W&F 2002/3

Islamismus und Terrorismus

Entgegnungen zu Claudia Haydt

von Werner Thiede

Seit dem 11. September 2001 erfährt Religion als »Brennstofflieferant« für Prozesse kollektiver Gewalt erhöhte Aufmerksamkeit. Die Berechtigung solcher Aufmerksamkeit hatte der Theologe W. Thiede in W&F 1/02 vor allem mit Blick auf den Islam unterstrichen. In W&F 2/02 kritisierte die Religionswissenschaftlerin C. Haydt entschieden diese Blickführung und forderte mehr Selbstkritik. Dazu merkt Thiede im vorliegenden Beitrag mit Nachdruck einige »Richtigstellungen« an. Aus der Sicht der Redaktion fehlt bisher eine muslimische Stimme; auch könnte vielleicht ein stärker objektivierender Ansatz weiter führen.
Die Redaktion hatte mich seinerzeit nicht nur als Autor eingeladen,1 sondern auch einen kritischen Folgebeitrag angeregt. Den hat nun Claudia Haydt aus dem erweiterten Vorstand von W&F selbst geschrieben.2 Allerdings beinhaltet ihre Kritik über Meinungsverschiedenheiten hinaus etliche Fehlwahrnehmungen und polemische Verzerrungen meiner Position, die nicht unwidersprochen bleiben können. Mit den folgenden knapp gefassten Ausführungen in zehn Punkten möchte ich zugleich weitere Informationen für eine differenziertere Perspektive auf die so ernste Thematik liefern.

