Israel am Scheideweg
Interview mit Moshe Zuckermann
von Moshe Zuckermann und Connection e.V
Moshe Zuckermann zählt seit Jahren zu den israelischen Persönlichkeiten, die sich für ein Ende der Gewalt und einen Friedensprozess mit den Palästinensern einsetzen. Am 11. Mai 2002 interviewten ihn Rudi Friedrich und Karin Fleischmann für Connection e.V. Das Interview erscheint demnächst in: »Gefangen zwischen Terror und Krieg? Israel – Palästina: Stimmen für Frieden und Verständigung«, Hrsg. Connection e.V., Offenbach, Trotzdem-Verlagsgenossenschaft, Grafenau. Mit Genehmigung des Verlags und des Autors veröffentlichen wir vorab Auszüge aus diesem Interview.
Gegenwärtig eskaliert die Gewaltspirale. Um dem ein Ende zu setzen, sprechen Sie davon, dass Israel zuallererst die Okkupation beenden müsse. Welche denkbaren Szenarien sehen Sie für die israelische Gesellschaft?
Ich sehe es als ein Horrorszenario. Israel steht am Scheideweg. Eine finale Lösung des Konflikts stellt für die jüdische Bevölkerung Israels mehr oder weniger eine Entscheidung dar zwischen Skylla und Charybdis, zwischen Pest und Cholera. Ich will die verschiedenen Szenarien kurz darstellen:
Im ersten Szenario würde Israel die besetzten Gebiete – und hier rede ich vor allem von der West Bank – zurückgeben. Dann reicht es durchaus aus, dass sich 5.000 Hardliner der Siedlerbewegung in der West Bank verschanzen und sagen: „Nur über unsere Leichen.“ Damit käme es zu einer Situation, in der der Staat Israel gefordert wäre, sein Gewaltmonopol gegen die Siedler einsetzen zu müssen, in der unter Umständen Juden auf Juden schießen würden, was eine Spaltung der israelisch-jüdischen Gesellschaft zur Folge hätte. Dieses Szenario birgt zumindest potenziell die Tendenz eines Bürgerkrieges in sich. Ich sage nicht, dass es so kommen muss, aber es ist eine für viele Israelis zu befürchtende Bedrohung.
Sollte sich Israel aber entscheiden, die Gebiete nicht zurückzugeben, was ja bislang der Fall ist, dann gibt es zwei mögliche Varianten für das zweite Szenario:
Eine Variante würde ich als »linke« bezeichnen, die unter anderem von dem Jerusalemer Meron Benvenisti vertreten wird. Er sagt, dass die in den letzten 25 Jahren entstandene Infrastruktur in den besetzten Gebieten im Grunde irreversibel sei. Es sei schlechterdings unmöglich geworden, alles zurückzugeben, da so viel investiert worden sei und in diesen Territorien inzwischen sehr viele Menschen, über 200.000 Juden, lebten.
Die zweite Variante ist die rechtsextreme, die postulierte Nichtrückgabe der Gebiete. Dies würde objektiv bedeuten, dass Israel in einem Dauerzustand der Okkupation und der akuten Gewalt verharrt.
Weigert man sich, die Gebiete zu räumen – unabdingbare Voraussetzung einer jeglichen künftigen Regelung – dann müsste die gesamte palästinensische Bevölkerung in den israelischen Staat integriert werden. Unabhängig davon, ob sich die Palästinenser je auf eine solche Lösung einlassen würden, hätten damit beide Varianten objektiv zur Folge, dass eine binationale Struktur geschaffen würde, dass quantitativ die Verhältnisse binational durchwirkt sind. So hat Israel also, wenn es von zionistischer Warte zum Schlimmsten kommt, letztlich die Wahl zwischen einem potenziellen Bürgerkrieg und einer binationalen Struktur.
Der entscheidende Punkt ist: Damit wären gerade die zentralen Postulate des Zionismus aufgehoben. Alle aufgezeigten Varianten bedeuten für den jüdischen Israeli, der sich als Zionist versteht, dass das zionistische Projekt historisch mehr oder weniger ad acta gelegt wäre.
