Jenseits der Moral
Türkeipolitik entlarvt deutsche Interessen
von Errol Babacan
Die amtierende deutsche Regierung trägt die »wertegeleitete Außenpolitik« vor sich her wie eine Monstranz. Insbesondere der grüne Part der sogenannten Ampelkoalition betreibt eine Moralisierung von Politik, die nur Gut oder Böse kennt. Derzeit wird das Böse von Russlands Präsidenten Wladimir Putin verkörpert, der für den völkerrechtswidrigen Krieg in der Ukraine vor ein internationales Gericht gestellt werden soll. Auch für die Demokratie gehe vom autoritär verfassten Russland eine besondere Gefahr aus, so das vorherrschende Narrativ.
Wie willkürlich solche Bestimmungen sind, lässt sich nicht zuletzt an den deutsch-türkischen Beziehungen aufzeigen. Weder stört sich die deutsche Regierung an der autoritären Herrschaft des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, noch sind ihr die völkerrechtswidrigen Militäroperationen der türkischen Armee im Irak und in Syrien ein Dorn im Auge. Konfrontiert mit der deutschen Türkeipolitik entpuppt sich auch die »feministische Außenpolitik« als Mogelpackung. Erst kürzlich trat die Türkei aus der »Istanbul-Konvention« aus, ein internationales Abkommen, das dazu verpflichtet, (auch häusliche) Gewalt gegen Frauen effektiv zu bekämpfen. Eine im Grunde folgerichtige Entscheidung der türkischen Regierung, denn unter ihrer seit zwei Jahrzehnten bestehenden islamistisch eingefärbten Herrschaft hat auch die Gewalt gegen Frauen stetig zugenommen. Konsequenzen für die deutsch-türkischen Beziehungen folgten daraus vonseiten der Bundesregierung keine.
Nüchtern betrachtet gestalten sich diese Beziehungen seit Jahrzehnten entlang bestimmter Prioritäten. Sie haben weitgehend Bestand trotz wechselnder Regierungen. An erster Stelle ist das geopolitische Bündnis im Rahmen der NATO zu nennen, das mit dem Ukraine-Krieg erheblich gestärkt wurde. Der Krieg stellt die Türkei einerseits vor die Herausforderung, ihren Aufgaben als militärischer Stützpunkt an der Südostflanke nachzukommen, ohne dabei die bereits seit dem Syrien-Krieg komplizierter gewordenen Beziehungen zu Russland zu eskalieren.
Das Bündnis gibt der Türkei andererseits einen Hebel an die Hand, gegenüber den Partnern ihre Interessen zu verfolgen. Die inzwischen aufgegebene Verweigerung, der Mitgliedschaft Schwedens in der NATO zuzustimmen, gehört in diese Kategorie. Es zeichnet sich ab, dass insbesondere die sich im schwedischen Exil befindliche kurdische Opposition aus der Türkei negativ betroffen sein wird, sofern die schwedische Regierung als Gegenleistung für die erfolgte Zustimmung ihre Terrorismusdefinition den Forderungen aus der Türkei anpasst. Schweden nähert sich damit dem Beispiel Deutschlands an, wo es seit Jahrzehnten ein PKK-Verbot gibt, das jedwede politische Aktivität der kurdischen Exilopposition unter Terrorismusverdacht stellt. Auch die Lieferung avancierter Waffen an die Türkei, wie des Kampfjets F-35 aus US-amerikanischer Produktion, wurde im gleichen Zusammenhang verhandelt.
Man muss sich vor Augen führen, dass die Türkei im Äußeren mit islamistischen Milizen kooperiert bzw. direkt in die Organisierung dieser Milizen involviert ist, die erhebliche Teile syrischen Staatsgebiets besetzt halten. Im Inneren wird nicht nur, aber vor allem die zivile kurdische Opposition verfolgt. Dutzende Bürgermeister*innen kurdischer Kommunen sind willkürlich abgesetzt und verhaftet worden. Prominente oppositionelle Politiker*innen wie Selahattin Demirtaş befinden sich seit vielen Jahren aus fadenscheinigen Gründen in Haft. Auch Liberale und Linke wie der Menschenrechtsanwalt Can Atalay sind betroffen. Atalay hatte bei den jüngsten Wahlen im Mai 2023 aus dem Gefängnis heraus für die sozialistische Partei TIP kandidiert und wurde ins Parlament gewählt. Laut Verfassung muss er für die Ausübung seines Mandats aus der Haft entlassen werden, in der er unter der Beschuldigung eines Putschversuchs aber weiter gehalten wird. Der angebliche Putschversuch besteht darin, dass er Verfolgte und Geschädigte des Regimes vor Gericht in verschiedenen Verfahren anwaltlich vertreten hat.
Nimmt man die »wertegeleitete Außenpolitik« beim Wort, so müssten auf der Stelle die Beziehungen zur Türkei eingefroren und Sanktionen beschlossen werden. Dass dies nicht passiert zeigt: In der Außenpolitik haben a-moralische, das heißt sachliche Interessen Vorrang. Die Rücksicht auf Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit oder internationales Recht gehören nicht dazu. Das Heranziehen von Werten verdeckt nicht nur diesen geopolitischen Pragmatismus, der sich im Übrigen auch in der deutschen Haltung zu einer rigiden Abwehr von Geflüchteten niederschlägt, für die die Zusammenarbeit mit und Unterstützung von autoritären Regimen keinerlei Hinderungsgrund darstellt. Es wirkt auch nach innen, indem es das Selbstbild einer an Tugenden ausgerichteten europäischen Gemeinschaft stärkt, die dem Rest der Welt moralisch überlegen ist. Das ist im höchsten Maße unaufrichtig und lässt fragen, wie es um eine Gemeinschaft bestellt ist, in der es üblich ist, sich derart in die eigene Tasche zu lügen.
Errol Babacan ist Gesellschaftswissenschaftler und arbeitet an der Universität Münster.