Je größer die Lüge, desto geringer der Protest?
von Peter Strutynski
In demokratischen Gesellschaften westlichen Zuschnitts kommt es vor, dass Politiker wegen vergleichsweise geringer Verfehlungen oder privater Affären ihre Posten verlieren, wirklich schwere politische Sünden bleiben dagegen meist ungeahndet. Die Medien, oft als vierte Gewalt im Staat bezeichnet, interessieren sich mehr für private Skandale öffentlicher Personen als für deren amtliche Handlungen. Dass die Öffentlichkeit dieses Spiel goutiert, hat zum einen natürlich mit der Macht der Medien zu tun, zum anderen aber auch mit dem Interesse der Menschen am privaten Leben der vom Schicksal vermeintlich Begünstigten. Präsident Clinton hatte nie auch nur den Hauch einer ernst zu nehmenden Kritik an seiner zuweilen kriegerischen Außenpolitik zu fürchten, die Affäre mit einer seiner Assistentinnen hätte ihm beinahe sein Amt gekostet. Manche meinen sogar, dass ihn erst die intensiven viertägigen Bombardierungen des Irak im Dezember 1998 vor dem Schlimmsten bewahrt hätten. Bundesverteidigungsminister Scharping blieb politisch unbehelligt, solange er die Bundeswehr unter Zuhilfenahme faustdicker Lügen in den NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien führte, seine Streitkräfte in Richtung einer Interventionsarmee umbaute und mit der endgültigen Entscheidung für den sündhaft teuren Militär-Airbus die Bundesfinanzen stark belastete. Gehen musste er erst, nachdem bekannt wurde, dass er von einer geschäftstüchtigen PR-Firma einen satten »Vorschuss« für die Veröffentlichung seiner »Erinnerungen« erhalten hatte.
Nun hat die seit Wochen schwelende Auseinandersetzung um die Irakkriegsbegründungen der Regierungen in London und Washington einige Kabinettsmitglieder durchaus in Verlegenheit gebracht. Paul Wolfowitz, immerhin stellvertretender US-Verteidigungsminister, hat der Diskussion um die Existenz von Massenvernichtungswaffen im Irak neue Nahrung gegeben, als er in der Juni-Ausgabe von »Vanity Fair« (Titel: Bush`s Brain Trust) mit den Worten zitiert wurde, die US-Administration habe sich lediglich „aus bürokratischen Gründen“ auf das Thema Massenvernichtungswaffen konzentriert, weil dies „der einzige Grund war, dem jeder zustimmen konnte“. „Fast unbeachtet, aber riesig“ sei dagegen das Motiv gewesen, dass mit dem Irakkrieg die Präsenz von US-Truppen im benachbarten Saudi-Arabien überflüssig geworden sei. Allein die Beseitigung dieser »Belastung« von Saudi-Arabien werde zu einem friedlicheren Nahen Osten führen, meinte Wolfowitz.
Mit diesem offenherzigen Bekenntnis brachte er vor allem US-Außenminister Powell und den britischen Premier Tony Blair in Bedrängnis. Waren sie es doch, die die Horrorberichte ihrer Geheimdienste am inbrünstigsten in die Welt hinaus posaunt hatten. Wir erinnern uns an die Präsentation des britischen Dossiers »Iraq`s Weapons of Mass Destruction« im September letzten Jahres. Darin kommt die britische Regierung zu der Ansicht, dass der Irak fortfahre, chemische und biologische Waffen zu produzieren, dass er über militärische Einsatzpläne für chemische und biologische Waffen verfüge und einige dieser Waffen innerhalb von 45 Minuten einsatzbereit seien; der Irak habe Befehls- und Kontrollstrukturen für den Gebrauch von Massenvernichtungswaffen installiert und mobile Forschungslabore für militärische Zwecke entwickelt, er versuche insgeheim Technologie und Materialien zu beschaffen, die für die Herstellung von Atomwaffen benötigt werden. Ihm wurde unterstellt illegal bis zu 20 Raketen zu besitzen mit einer Reichweite von 650 km und der Fähigkeit chemische oder biologische Gefechtsköpfe zu tragen, er arbeite an neuen Maschinen- und Testvorrichtungen zur Entwicklung von Raketen, die die britische Militärbasis auf Cypern, andere NATO-Mitglieder – wie Türkei und Griechenland – sowie alle Golfstaaten und Israel erreichen könnten usw. usf.
Tony Blair höchstpersönlich hatte dem Dossier ein Vorwort vorangestellt, in dem er u.a. schrieb: „Es ist klar, dass trotz der Sanktionen die Politik der Eindämmung nicht ausreichend war, um Saddam an der Entwicklung solcher Waffen zu hindern.“ Deshalb plädierte er dafür, dass die UN-Waffeninspektoren wieder ins Land dürfen, um „ihren Job gewissenhaft zu machen.“ Wenn Saddam das nicht zulasse oder wenn er ihre Arbeit behindere, „muss die internationale Gemeinschaft handeln.“ Obwohl schon bei der Vorlage des Dossiers die internationale Kritik von den zum Teil hanebüchenen »Beweisen« kaum etwas übrig ließ und obwohl – ab November – die UN-Inspekteure bei ihrer Arbeit so gut wie nichts »Brauchbares« im Sinne der Kriegsbefürworter finden konnten (und sie machten ihren Job verdammt gut), war sich Colin Powell nicht zu schade, die dicksten Lügen im UN-Sicherheitsrat knapp fünf Monate später (am 5. Februar) zu wiederholen. Powell blieb die Peinlichkeit nicht erspart, sich danach vorhalten lassen zu müssen, dass das »feine« Dokument, „das in exquisitem Detail irakische Täuschungsmanöver beschreibt“ – so Powell über das britische Dossier – sich in großen Teilen als Kopie eines studentischen Forschungsberichts herausstellte – mit Informationen, die teilweise über zwölf Jahre alt waren. Powell hatte in seiner Rede betont: „Ich kann Ihnen nicht alles sagen, was wir wissen, aber was ich Ihnen mitteilen kann, ist … zutiefst beunruhigend.“ Sicher wusste er auch – aber genau das konnte er natürlich unmöglich sagen – dass viele seiner angeblichen Beweise für die Existenz von Massenvernichtungswaffen im Irak von den US- und britischen Geheimdiensten konstruiert waren.
