W&F 2008/1

Jerusalem

Eindrücke und wirre Geschichten rund um eine Konferenz in der heiligen wie umstrittenen Stadt

von Sabine Korstian

„Jetzt sehen wir also das wahre Leben hier?“ flüstert mir Linda aus den USA zu, die wie ich Referentin auf der Konferenz des INSAN Center für Frauen- und Geschlechterforschung der Al-Quds (arab. für Jerusalem) Universität1 am 5. November 2007 war. Eine Zivilstreife hat unseren Bus von Jerusalem nach Abu Dis, ein Ort bei Ostjerusalem, durch den die »separation barrier« wie überall um Jerusalem als Mauer verläuft und wo sich ein Campus der Universität befindet, angehalten und den Fahrer zu ihrem Fahrzeug mitgenommen. Ich muss sie enttäuschen, denn er ist einfach nur dabei erwischt worden, wie er beim Fahren telefoniert hat. Verärgert kommt er mit einem Strafzettel wieder. Ein langweiliges Verkehrsdelikt, nichts politisches. Ach so. Das „wahre Leben“ besteht eher darin, dass wir überhaupt in diesem Bus sitzen, der statt der zehn Minuten, die es früher waren, als es die Mauer noch nicht gab, eine dreiviertel Stunde bis Abu Dis braucht - vorausgesetzt es gibt keinen längeren Aufenthalt am Checkpoint.

Mein letzter Besuch ist schon über zwei Jahre her. Damals gab es noch ein paar allgemein bekannte Mauerschlupflöcher, so dass man nicht den ganzen Weg außen herum fahren musste. Linda wundert sich: Das sind doch Palästinenser hier im Bus, wieso durften die nach Jerusalem fahren und andere nicht und wie verläuft überhaupt die Mauer? Ich versuche zu erklären, je nachdem welche Identitätskarte jemand hat, ob Jerusalem oder Westbank, und wie die Siedlungsgebiete verlaufen und die Demographie und der Streit um Jerusalem und die Anschläge und ... - das ist aber kompliziert?! Ja, wenn ich es mir recht überlege, je länger ich darüber rede, umso weniger verstehe ich selber, was ich sage. Dieser Zustand akuter Verwirrung, in dem nur noch Demut hilft - das Jerusalemsyndrom denke ich mir und finde mich irgendwann vor der Westmauer sitzend wieder, wo ich den Betenden zuschaue und den Vöglein, die im Gemäuer nisten. Ein paar Tage später wird mir ein australischer Straßenkünstler erzählen, dass er auf einem klapprigen Fahrrad, voll bepackt mit Tüten und mit seinem mehr als einen Meter großen weißen Plüschteddy auf dem Gepäckträger die autobahnähnliche Strasse von Tel Aviv nach Jerusalem gezuckelt ist, von der Polizei zweimal kurz angehalten und beim dritten Mal, weil es schon dunkel wurde und er kein Licht hatte, von der Streife schließlich in die Stadt eskortiert wurde. Also nichts, worüber man sich wirklich wundern müsste. Genauso wenig wie über ein nettes Hostel in Ostjerusalem2, wo man umsonst unterkommt und Friedensbewegte aus aller Welt Zwischenstopp machen beispielsweise auf ihrem »Walking the Bible« Trip, wie ein Buch heißt, das auf einem Tisch liegt. Eine Bewohnerin soll in den Hungerstreik getreten sein, damit die Gewalt aufhört. Das kann noch dauern. „Und sie haben die halbe Nacht Gitarre gespielt“ stöhnt die finnische Kollegin. Auch »Hotel California«? Ja!

