Invasion 1975/76 größte Militäroffensive auf dem Archipel. Kampfjets und Kampfhubschrauber wurden von ihrem Stützpunkt in Madiun (Ostjava) nach Medan (Nordsumatra) verlegt, Kriegsschiffe und über 40.000 Regierungssoldaten in die Region entsandt. Unbeeindruckt vom intensiven Krisenmanagement in letzter Minute seitens indonesischer und internationaler Vermittler in Tokio, setzte Jakarta schließlich auf die militärische Lösung des Konflikts und beendete damit einen Prozess »ziviler Konfliktlösung«. Gerade einmal fünf Monate vorher, am 9. Dezember 2002, hatte man in Genf ein Abkommen über die Beendigung von Feindseligkeiten für Aceh vereinbart. „Ein historischer Tag für das Volk von Aceh“, kommentierte damals Martin Griffiths, Direktor des Genfer Henri-Dunant-Zentrums für den humanitären Dialog (HDZ), den Vertragsabschluss zwischen indonesischen Regierungsvertretern und Emissären der GAM. Seit annähernd zwei Jahren hatte sich das HDZ für die Unterzeichnung dieses Abkommens und multilaterale Hilfsleistungen eingesetzt.

Indonesien ist ein zentralistisch regierter Inselstaat, dessen Präsidenten sich seit dem Abgang Suhartos mit dem Erbe des Ex-Diktators herumschlagen müssen. Noch Anfang 1998 zählte die Weltbank Indonesien zur zweiten Generation der ökonomisch erfolgreichen »Tigerstaaten«. Doch kein Land erlebte eine so rasche Pauperisierung so großer Bevölkerungsschichten, wie das seitdem in Indonesien der Fall ist. Über ein Fünftel der etwa 215 Millionen Einwohner Indonesiens, so der Australier Dr. Kevin O’Reilly, Leiter der Sektion Feldforschung und Analyse im Jakarta-Büro der Vereinten Nationen, ist gegenwärtig von Lebensmittelhilfen des UN-Ernährungsprogramms abhängig. Knapp 200 Bombenanschläge in verschiedenen Landesteilen, bewaffnete Konflikte sowie gesellschaftliche Spannungen unterschiedlicher Art erschütterten seit Mai 1998 das Vertrauen der Menschen in die öffentliche Ordnung. Die Attentate auf Bali am 12. Oktober 2002 mit 202 Todesopfern erheischten nur deshalb kurz mediale Aufmerksamkeit im Westen, weil das Gros der Opfer Weiße waren.

Alte Konfliktpotenziale

Aceh ist eines der ältesten Sultanate in Südostasien und gleichzeitig eine Konfliktregion mit einer Tradition von Widerstand gegen Kolonialisten, Besatzer und despotische Politiker. Während der holländischen Kolonialzeit von England zeitweilig als unabhängiger Staat anerkannt, verlor Aceh diesen Sonderstatus 1871, als die Engländer mit dem Vertrag von Sumatra Holland nun auch über Aceh freie Hand ließen. Unter dem Vorwand, gegen die Piraterie vorzugehen und das angebliche Machtvakuum nach dem britischen Verzicht von 1871 auszufüllen, schlugen die Holländer zu. Die Folge: Der holländisch-acehnesische Krieg (1873 bis 1903) war der längste und blutigste während ihrer Kolonialherrschaft. Selbst nachdem der Sultan von Aceh die Waffen gestreckt hatte und der Guerillakrieg 1912 endete, sah sich die holländische Militärregierung von Sabotageakten bedroht. Die Mehrheit der Acehnesen revoltierte gegen die Herrschaft der Europäer und begrüßte 1942 die japanische Okkupation Sumatras, was den holländischen Einfluss in diesem Teil ihres Imperiums beendete. Seine große Rolle im Unabhängigkeitskampf Indonesiens (1945-49) sah Aceh von der zentralistischen Politik Jakartas unzureichend gewürdigt: 1953 wurde eine unabhängige islamische Republik ausgerufen, die im Jahre 1961 erst aufgelöst wurde, nachdem Jakarta dem Territorium einen Sonderstatus zubilligte.