Die wesentlichen Fäden zu dem Lügengespinst fabrizierten jene im Joint Intelligence Committee (JIC) zusammengeschlossenen britischen Geheimdienste, die schon bei der Vorbereitung des Afghanistankriegs ihre schmutzigen Hände im Spiel hatten. Auch damals fiel es innerhalb der angloamerikanischen Arbeitsteilung Tony Blair zu, »Beweise« einer Verstrickung Bin Ladens, der Al Qaida und des Taliban-Regimes in die Terroranschläge vom 11.9.2001 vorzulegen. Auch damals wurde das Papier von Experten heftig kritisiert: Es tauge nicht einmal für die Begründung eines Anfangsverdachts gegen die Beschuldigten, angesichts der dürftigen Aktenlage müssten die Angeklagten vor jedem ordentlichen Gericht „mangels Beweisen“ freigesprochen werden. Der Afghanistankrieg fand dennoch statt.
Nun wird man nicht sagen können, dass die »spin doctors« in den USA aus den blamablen Vorstellungen der Geheimdienste nichts gelernt hätten. Die ideologische Vorbereitung auf den Irakkrieg enthielt nicht nur die ständigen Hinweise auf die Massenvernichtungswaffen. In allen Reden von Bush, Powell und Rumsfeld (und übrigens auch schon im britischen Dossier vom September 2002) wurde eine Troika von Kriegsgründen ins Feld geführt. Neben den Massenvernichtungswaffen des Irak waren es die massiven Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen des Saddam-Regimes und die angebliche Unterstützung des Terrorismus durch ihn. Diese »komplexere«, aber deswegen nicht völkerrechtsverträglichere Argumentation bestimmte die Debatten im britischen Unterhaus und im amerikanischen Kongress anlässlich der jeweiligen Abstimmung über eine Kriegsermächtigung. Alle Kongressabgeordneten wussten z.B. was sie am 2. Oktober beschlossen, als sie mit großer Mehrheit die House Joint Resolution 114 »To authorize the use of United States Armed Forces against Iraq« verabschiedeten.
Insofern können sich die in die Kritik geratenen Kriegspolitiker auf ihre Breitbandbegründung für den Krieg beziehen und im Übrigen um Geduld für ihre eigenen Suchmannschaften im Irak bitten – Anfang Juni erhöhte die USA ihre »Waffeninspekteure« auf 1.400 Personen und unterstellte sie – ausgerechnet – einem Sonderbeauftragten der CIA.
Für die demokratische Entwicklung in den USA und in Großbritannien ist der Streit um den Krieg bitter nötig, schließlich geht es um öffentliche Angelegenheiten von größter Tragweite, auch wenn sich der Skandal nicht zu einem »Saddamgate« entwickeln sollte. Die Arbeit der mittlerweile eingesetzten Untersuchungsausschüsse im US-Kongress und im britischen Parlament könnten aufschlussreiche Erkenntnisse über die gefährliche Tätigkeit der Machtkartelle aus Geheimdiensten und Regierungen zu Tage fördern. Dafür müsste allerdings auch der Fokus erweitert werden auf die doch mehr als zweifelhaften Erfolge der Kriegskoalition, auf die Verheerungen, die der Krieg mit sich gebracht hat (z.B. die Tausende ziviler Opfer), auf die dauerhafte Beschädigung des Völkerrechts. Interessant wäre auch ein Blick auf die eigenen Waffenarsenale, denn während die US-Administration vor Iraks Massenvernichtungswaffen warnte, rüstete sie ihr eigenes B- und C-Waffenarsenal gewaltig auf (Jahresbudget 2003: 6 Mrd. Dollar) und blockierte auf internationaler Ebene jegliche wirksame Biowaffenkontrolle.
In einer Situation, in der in den Kernländern der Kriegsallianz die Legitimation für den Krieg mehr als je zuvor in Frage gestellt wird und in der das Ansehen des US-Imperiums in der Welt weiter im Sinken ist, müsste sich die Bundesregierung in ihrer Kriegskritik eigentlich bestätigt fühlen, auf weitere Aufklärung drängen und sich dafür einsetzen, dass die internationalen Institutionen wieder mehr Einfluss bekommen. Stattdessen begräbt Berlin den Streit und blickt in neuer transatlantischer Verbundenheit nur noch »nach vorne«. Die UN-Resolution 1483 (2003), die den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Irak nachträglich legitimierte und der UNO lediglich eine Bittstellerrolle bei der humanitären Bewältigung der Nachkriegsprobleme einräumt, fand auch die Zustimmung der Bundesregierung. Antikriegshaltung? Schwamm drüber! Je offensichtlicher die Lüge, desto geringer der Protest!
Dr. Peter Strutynski arbeitet an der Uni Kassel und ist Sprecher des »Bundesausschuss Friedensratschlag«