Touristen3 sind zurückgekehrt, man wird nicht mehr ständig von verzweifelten Fremdenführern oder Verkäufern angesprochen, aber es sind noch längst nicht so viele wie es einmal waren. Sowohl in unserem Hotel, in dem wir für die Konferenz untergebracht sind, als auch in ganz Ostjerusalem - abgeschnitten von seinem Hinterland in der Westbank - ist es merkwürdig ruhig. Nicht nur, weil es Anfang November politisch ziemlich ruhig war, sondern weil abends kaum noch Menschen auf den Straßen sind, es in den Geschäften zwar alles zu kaufen gibt, aber statistischen Erhebungen zufolge es nur wenige geben kann, die es kaufen können. Abu Dis ist allerdings lebendiger geworden: Die Universität - eine von fast einem Dutzend Universitäten, die seit den 70ern in den palästinensischen Gebieten (nicht einmal ein Drittel der Größe Hessens) entstanden sind - wächst mit jedem Jahr und mit ihr die Zahl der StudentInnen, was nicht überrascht, ist doch mehr als die Hälfte der Bevölkerung unter 20 Jahre alt. Ironischerweise konnte sich dort nicht zuletzt aufgrund der massiven Bewegungsbeschränkungen der letzten Jahre eine studentische Kultur entwickeln, weil immer mehr in Abu Dis wohnen, um nicht ständig ihr Studium unterbrechen oder Seminare ausfallen lassen zu müssen. Der Einfluss der islamischen Bewegung ist unübersehbar, denn ca. 80% der Studentinnen tragen Kopftuch und halten außer Gesicht und Händen ihre Körper bedeckt.

Sich auf dem Campus umzusehen macht Spaß. Die Mädels sind interessanter als die Jungs, weil die unterschiedlichen Stilrichtungen der Kopftücher und der dazugehörenden Outfits faszinierend sind: Kopftuch Islamisten Fashion mit Mantel und nicht selten hochhackigen Schuhen; Kopftuch Business Look mit Kostüm ähnlichen Klamotten; Kopftuch Superschick - Discoqueen ähnlich, hauteng; Kopftuch Ethnolook; Kopftuch Flower Power Style; Kopftuch Normalo, um eine Kategorie aus meinen Schulhofzeiten zu strapazieren, die auch damals schon nicht genauer definiert war. Über 40% der Studierenden sind weiblich und das schon seit 'zig Jahren. Trotzdem hat die Information, dass es Frauen und Frauenforschungszentren an palästinensischen Universitäten gibt, schon einmal eine Sicherheitsbeamtin am Ben Gurion Flughafen aus ihrer Rolle fallen lassen: „Was, so etwas gibt es da?!“

Neue Gebäude sind auf dem Campus, ein kleines Amphitheater, IT Center und Museen - woher kommt das Geld? Verschiedene Quellen, verschiedene Spender aus aller Welt und besonders großzügig aus Saudi Arabien, wird mir erzählt. Dessen ungeachtet und unbeeindruckt von ein paar Tausend StudentInnen um sie herum, hält es eine Italienerin für nötig, ehrenamtlich ein paar Monate in einem Kinder- und Jugendzentrum zu arbeiten. Sogar die israelische Gewalt habe sie schon erlebt - Tränengas und so. Also die direkte Gewalt, präzisiert sie, denn irgendwie sei hier ja alles Gewalt. Israelische, selbstverständlich.

Einen größeren Gegensatz zu Ostjerusalem bildet das pulsierende Zentrum von Ramallah. Nun bin ich doch verblüfft über die vielen scheinbar brandneuen Autos, anscheinend florierenden exklusiven Geschäfte und Cafés. Einen Kaffee trinken wird wie hierzulande zu einem Akt der Komplexitätsreduktion - welche Sorte von Kaffee darf es denn sein? Sicher, Ramallah war schon immer relativ wohlhabend und wird gerne als die »westlichste Stadt der Westbank« beschrieben. Im Kopf habe ich Angaben über 50% der Westbankler, die unterhalb einer Armutsgrenze leben, aber klar, folgerichtig lebt die andere Hälfte darüber. Ich habe nicht viel Zeit und kann nur Eindrücke von der Stadt sammeln, in der ich mal ein paar Monate gelebt habe. Ich höre von Binnenmigration nach Ramallah, wo die meisten Behörden der Palestinian National Authority sind, NGOs und andere Organisationen oder kurz: Das meiste Geld.

Über seinem Glas Bier seufzt ein Bekannter über die innenpolitische Lage, es sei die Wahl zwischen Pest und Cholera, zwischen unverblümter Korruption und religiösem Fanatismus. Selbst diejenigen, die nie zur Fangemeinde Arafats gehörten, trauern ihm nun nach, weil er wenigstens Entscheidungen treffen konnte. Es sei an der Zeit für eine dritte Kraft im Lande, säkular, demokratisch, pragmatisch. Irgendwie kann es doch so nicht weiter gehen?! Irgendwie kann das doch wohl alles nicht wahr sein?! Aber man kommt weder an Pest noch an Cholera vorbei, zu viele Anhänger, zu viele durch alte Loyalitäten gebunden, zu viele offene Wunden und Gaza liegt nicht auf einem anderen Planeten. Während Kritik an Israel öffentlich und lautstark sogar gegenüber Fremden geäußert wird, fallen solche Sätze nur in kleiner Runde. Wir trinken besser noch ein Bier.