Das ist der Grund, warum die israelische Gesellschaft in einem Zustand verharrt, in dem keine Entscheidung getroffen wird. Lieber werden Terroranschläge hingenommen, es wird sogar hingenommen, dass das eigene, so hoch gelobte Militär in die West Bank eindringt und sich dort barbarisch gebärdet. Die jüdische Bevölkerung Israels ist eher bereit, dies alles hinzunehmen, als eine historische Entscheidung an dieser Weggabelung zu treffen. Diese muss aber getroffen werden. Es ist eine Entscheidung, die bedeuten könnte, dass das große zionistische Experiment beendet wird, dass die eigene Identität wesentlich zu transformieren ist, dass man sich von nationalen Mythen verabschieden muss, die seit nunmehr über hundert Jahren bestehen.
Wie stellt sich denn die Situation für die Palästinenser dar?
Was für die jüdischen Israelis 1948 die Gründung eines eigenen Staates und somit ihre nationale Emanzipation war, bedeutete für die Palästinenser, ihre Nachbarn, eine Katastrophe. Diese besteht seit nunmehr über fünfzig Jahren fort, nicht nur als Ideologie, sondern als tagtägliche Realität, als eine Degeneration von ganzen Lebenswelten. Sie zeigt sich in Ausbeutung, Verfolgung, Gewalt und Ermordungen. Es ist eine Repression, die nicht nur dann zutage tritt, wenn Blut fließt, sondern auch im alltäglichen Leben, wenn man beispielsweise sieht, wie Menschen im Flüchtlingslager leben.
Daher wird es eine Sache nicht geben: Dass die Palästinenser mit dem Widerstand, dem Guerillakrieg, auch nicht mit dem barbarischen Terror aufhören, solange die Ursache für all diese Aktionen der Palästinenser nicht aus der Welt geschafft ist: die Okkupation. Ich kenne historisch kein einziges Beispiel eines Landes, eines Volkes, das längerfristig bereit war, die Unterdrückung durch ein anderes Kollektiv hinzunehmen.
Die Gewalt ist geprägt von einem massiv handelnden israelischen Militär und den Guerilla- bzw. Terroraktivitäten der Palästinenser. Es kann nicht von einer militärischen Auseinandersetzung die Rede sein, sondern von einer asymmetrischen Situation zwischen einer der stärksten Militärapparate der Welt und einer Befreiungsbewegung, die zwangsläufig auf den Guerillakrieg angewiesen ist.
Kann denn der von der israelischen Regierung forcierte militärische Einsatz die Selbstmordanschläge beenden?
Den Terror der Selbstmordanschläge kann man gar nicht militärisch bekämpfen – gerade wegen seiner Unsichtbarkeit, wegen seiner elastischen Infrastruktur. Das dürfte eigentlich allen klar sein. Das Militär kann zeitweise Stützpunkte des Terrors ausheben, aber nur um in Kauf zu nehmen, dass dabei immer neue Terroristen geschaffen werden. Man kann nur die ökonomischen, mithin sozialen Ursachen des Terrors bekämpfen. Aber auch der palästinensische Terror, so gezielt und durchdacht er eingesetzt werden mag, kann den fortwährenden Zustand einer Jahrzehnte dauernden Okkupation nicht beseitigen. Es gibt keine militärische Lösung für das politische Problem.
Wenn Israel weiterhin ein Okkupationsregime bleibt, dann wird sich der Terror nicht in Wohlgefallen auflösen. Er stellt doch in diesem Fall die Kampfwaffe der Armen, der Unterlegenen, der Verfolgten dar, so brutal und inhuman er an sich sein mag. Bleibt die Situation so, wird Israel für meine Begriffe längerfristig in seiner Existenz bedroht sein. Es kann nicht ewig im Zustand des Krieges existieren.
Israel – eine militarisierte Gesellschaft
Israel ist ein stark militarisiertes Land. Das spiegelt sich ja unter anderem in einer hohen personellen Übereinstimmung des politischen Establishments mit dem Militär wider. Viele Politiker haben eine Karriere in der Armee durchlaufen. Wie drückt sich diese Situation in Israel aus?
Ich glaube, in der Frage ist schon die Antwort angelegt. Der Übergang vom militärischen zum zivilen Bereich ist sehr fließend. Jeder Jugendliche ist wehrpflichtig und erfährt im Militär eine bestimmte Form der Sozialisation zum israelischen Bürger. Im Militär ist eine eigene, viele Bereich umfassende Subkultur entstanden
Darüber hinaus produziert ein nicht zu unterschätzender Teil der israelischen Industrie Rüstungswaren. Die zivile Ökonomie ist mit dem Militär verkettet; die gegenseitigen Interessen werden tagtäglich ausgetragen und gewahrt.