Das änderte nichts daran, dass Jakarta auch fortan die Politik in Aceh und über den Erlös seiner Ressourcen bestimmte. Aceh ist reich an Bodenschätzen inklusive der für Indonesien überaus wichtigen Öl- und Erdgasvorkommen, die seit Beginn der siebziger Jahre systematisch erschlossen wurden und wo Exxon-Mobil kräftig mitmischt. Ökonomisch wäre ein eigenständiges Aceh überlebensfähig. Würde auch der Rest Sumatras auf Distanz zu Jakarta gehen, wäre das für Indonesien aber ein Desaster, bräche dann doch einer seiner bedeutsamsten Exportzweige weg. Allein die Ölfelder in Zentral- und Südsumatra decken etwa achtzig Prozent des landesweiten Rohölbedarfs. Acehs Reichtum wurde zum Fluch, weil Jakarta zum Schutz der Förderanlagen immer mehr Sicherheitskräfte in die Region beorderte und damit das ohnehin vorhandene Protest- und Widerstandspotenzial gegen die Zentralregierung vergrößerte und zunehmend militanter werden ließ.

Am 4. Dezember 1976 formierten sich unter Führung des heute im schwedischen Exil lebenden Muhammad Hasan di Tiro die GAM und ihr bewaffneter Arm, die AGAM. Etwa 400 AGAM-Kämpfer sollen anfänglich in Libyen militärisch ausgebildet worden sein. Aktuell beziffert Jakarta die Gesamtstärke der AGAM mit 8.000 bis 10.000 Mann. Erklärtes politisches Ziel der GAM ist ein unabhängiges Aceh, eine Forderung, die von großen Teilen der Bevölkerung unterstützt, doch von Jakarta abgelehnt wird. Die Konsequenz: Als die GAM den bewaffneten Kampf begann, holte Jakarta zum Gegenschlag aus. Von 1989 bis zum Ende der Ära Suharto währte die »daerah operasi militer« (DOM), das heißt, die Region war das Counterinsurgency-Terrain par excellence. Sämtliche Methoden der Aufstandsbekämpfung wurden dort praktiziert. Forderungen nach einem Referendum wurden erstickt, selbst wenn dafür in der Hauptstadt Banda Aceh weit über eine halbe Million Menschen friedlich auf die Straße gingen. Massive Menschenrechtsverletzungen waren die Folge, Bürgerrechtsgruppen gerieten ins Schussfeld und mindestens 12.000 Tote sind zu beklagen.

Die Lage schien sich während der Präsidentschaft von Abdurrahman Wahid (Herbst 1999 bis Sommer 2001) zu entspannen, als Wahid erwog, die Bevölkerung Acehs nun doch in einem Referendum über die Zukunft ihrer Region selbst abstimmen zu lassen. Das Militär vereitelte diesen Plan. Es befürchtete die Internationalisierung des Konflikts und eine ähnliche Sequenz der Ereignisse wie in Osttimor, dessen Weg in die Unabhängigkeit letztlich das Engagement der Vereinten Nationen ebnete. Während sich das Militär lediglich auf Gespräche über Autonomie, einen Waffenstillstand und humanitäre Hilfe einließ, verstärkte es aufs Neue seine Präsenz in der Region. Mehreren Phasen koordinierter Militär- und Polizeioperationen folgte die Aufstockung der Truppenstärke auf etwa 40.000 Soldaten einschließlich Spezialeinheiten.

Nach dem 11. September 2001 wurde die Situation noch prekärer. Neue »Antiterrorgesetze« ermächtigen jetzt die Sicherheitskräfte, verdächtige Personen allein aufgrund geheimdienstlicher Erkenntnisse bis zu sechs Monate festzuhalten. Außerdem wurde auch in Aceh ein Territorialkommando eingerichtet, welches das Militär als Teil der staatlichen Verwaltung auf lokaler Ebene strategisch positioniert und dem Kommandeur mindestens dieselben Rechte einräumt wie der zivilen Exekutive. Wer unter solchen Bedingungen noch immer zu den Waffen greift oder den bewaffneten Widerstand propagiert, gerät zwangsläufig in den Verdacht des »Terrorismus«. Das U.S. State Department hat angekündigt, die GAM auf seine Liste internationaler terroristischer Organisationen zu setzen, sollte diese ihre Attacken gegen Bohranlagen, Raffinerien und andere Einrichtungen von Exxon-Mobil nicht einstellen.