Unbeirrt halten einige an ihrer Vorstellung von einer besseren Gesellschaft fest. »Integrating Gender into Curricula« war das Thema der Konferenz, gefördert von der Heinrich-Böll-Stiftung und organisiert von der Rektorin des INSAN Center, Dr. Fadwa Al Labadi und ihrem Team. Das ist kein nebensächliches Thema, sondern ebenso brisant wie offiziell: Empfang mit dem Rektor der Universität, die Ministerin ist da, ein Vertreter der EU Kommission, ReferentInnen aus Palästina, Israel (die Referentin ist palästinensische Israelin), USA, Großbritannien, Finnland, Deutschland - nur die Referentin aus Jordanien konnte nicht kommen, denn sie hat kein Visum erhalten. Das Publikum ist - im Gegensatz zu ähnlichen Konferenzen hierzulande - mindestens zur Hälfte männlich. Bei dem Thema geht es darum, wie die Gesellschaft sich entwickeln und was für einen Staat man aufbauen soll. Geschlechterverhältnisse und Bildung sind Kristallisationspunkte aller Kontroversen um den Erhalt von Traditionen bei gleichzeitiger Modernisierung; die Rolle der Religion in Staat und Gesellschaft; Orientierung am Westen oder Ablehnung oder der Suche nach einem eigenen Weg; Demokratisierung, Entwicklung, Frieden - und noch mehr Schlagwörtern, bei denen keineswegs immer klar ist, was diejenigen, die sie verwenden, damit meinen. Die Curricula und Lehrbücher sind schon seit Jahren in der Diskussion, sind doch die alten jordanischen durch neue ersetzt worden. Ebenso steht die Anhebung akademischer Standards, die Abkehr von alten Erziehungsidealen und Unterrichtsmethoden auf der Agenda, womit auch Didaktik ein Politikum wird.

Auf der Konferenz herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass Mädchen und Frauen die gleichen Chancen wie Jungen und Männer haben sollten und dies eine Grundvoraussetzung für Entwicklung sei. Doch derlei Lippenbekenntnisse sind so alt wie die PLO. Daher fallen die Einschätzungen der bisherigen Bemühungen unterschiedlich aus und so manche palästinensische Kollegin haut verbal auf den Tisch: Die Doppelmoral, die Kultur der Scham, das leere Gerede von wegen Gleichberechtigung. Eine Studentin ist aufgebracht, es sei nicht genügend Zeit für Diskussionen, ob das etwa Absicht sei? Nein, war es nicht, sondern einfach nur ein enger Zeitplan. Ein Journalist aus Nablus erklärt mir, wieso er sich über die Konferenz freut: Das gäbe ihm die Möglichkeit, geistige Munition zu sammeln, um seine Anliegen in der Lokalpresse unterbringen zu können. Alles in allem halten sich die Auseinandersetzungen in Grenzen: Diejenigen mit ganz anderen Vorstellungen sind nicht da und die innenpolitische Lage wird nur am Rande thematisiert, was ein wenig das Gefühl vermittelt, in einer Seifenblase zu sitzen.

Für die Zukunft mal eine Konferenz zu »Gender« und Islam sinniert daher Fadwa schon wieder, kaum dass diese Konferenz vorbei ist. Nach getaner Arbeit sind anderntags drei Stunden faulenzen am Toten Meer das Maximum an Auszeit, das sie sich gönnt. Vom heilsamen Schlamm bedeckt lassen wir es uns gut gehen. Es ließe sich noch mehr genießen, wären da nicht überdeutlich die Spuren des dramatisch gesunkenen Wasserspiegels und damit Zeichen einer heraufziehenden Umweltkatastrophe. Wasser - noch so ein Sprengstoffthema, bei dem man in einer idealen Welt an einem Strang ziehen würde. Wie schwierig Begegnung und Dialog sind, verdeutlichen mir die Erzählungen von Sabah, die an solchen Projekten der Begegnung zwischen israelischen und palästinensischen Frauen in Deutschland teilgenommen hat4. Sie ringt um die richtigen Worte und sichtbar mit ihren Emotionen, während sie gleichzeitig versucht, meine Gefühle nicht zu verletzen. Nach ein paar Minuten Gespräch ringe ich mit.