  1. 1. Frau Haydt behauptet, ich hätte unterstellt, die Aggression gehe allein von „den anderen“ aus. „Kein Wort“ habe sie gefunden über die Schuld bzw. Schwächen der westlichen Haltung! Tatsache ist indessen, dass ich eigens unterstrichen habe, nicht dahingehend missverstanden werden zu wollen, als wäre „die abendländische Politik gegenüber islamistisch geprägten Ländern stets frei von Fehlern gewesen“ (a.a.O., S. 30). Allerdings war diese schwierige Frage in der Tat nicht mein Thema gewesen; insofern begrüße ich durchaus Haydts diesbezügliche Ausführungen als sinnvolle Ergänzung zu meinem umfangmäßig von vornherein begrenzten Artikel.
  2. 2. Die Unterstellung, ich hätte Interesse an der Konstruktion von Feindbildern, weise ich entschieden zurück. Ausdrücklich habe ich formuliert: Der „Dialog der Religionen ist jedenfalls zu begrüßen, wenn er ihre Vertreter authentisch sein lässt“ (a.a.O., S. 32). Der namhafte Göttinger Politologe und Islamexperte Bassam Tibi allerdings war es, der – mit kritischem Seitenblick auf Hans Küng – zur notwendigen Unterscheidung zwischen möglichen Dialogpartnern auf islami(sti)scher Seite aufgefordert hat. Und hinsichtlich der Moschee in Pforzheim, deren Name auf den Eroberer von Konstantinopel anspielt, hat er unterstrichen: „Als ein liberal orientierter Muslim halte ich es für höchst bedauerlich, wenn die islamische Gemeinde in Pforzheim sich ausgerechnet auf die Tradition der Bedrohung besinnt, indem sie die dortige Großmoschee al-Fatih genannt hat. Ich wundere mich nicht, daß diejenigen, die verstehen, was der Moschee-Name bedeutet, Angst bekommen. Das ist kein Feindbild Islam, sondern nackter Realismus.“3 Analysen dieser Art müssen erlaubt sein, ob sie nun aus muslimischer, christlicher oder sonstiger Feder stammen.
  3. 3. Haydt unterschiebt mir zu Unrecht die abwegige These, es gebe „den Glauben an die Verbalinspiration der Heiligen Schriften nur noch im islamischen Fundamentalismus“. Tatsache ist vielmehr, dass ich ausdrücklich geschrieben habe: „Sofern christliche Fundamentalisten oder christliches Sektierertum die Bibel einflächig lesen, tun sie das sozusagen gegen ihren Strich und gegen alle hermeneutische Vernunft“ (a.a.O., S. 32). Ob nicht „ideologischer Nebel“, wie ihn Frau Haydt mir als christlichem Theologen attestieren zu müssen meint, ihre eigene Wahrnehmung etwas getrübt hat?
  4. 4. Die Religionswissenschaftlerin bestreitet meine Aussage, dass der Islam als Weltreligion „wie keine andere zur Identifizierung von Religion und Politik neigt“. Einen Gegenbeweis bleibt sie schuldig; stattdessen diagnostiziert sie bei mir Blindheit gegenüber zivilreligiösen Vermischungen in der westlichen Kultur. Diese polemische Unterstellung weise ich zurück. Der Tatbestand jener abendländischen Vermischungen ändert nichts daran, dass die Verbindung von Religion und Politik im Bereich des Islam unübertroffen ist. Dementsprechend unterstreicht Bassam Tibi, dass sich unter den Fundamentalismen der Weltreligionen die direkte Verbindung von politischer Religion und Weltpolitik allein im besonderen Fall des Islam beobachten lässt!4
  5. 5. Frau Haydt unterstreicht die Wichtigkeit der Wirkungs- bzw. Überlieferungsgeschichte von Religionen, um mir zugleich »ahistorischen« Pauschalismus vorzuwerfen. Blicken wir also genauer in die Geschichte zurück! Die Interpretation des Dschihad im Sinne eines Heiligen Krieges lässt sich nach Haydt „nur für die expansive islamische Anfangszeit aufrecht erhalten“. Das zunächst darf man allerdings nicht kleinreden: Historisch ist – vielleicht doch etwas überspitzt – die Konstituierung Europas als »christliches Abendland« mitunter geradezu als Reaktion auf die islamische Expansion von Arabien in den Mittelmeerraum verstanden worden.5 Einige Historiker weisen darauf hin, dass der Dschihad über 300 Jahre älter war als die christlich verantworteten Kreuzzüge (welche ganz im Unterschied zum islamischen Dschihad immerhin ein ganzes Jahrtausend von den religiösen Ursprüngen trennt!), und dass deren Ursachen indirekt zum Teil sogar im islamischen Dschihad zu suchen seien!6 (Das vermag ich letztlich nicht zu beurteilen; und entschuldigen lässt sich damit das traurige Faktum der Kreuzzüge natürlich keineswegs.)
  6. 6. Was den islamistischen Dschihad in unserer Zeit angeht, so lehrt C. Haydt diesbezüglich: „Terror ist im Gesamtspektrum des Islamismus ein relativ marginales Phänomen“ (a.a.O., S. 68). Was heißt hier »relativ marginal«? Im Blick auf die Opfer des 11. September, die körperlich und psychisch Betroffenen, und im Blick auf die Opfer islamistischen Terrors in anderen Ländern dieser Welt klingt solche Quantitätsanalyse zynisch. Und weiß die Religionswissenschaftlerin, dass in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts eine in Ägypten verfasste Dissertation des blinden Studenten Omar Abder Rahman über diesen Begriff ihre Wirkung tat? Jene umfangreiche Studie versucht nachzuweisen, dass sich nur ein einziger Sinn von Dschihad auf den Propheten selbst zurückführen lasse, der militante!7 Noch einmal Bassam Tibi: „Islamisten unserer Gegenwart meinen mit Djihad ‚Kriegsführung gegen Ungläubige’; und wenn sie den Begriff zur Bezeichnung ihrer Gruppen heranziehen (z.B. Djihad Islami in Palästina, Djihad in Ägypten), dann lassen sie keinen Zweifel daran, daß sie Terror im Sinn haben.“8 Es ist also nichts mit der These, Dschihad im Sinne eines Heiligen Krieges lasse sich „nur für die expansive islamische Anfangszeit aufrecht erhalten“.
  7. 7. Wer Haydts Artikel liest, dem sticht als Zwischenüberschrift ins Auge: „Islamismus ist nicht identisch mit Terrorismus“. Sie erweckt damit den falschen (erst später im Textverlauf korrigierten) Eindruck, als hätte ich in meinem Artikel Gegenteiliges behauptet. Dass die Dinge aber tatsächlich auch in umgekehrter Richtung nicht so einfach liegen, lässt sich unter Verweis auf einschlägige Koran-Sätze verdeutlichen. Man meditiere Sure 9,112: „Allah hat von den Gläubigen ihr Leben und ihr Gut für das Paradies erkauft. Sie sollen kämpfen in Allahs Weg und töten und getötet werden.“ Einen womöglich zum Terrorismus ermutigenden Klang hat das Gotteswort: „Wahrlich in die Herzen der Ungläubigen werfe ich Schrecken. So haut ein auf ihre Hälse und haut ihnen jeden Finger ab“ (8,12).9 Wenige Sätze später soll den Kämpfern spirituelle Entlastung verschafft werden durch die Beteuerung: „Nicht ihr habt sie getötet, sondern Gott hat sie getötet.“ Darf und soll man unter Verweis auf den geschichtlichen Kontext10 derartige Sätze in der islamischen Heiligen Schrift relativierend deuten? Jedenfalls leben wir in einer Zeit, in der solche Relativierung mancherorts fundamentalistisch abgelehnt wird!11
  8. 8. Meine differenzierten Ausführungen zum Thema Dschihad ergänzt Frau Haydt um die Gegenthese: „Seine Dynamik erhält der Islamismus nicht aus einem Weltherrschaftsanspruch des Islam, sondern aus erlebten Ungerechtigkeiten und Asymmetrien.“ Hier wird eine unhaltbare Alternative aufgemacht. Tatsächlich lässt sich der von mir benannte Weltherrschaftsanspruch nicht bestreiten. Im Unterschied zum Christentum, das seine politisch-universalistischen Ansprüche erst im Mittelalter formuliert und im Übrigen längst wieder aufgegeben hat, ist der Islam von Beginn an auf Universalismus aus gewesen; ich verweise dazu auf Experten wie Adel Theodor Khoury, Hans Zirker u.a.12
  9. 9. Haydt betont den Koran-Vers „Es gibt keinen Zwang in der Religion“ (Sure 2,256) – und stellt ihn in christentumskritische Nachbarschaft zum neutestamentlichen Missionsbefehl, den sie von seiner teilweise unglücklichen Wirkungsgeschichte her versteht, statt von seinem exegetisch eindeutigen, nämlich gewaltfreien Sinn her. Bezeichnenderweise übergeht sie dabei, dass ich bereits selbst unter Anführung von Suren-Belegen die Bereitschaft des Koran, einen Pluralismus von Religionen hinzunehmen, vermerkt habe. Sie übergeht aber auch islamistische Intoleranz, wie sie z.B. Scheich al-Ghazali als bedeutsamer geistiger Führer des Islamismus mit der Forderung repräsentierte, ein Muslim müsse straffrei ausgehen, wenn er einen vom Glauben Abtrünnigen töte! Im übrigen sollte m.E. dort, wo die islamische Toleranz hervorgehoben wird, der traurige Sachverhalt massiver Beeinträchtigungen und Exzesse beispielsweise gegenüber Christen und Bahá’í in einigen islamisch-nationalistisch geprägten Ländern in neuerer Zeit nicht einfach verschwiegen werden.13 Mit diesen Hinweisen wird kein »Feindbild Islam« heraufbeschworen, wohl aber einem einseitig idealisierenden Bild vom Islam widersprochen.
  10. 10. Frau Haydt kreidet mir einen »essenzialistischen« Religionsbegriff an, während sie einen funktionalen vorzieht. Nun ist gerade der funktionale Religionsbegriff dazu geeignet, die Wahrheitsfrage zu verwischen. Dass ich aber als christlicher Theologe in der Regel einen inhaltlich orientierten Begriff von Religion präferiere, nämlich einen, der sich der Wahrheitsfrage stellt, das verbindet mich mit muslimischen Theologen. Damit soll freilich keineswegs grundsätzlich das Recht eines funktionalen Religionsbegriffs bestritten sein, der sich methodisch zur Erhellung mancher Aspekte eignet, wie Haydts Beitrag durchaus deutlich macht.