Ein zweites Osttimor?

Die in Genf im Dezember 2002 getroffene Vereinbarung sah ein Waffenstillstandsabkommen, einen besonderen Autonomiestatus und eine intensive Dialogphase mit Beteiligung internationaler Beobachter vor, der 2004 freie Wahlen folgen sollten. Binnen eines halben Jahres, spätestens bis zum 9. Juli 2003, sollten die GAM-Kämpfer ihre Waffen in eigens designierten Depots abgegeben und sich die Regierungssoldaten in vorgeschriebene Defensivstellungen zurückgezogen haben. Außerdem sollten die in Aceh verübten Menschenrechtsverletzungen aufgeklärt sowie die Opfer und deren Hinterbliebene entschädigt werden. Ein 150-köpfiges »Gemeinsames Sicherheitskomitee« (JSC) unter Vorsitz eines thailändischen Generals mit einem philippinischen Kollegen als Stellvertreter sollte diesen Prozess überwachen und befugt sein, Sanktionen zu verhängen.

Bereits um die Jahreswende warf man sich gegenseitig Vertragsbrüche vor. Die GAM kritisierte das JSC wegen Befangenheit: Der philippinische General könne nicht neutral sein, da Jakarta 1996 als Makler zwischen einer südphilippinischen muslimischen Widerstandsorganisation (der Moro Nationalen Befreiungsfront – MNLF) und Manila aufgetreten sei und Manila gegenwärtig mit einer rivalisierenden muslimischen Widerstandsorganisation (der Moro Islamischen Befreiungsfront – MILF) in den Südphilippinen Friedensgespräche führe. (Diese hat die philippinische Präsidentin Gloria Macapagal-Arroyo jedoch torpediert und nun auch der MILF mit der »Eliminierung« gedroht.) Jakarta hingegen warf der GAM vor, die JSC-Sitzungen zu verschleppen, seine Waffen nicht niederzulegen und auf Sezession statt auf Autonomie zu drängen. Nichtregierungsorganisationen vor Ort beklagten, die indonesischen Streitkräfte beziehungsweise Segmente des Militärs stünden hinter dem Aufbau von Milizen, die – wie 1999 im Falle Osttimors – Furcht und Schrecken säten und bereits mehrfach internationale Beobachterteams angegriffen und deren Posten niedergebrannt hätten. Dabei soll es sich im Wesentlichen um vom Militär protegierte Milizen in Zentralaceh handeln, wo ein Großteil Javaner siedelt, die es dorthin im Rahmen des von Jakarta einst ehrgeizig betriebenen »Transmigrationsprogramms« verschlagen hat.

Seit Ende April/Anfang Mai 2003 eskalierte der Konflikt. „Entscheidet man sich schließlich für ein militärisches Vorgehen“, schrieb Wiryono Sastrohandoyo, Chefunterhändler der indonesischen Regierungsseite, in der Jakarta Post, „sollten die Operationen sorgsam geplant sein, so dass kein Krieg im traditionellen Sinne, sondern ein »humanitärer Krieg1« geführt wird, der außerdem berücksichtigt, dass die zunehmend komplexe politische Situation in Aceh nicht ausschließlich mit militärischen Mitteln lösbar ist.“ Unter »humanitärem Krieg« versteht Jakarta zuvörderst einen Krieg für Nationalismus und gegen »den Terror« – möglichst unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Aus dem Irakkrieg hat man von den USA das Konzept eigener »eingebetteter« und zensierter Journalisten übernommen, und die Einreise internationaler Beobachter und Medienleute ist strikt reglementiert.