Außerdem trifft man immer jemanden, der verkündet, das Land müsse befreit werden, und zwar mit Blut. Eine Gratulation dazu, aus Deutschland zu sein, inbegriffen. Auch der ein oder andere misstrauische oder offen feindselige Blick streift mich, insbesondere wenn ich allein in den palästinensischen Gebieten unterwegs bin. Sobald es mir zu ungemütlich wird, quatsche ich jemanden an und stelle irgendeine blöde Frage, nur um in ein Gespräch zu kommen - den Idiotenfaktor ausspielen nenne ich das, wobei ich der Idiot bin. Die meisten Leute neigen zum Glück eher dazu, jemandem zu helfen und warten nicht tagein tagaus darauf, andere umzubringen. So nahe leben die Menschen beieinander, so klein ist das Land. Bei aller Tragik und Gewalt, die es gab und gibt, kann es manchmal schon wundern, dass nicht mehr passiert. Ein Verdienst der Sicherheitskräfte und Resultat der Sicherheitsmaßnahmen, lautet das israelische Argument.

„Sie behandeln uns wie Tiere“, lautet der bittere Satz eines Mannes, der mich davor bewahrt hat, mich in dem schicken neuen Terminal des Übergangs von Bethlehem nach Jerusalem zu verlaufen, weil Freitag ist und daher kaum jemand unterwegs. Betonklötze und Sandsäcke und der direkte Blick in eine Mündung mögen zwar unschön gewesen sein, aber wenigstens nicht so verwirrend wie der ausgeklügelte Terminal, in dem man kaum einen Menschen, d.h. Soldaten, zu Gesicht kriegt, selbst wenn dieser schlecht gelaunt gewesen sein mag. Dafür steht am Eingang ein dreisprachiges Schild auf dem nach den freundlichen Anweisungen ein „Have a nice day“ gewünscht wird. Ausländer auf Sightseeing Tour so wie ich - auch wenn es in meinem Fall Checkpoint-Sightseeing ist - mögen den ja haben, doch der Alltag der Palästinenser wird dadurch alles andere als „nice“. Die Auswirkungen auf ihren Handel, der Weg zum Arbeitsplatz, zur Schule, ins Krankenhaus oder einfach Besuche von Freunden und Verwandten - alles ist noch komplizierter geworden. Zwar wirkt alles geordneter und organisierter, doch ist klar, was dies bedeutet: Israel schafft Fakten. Aus Rassismus und kolonialer Gier schafft es Apartheid, ist das palästinensische Argument.

In Abu Dis und im Nachbarort Azariah (oder für bibelkundige: Bethanien) sind die meisten Geschäftsschilder noch zweisprachig obwohl spätestens seit der Al-Aqsa Intifada kein (jüdischer) Israeli mehr hier einkauft. Schon lange gibt es in Westjerusalem oder Tel Aviv kein öffentliches Gebäude, Café, Kneipe oder was auch immer mehr, in die man ohne Sicherheitskontrolle hinein kommt. Rafi aus Tel Aviv bemerkt, dass Ausländer immer ein Problem mit den vielen Waffen hätten, die sie in Israel sehen, aber ihm geben sie ein Gefühl der Sicherheit, denn man wisse ja nie - wenn was sei, sei jemand da, der etwas unternehmen könne. Eigentlich hat er es satt über Religion oder Politik zu diskutieren und erzählt dann von der geplanten Love Parade in Jerusalem, die aus Angst vor Ausschreitungen verboten wurde. Die Vorstellung hatte religiöse Gemüter jeder Couleur kochen lassen. Soviel Einigkeit ist selten. Darauf besser noch ein Bier. Man weiß ja nie.

Anmerkungen

1) http://www.alquds.edu/centers_institutes/ic/

2) Wer einmal vorbei schauen möchte: www.jerusalempeacemakers.org/ibrahim

3) Informationen für alle, die in den palästinensischen Gebieten einmal Urlaub machen möchten: www.thisweekinpalestine.org

4) Dazu hoffentlich von ihr demnächst ein Erfahrungsbericht.

Sabine Korstian ist Mitglied der W&F-Redaktion.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2008/1 Rüstungsdynamik und Renuklearisierung, Seite