Anmerkungen

1) W. Thiede (2002): Religiöse Hintergründe des Terrors. Wissenschaft und Frieden, 1-2002, S. 29-32.

2) C. Haydt (2002): Religion, Islam, Christentum und Terror. Wissenschaft und Frieden, 2-2002, S. 66-68.

3) B. Tibi (2001): Kreuzzug und Djihad. Der Islam und die christliche Welt. München, S. 149; vgl. S. 203f. zu H. Küng.

4) Vgl. B. Tibi (2000): Fundamentalismus im Islam – Eine Gefahr für den Weltfrieden? Darmstadt; ferner A. Meier (1994): Der politische Auftrag des Islam. Programme und Kritik zwischen Fundamentalismus und Reformen. Originalstimmen aus der islamischen Welt. Wuppertal.

5) Vgl. Tibi, Kreuzzug, a.a.O., S. 102.

6) Z.B. H.-E. Mayer (19897 ): Geschichte der Kreuzzüge. Stuttgart.

7) Siehe M. Pohly und K. Durán (2001): Osama bin Laden und der internationale Terrorismus. München, S. 21.

8) Tibi, Kreuzzug, a.a.O., S. 52; vgl. jetzt auch U. Ulfkotte (2002): Propheten des Terrors. Das geheime Netzwerk der Islamisten. München.

9) Man höre anbei Martin Luthers Klage über den Gott der Türken: Es sei „das meiste und furnemest werck ynn seinem Alkoran das schwerd“ (Luther: Weimarer Ausgabe Bd. 30/II, S. 107-148, hier S. 129).

10) Zu berücksichtigen ist hierbei: „Die historisierende Sicht des Korans, die europäische Forscher erarbeitet haben, wird von gläubigen Muslimen fast stets als irrtümlich, ja blasphemisch empfunden.“ (H. Vocke (2001): Abu Lahab war ein Bösewicht. Was Muslime wirklich über andere Religionen denken. Rheinischer Merkur 48, S. 26).

11) Vgl. A. Manutscharjan (2001): Der »Heilige Krieg« im Internet. In R. Zewell (Hrsg.), Islam – die missbrauchte Religion… oder Keimzelle des Terrorismus? München, S. 66-69; siehe ferner W. Sofsky (2002): Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg. Frankfurt/M.

12) A. T. Khoury (1991): Fundamentalismus im heutigen Islam. In H. Kochanek (Hrsg.), Die verdrängte Freiheit. Freiburg i. Br., S. 266-276, bes. S. 268; H. Zirker (1993): Islam. Theologische und gesellschaftliche Herausforderungen. Düsseldorf, S. 233f.; Tibi, Kreuzzug, a.a.O., S. 43.

13) „Wo immer jedoch der Islam nationalistisch wurde, wurden Christen auch verfolgt…“, vermerkt F.-W. Kantzenbach (1986): Art. Christenverfolgungen. In Evang. Kirchenlexikon Bd. 1. Göttingen, S. 670-676, hier S. 674.

Dr. Werner Thiede ist Privatdozent im Fach Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2002/3 Welt(un)ordnung, Seite