Letzten Endes gründet sich diese starke Stellung des Militärs darauf, dass die Begriffe der Sicherheit und Wehrhaftigkeit von Anbeginn wesentliche Momente der klassischen zionistischen Ideologie ausmachten.
Nun führt die Allgegenwärtigkeit des Militärs ja nicht nur zur sichtbaren Präsenz von Soldaten, zur Durchdringung der Ökonomie, sondern bestimmt auch den Diskurs der Gesellschaft. Indem auf die Anschläge der palästinensischen Seite nur mit Gewalt reagiert wird, ist offensichtlich die militärische Option gewählt worden. Erklärt sich das allein aus der Ideologie des Zionismus und der Erfahrung des Holocaust?
Das Problem ist nicht so sehr darin zu sehen, dass das Militärische mit der Erfahrung des Holocaust und dem damit einhergehenden historischen Angstsyndrom begründet wird, sondern vielmehr, inwieweit es wiederum ideologisiert, fetischisiert, verdinglicht, mithin zum destruktiven Machtinstrument verkommt. Die zweitausendjährige Verfolgungsgeschichte verstärkt natürlich das Selbstverständnis, dass »wir« stark werden und bleiben müssen. Das Problem liegt ja nicht darin, dass der Zionismus nicht das Recht hätte, sich zu wehren, falls er angegriffen würde. Das Problem ist vielmehr darin zu sehen, dass die Ideologie der Sicherheit und Selbstverteidigung gewendet und umfunktionalisiert wurde, und zwar in ein Aggressionsideologem, welches das Militär zwangsläufig zu einem verlängerten Arm der Aggressionspolitik Israels werden lässt.
Die gesellschaftlich homogenisierende Identifikation kann bis heute nur über das Negative geschaffen werden. Das bedeutet mutatis mutandis, dass das Sicherheitsthema immer die Funktion erfüllte, die normalerweise das staatsbürgerliche Bewusstsein oder die Zivilgesellschaft hätte positiv liefern müssen.
Sie wissen ja, es ist das erste Gesetz der Sozialpsychologie: Will man eine Gruppe solidarisieren, will man sie zusammenbringen und festigen, muss man einen äußeren Feind schaffen. Solch ein Feind entstand jüngst bzw. wurde wiederbelebt durch die von den Palästinensern entfachte Intifada. In dem Moment, als die Intifada für Israel eine Bedrohung darstellte, als sie im Alltagsleben Opfer von Terroranschlägen forderte, rückte der allergrößte Teil der jüdischen Bevölkerung zusammen. Gerade in der derzeitigen Situation scheinen die inneren Widersprüche und Gegensätze »gelöst« zu sein, da es einen neuen-alten Feind von außen gibt.
Welche Gruppen haben denn in Israel ein Interesse an der Fortsetzung des Krieges?
Es gibt zunächst mal die militärische Elite, die bei Sicherheit fast immer in Kategorien militärischer Gewalt denkt. Selbst wenn es keinen Krieg gibt, argumentiert diese für die Aufrechterhaltung einer (in sich durchaus verständlichen) ständigen Bereitschaft des Militärs, was mutatis mutandis heißt, dass militaristisch gedacht wird.
Es ist aber auch das Militär selbst, das mit der Begründung der Wehrhaftigkeit argumentiert, um vergrößerte Budgetanteile zu erhalten. Als jemand, der lange genug selbst beim Militär war, sage ich, dass es dabei seine Forderungen immer völlig überspannt. Das Militär stellt in Israel eine ausgesprochene Berufssparte dar, mithin eine Option für eine Karriere, die sogar politische Perspektiven eröffnet. Auch die Waffenindustrie hat ein sehr starkes Interesse, dass die Wehrhaftigkeit Israels weiter auf der Tagesordnung steht. Auf keinen Fall sollten wir in diesem Zusammenhang diejenigen vergessen, die aus ideologisch-politischen Gründen die besetzten Gebiete nicht zurückgeben wollen. Das können sie am besten garantieren, wenn kein Frieden eintritt, der Krieg oder zumindest ein Ausnahmezustand aufrechterhalten wird.
Wie werten Sie die Rolle der Hardliner auf der israelischen wie auf der palästinensischen Seite?