Bilanz des Krieges bis Ende August: Weit über 500 Menschen kamen ums Leben, und nach den ohnehin spärlichen Regierungsangaben sind bereits annähernd 45.000 Personen zu internen Flüchtlingen geworden. Etwa 550 Schulen und andere öffentliche Einrichtungen gingen in Flammen auf. Beteiligt an dieser blutigen Offensive sind auch Kriegsschiffe der ehemaligen NVA-Flotte, die die Bundesrepublik zu Beginn der neunziger Jahre an Jakarta lieferte. Zwar sollten sie nur zum Küstenschutz, der Sicherung der Seewege sowie zur Bekämpfung von Schmuggel eingesetzt werden. Doch mittlerweile dienen einige der Korvetten dem Transport von Kampfbataillonen und Kriegsmaterial in das Krisengebiet.1

Vom Nutzen des »Kampfes gegen den Terror«

Der seit Juli 2001 amtierenden Präsidentin Megawati Sukarnoputri, Tochter des Staatsgründers und ersten Präsidenten Indonesiens, wurde bereits wenige Wochen nach ihrem Amtseid ein politischer Spagat abverlangt. Einerseits ist Indonesien traditionell ein enger Verbündeter Washingtons. Zum anderen prangerten verschiedene muslimische Organisationen im Lande die imperiale Selbstherrlichkeit der USA nach den Anschlägen in New York und Washington an und organisierten während der Kriegführung in Afghanistan in allen größeren Städten des Landes machtvolle anti-US-amerikanische Demonstrationen.

Vor diesem Hintergrund müssen die häufigen Besuche hochrangiger US-amerikanische Politiker nach den Anschlägen vom 11. Septemb in Jakarta gesehen werden. Den Chefs von CIA und FBI sowie Außenminister Colin Powell und Kriegsminister Donald Rumsfeld ging es vor allem um die Küstensicherung des Archipels, der sich mit 17.000 Inseln von Ost nach West über eine Länge von immerhin etwa 5.000 Kilometern erstreckt. Eine ideale Rückzugsmöglichkeit für Mitglieder von al-Qaida oder der in mehreren südostasiatischen Ländern operierenden panislamischen Jemaah Islamiyah, die hinter den Anschlägen von Bali und Jakarta stecken soll. Gegenwärtig, da die letzten Prozesse des Ad-Hoc-Menschenrechtstribunals abgeschlossen sind und das indonesische Militär wieder zur »Tagesordnung« übergehen kann, verstärken die USA ihren Initiativen um Indonesiens Generalität als verlässlichen Verbündeten dauerhaft in den »Feldzug gegen den internationalen Terrorismus« einzubinden. Einen ersten (eher symbolischer denn pekuniär bedeutsamer) Betrag in Höhe von 400.000 US-Dollar stellt Washington bereit, um die Teilnahme Indonesiens am »Internationalen Militärischen Ausbildungs- und Trainingsprogramm« (IMET) zu gewährleisten.2Die Präsidentin nutzt diesen Feldzug entgegen ihrer früheren öffentlichen Beteuerung, einen Waffengang in Aceh unter allen Umständen zu vermeiden,3 offensichtlich auch als Wahlpropaganda. Im nächsten Jahr ist Präsidentschaftswahl, da will sie sich im Vorfeld als eiserne Wahrerin des nationalen Zusammenhalts empfehlen. Eine Politik, die deckungsgleich ist mit den Ambitionen des Militärs, das jetzt – jenseits weiterer Gerichtsverfahren und fernab vernehmbarer Kritik seitens der »westlichen Wertegemeinschaft« – erneut als Hüter von öffentlicher Ordnung und nationaler Sicherheit paradiert und ganz im Geiste seines langjährigen Mentors Suharto in Aceh wieder Krieg führt.

Anmerkungen

1) Ausführlich berichtete darüber und über das Schweigen der Regierung in Berlin das ARD-Fernsehmagazin Monitor in seiner Sendung vom 19. Juni 2003.

2) Jim Lobe (Washington/IPS), Hilfe aus dem Pentagon, in: Junge Welt v. 19. Juli 2003.

3) M. Sukarnoputri hatte vor Anhängern ihrer Demokratischen Partei für den Kampf (PDI Perjuangan) in einer politischen Grundsatzrede am 28. Juli 1999, wenige Wochen nach ihrem Wahlsieg bei den Parlamentswahlen, feierlich versprochen, den Aceh-Konflikt friedlich zu lösen, sollte sie jemals Präsidentin werden.

Dr. Rainer Werning, Politikwissenschaftler und Publizist, arbeitet seit 1970 schwerpunktmäßig zu Südost- und Ostasien

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2003/4 Friedensforschung, Seite