Zwischen den israelischen und palästinensischen Fundamentalisten gibt es ein Komplementärverhältnis. In ihrem je eigenen Interesse instrumentalisiert jede Seite die Untaten der anderen und macht sie öffentlich-moralisch zum Politikum. Das würde ich in gewissem Maße sogar für die hohe Politik konstatieren. Nichts kann dem israelischen Ministerpräsidenten Sharon mehr zupass kommen, als die Selbstmordanschläge der Palästinenser. Sie gaben ihm die Möglichkeit, das zu tun, was er seit Jahren will: Die Autonomiebehörde zerschlagen, die Palästinenser niederkämpfen. Wäre es ihm nur von Seiten der USA gestattet worden, hätte er auch Arafat liquidiert und damit alle aktuellen Vorbereitungen für einen zukünftigen palästinensischen Staat zunächst mal außer Kraft gesetzt.
Auf der palästinensischen Seite stellt sich die Sache ähnlich dar, obwohl es ja kein palästinensisches Militär gibt. Die palästinensische Elite instrumentalisiert das ideologische Interesse für den Befreiungskampf. Sie plant nicht den infrastrukturellen, ökonomischen und zivilgesellschaftlichen Aufbau der Gesellschaft, sondern erhält über die militärischen Apparate den eigenen Machtstatus aufrecht. Das gilt ganz bestimmt für Arafat, aber auch für nicht wenige Leute in seinem Umfeld. Die haben die von außen eingeflossenen Gelder vor allem dazu benutzt, die militärische Infrastruktur aufzubauen, wie auch die Gewaltapparate für den innerpalästinensischen Gebrauch. Darüber hinaus gibt es auch bei den Palästinensern eine durch den nun schon lange andauernden militärischen Widerstand gestählte und geschärfte Militärelite, die ein Interesse an der Aufrechterhaltung des Status quo hat.
Das heißt, allein aus dieser Perspektive heraus gibt es einen komplementär verschwisterten Interessenverbund, der sich dahin ausgewirkt hat, dass die hohe Politik auf beiden Seiten bislang eher eine Politik des Machterhalts ist als eine Politik der Versöhnung und Konfliktbeilegung.
Internationale Interessen und Handlungsoptionen
Es ist auch diskutiert worden, ob eine internationale Friedenstruppe sozusagen handstreichartig für Ruhe in Nahost sorgen könnte. Inwieweit kann Ihres Erachtens internationaler Einfluss der USA oder der Europäischen Union zur Beendigung des Krieges und Konfliktes führen?
Der entscheidendere Punkt ist doch: Israel ist eine der stärksten Militärmächte der Welt. Eine von außen oktroyierte, per Gewalt durchgesetzte Lösung würde – zumindest tendenziell – bedeuten, dass der Nahe Osten in Schutt und Asche gelegt wird.
Wir müssen uns aber zunächst fragen, ob denn die USA oder die Europäische Union überhaupt ein ernsthaftes Interesse daran haben, den Konflikt zu lösen. Die immer wieder zu hörende Rhetorik einer vermeintlich amerikanisch-israelischen Gesinnungsgemeinschaft beruht meines Erachtens auf einer Täuschung. Man muss sich von all den diesbezüglichen Slogans der USA verabschieden. Es geht den USA nicht um den Kampf für Menschenrechte, den Kampf für Demokratie und seit dem 11. September den so genannten »Krieg gegen den Terror«. Meines Erachtens geht es vielmehr um die Weichenstellung für die Machtkonstellation des 21. Jahrhunderts, in dem die USA auch weiterhin eine große wirtschaftliche Rolle spielen werden.
Unter diesem Gesichtspunkt betreiben die US-Amerikaner eine Politik der hegemonialen Einflussnahme. Neben der Präsenz der NATO im Balkan und neben den Aktivitäten der USA in Südamerika betrifft das vor allem zwei Gebiete: die Golfregion und Zentralasien.
Ich will hier nur auf die Golfregion eingehen. Bush senior hatte im Zuge des Krieges des Irak gegen den Iran zunächst Saddam Hussein mit aufgebaut und bewaffnet. Anfang der 90er Jahre, als sich herausstellte, dass Saddam Hussein den US-amerikanischen Interessen entgegen handelte, wurde dieser schlagartig zum neuen »Hitler« erklärt und Krieg gegen ihn geführt. Was der Senior angefangen hatte, könnte der Junior zu Ende führen wollen.
Die USA werden sich daher nur dann in den Nahostkonflikt einmischen, wenn es ihren geopolitischen Interessen konkret entspricht. Es ist ihnen letztlich ziemlich egal, ob die Menschen im Nahen Osten ausbluten oder nicht. Schon während des Kalten Krieges mit der Sowjetunion wurde der Nahe Osten wiederholt zum Experimentierfeld für die Erprobung neuer Waffenmaschinerien gemacht. Wenn es aber im Interesse der USA liegt, könnten sie durchaus Israel unter starken ökonomischen und politischen Druck setzen.
Was meinen Sie mit starkem ökonomischen und politischen Druck?
Ich gehe z.B. davon aus: Bei einem totalen Boykott Israels, das Israel ins ökonomische Matt setzte, mithin ans existenziell Eingemachte ginge, würde Druck von der israelischen Bevölkerung kommen.
Aber in anderen Ländern, wie in der Bundesrepublik Jugoslawien mit Serbien und Montenegro, hat das über Jahre eher dazu geführt, dass sich die Bevölkerung zusammengeschlossen hat und das Regime gestärkt wurde. Sähe das in Israel wirklich anders aus?
Man kann gerade in einer globalisierten Gesellschaft, gerade in einer Gesellschaft, die so stark vom Export abhängig ist wie Israel, durch einen Boykott Druck erzeugen. Israel könnte aber auch schon politisch dadurch unter Druck gesetzt werden, wenn die Vereinten Nationen und der Sicherheitsrat Israel die Unterstützung entziehen würde, mitunter wenn gegen Israel gerichtete Beschlüsse mit zusätzlicher Zustimmung der USA und der Europäer gefasst werden würden. Spätestens dann, meine ich, geriete Israel in Zugzwang, wenn es keinen politischen Selbstmord begehen wollte.
Unter den israelischen Linken in Israel ist die Frage eines Gesamtboykotts strittig. Die Geister scheiden sich, ob eine solche Initiative aus Israel oder von außen kommen muss. Aber man ist sich sehr wohl im Klaren, dass es objektive Möglichkeiten gibt. Es stimmt wohl, dass sich die Israelis ideologisch verschanzen, viele auch den beliebten Spruch »Die ganze Welt ist gegen uns« leichtfertig benutzen. Aber wenn es wirklich ernst wird, es eine wirklich bedrohliche wirtschaftliche Rezession gäbe, die die Lebensgrundlagen zerstörte: Dann würden, meine ich, viele zur Vernunft kommen.
Kritik an Israel = Antisemitismus?
In Deutschland wird eine intensive Debatte darüber geführt, ob eine Kritik an der israelischen Politik per se auch antisemitisch ist oder doch zumindest den latent vorhandenen Antisemitismus schürt. Wie stehen Sie dazu?
Wo es Antisemitismus gibt, das Paradigma des rassischen Vorurteils, das im Nationalsozialismus in der Shoah kulminierte, muss er ganz unabhängig vom Nahostkonflikt permanent und unnachgiebig bekämpft werden.
Aber sehen Sie, linkes Denken ist für mich ohne eine emanzipative Ausrichtung nicht denkbar. Die Kategorie der Emanzipation muss danach überall in der Welt, in jeder Gesellschaft, zu jedem Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte anwendbar sein. Im Verhältnis zu Palästina z. B. präsentiert sich Israel als ein Land brutaler Repressionen und Unterdrückung, zumindest in den letzten 33 Jahren. Und wenn dem so ist, muss man in Begriffen der universellen Kategorie der Emanzipation sagen: Jede Linke auf der Welt – auch eine deutsche – hat das gute Recht, Israel unter diesem Gesichtspunkt zu kritisieren. Ich werde mir als Linker die Kritik an diesem Zustand von niemandem verbieten lassen, und es bleibt sich für mich gleich, ob ich nun die Sache in Berlin, in Jerusalem oder in New York vortrage.
Ich glaube, das Dilemma liegt nicht in der Frage, ob die deutsche Linke das Recht hat, Israel zu kritisieren. Entscheidender ist, in welcher Absicht kritisiert wird; ob sich in die Kritik Elemente einschleichen, die sich als zutiefst anti-emanzipativ erweisen und mit denen die Kritik lediglich instrumentalisiert wird.
Prof. Dr. Moshe Zuckermann ist Direktor des Instituts für Deutsche Geschichte der Universität Tel Aviv und lehrt am Cohn Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas. Deutschsprachige Veröffentlichungen sind unter anderem: Gedenken und Kulturindustrie, Berlin und Bodenheim 1999; Zweierlei Holocaust – Der Holocaust in den politischen Kulturen Israels und Deutschlands, Göttingen 1998; Kunst und Publikum – Das Kunstwerk im Zeitalter seiner gesellschaftlichen Hintergehbarkeit, Göttingen 2002.