Jugend und Veränderung
von Fabian Virchow
Erst die Aufklärung als besondere Epoche westlicher Philosophie schuf »Jugend« als eigene Wirklichkeit und besondere Lebensphase. Lange hatte dann zunächst, wer von »der Jugend« sprach, vor allem junge Männer der Mittel- und Oberschicht im Blick. Inzwischen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass »Jugend« ein historisch gewachsener Begriff ist. Dieser ist angesichts seiner regelmäßigen Instrumentalisierung durch politische Bewegungen nicht nur hinsichtlich seiner je spezifischen ideologischen Funktion kritisch zu befragen, sondern auch nach den Spezifika seines historischen Auftretens entlang gesellschaftlicher Strukturmerkmale wie Klasse und Geschlecht zu untersuchen und zu würdigen. Allgemeine Etiketten, die »die Jugend« angemessen zu charakterisieren beanspruchen, sind fehl am Platze. Trotz Globalisierung: Die Lebenssituationen der Mehrheit der jungen Menschen im »globalen Süden« sind mit denen ihrer AltersgenossInnen im »globalen Norden« kaum zu vergleichen.
In vielen Gesellschaften ist die soziale Lage großer Teile der jungen Menschen nur als trostlos und skandalös zu bezeichnen. In einigen Ländern der Europäischen Union – Griechenland, Spanien, Kroatien – hat die saisonbereinigte Jugendarbeitslosenquote im Mai 2013 die 50%-Marke überschritten. Wirksame Handlungskonzepte, die dies in absehbarer Zeit ändern könnten, werden von den Regierungen bisher nicht formuliert, geschweige denn in Angriff genommen. In anderen Teilen der Welt müssen Kinder und Jugendliche unter lebensgefährlichen Bedingungen zum kargen Familieneinkommen beitragen – die mit Presslufthämmern in indischen Steinbrüchen arbeitenden Kinder oder die ohne die Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen nicht denkbaren Billigtextilien seien als lediglich zwei aktuelle Beispiele genannt, die damit einhergehen, dass die Möglichkeit einer qualifizierten Schulausbildung verwehrt bleibt.
Wo Jugendliche angesichts solcher Konstellationen in der Ausübung von Gewalt und in kriminellem Handeln subjektiven Sinn herstellen, werden sie regelmäßig als Problem des Kontroll- und Strafsystems adressiert. Tragischer Weise reproduzieren sie dabei häufig zugleich auch die Gewaltförmigkeit gesellschaftlicher Strukturen und der spezifischen Gewaltkultur der jeweiligen Gesellschaften. Ohne eine grundlegende Veränderung der gewaltproduzierenden Strukturen werden die Bemühungen um einen Abbau gewaltförmigen Verhaltens aber weitgehend wirkungslos bleiben.
Jugendliche reagieren auf die Einschränkung ihrer Entwicklungs-und Entfaltungsmöglichkeiten, auf die Erfahrung von personeller und staatlicher Gewalt sehr unterschiedlich. Sie wenden sich beispielsweise Religionen, Heilslehren und gegenaufklärerischen Weltanschauungen zu, um Orientierung und Handlungssicherheit zu finden, aber auch um Teil eines sozialen Zusammenhanges zu werden, der sie trägt und unterstützt.
Der Glaube an eine substantielle Veränderung der Situation ist gering, entsprechende Ankündigungen der etablierten politischen Klasse klingen für junge Menschen, von denen erwartet wird, dass sie ihre Lebensplanung zielstrebig verfolgen, hohl. So beteiligen sich auch viele Jugendliche und junge Menschen – etwa im so genannten Arabischen Frühling oder jüngst in der Türkei – an den sozialen und politischen Kämpfen, nicht selten unter Inkaufnahme persönlicher Risiken, die sich von denen der Mehrheit ihrer AltersgenossInnen in den so genannten etablierten Demokratien des Westens häufig beträchtlich unterscheiden.
Freilich existieren in den Artikulationen der Unzufriedenheit und des Protestes gegen die Regierenden – und gelegentlich auch gegen die wirklichen Machthaber – zahllose Widersprüche, die die Realisierbarkeit der Vielfalt der Lebensentwürfe der Beteiligten betreffen. Wo sich etwa Frauen gegen sexualisierte Gewalt und Übergriffe im Alltag, aber auch während öffentlicher Protestversammlungen wehren, geht es neben der unmittelbaren Zurückweisung des Angriffs und der damit verbundenen gesellschaftlichen Platzzuweisung auch um das Recht auf Selbstbestimmung und die angstarme Möglichkeit zu politischer Partizipation.
Auch die Entscheidung zur Migration bleibt für viele junge Menschen angesichts der ökonomischen Krise und fehlender Perspektive angemessener Einkommensgenerierung und der Realisierung des persönlichen Lebensentwurfes eine nachvollziehbare Option. Den Gesellschaften, die sie verlassen, gehen dabei häufig für gesellschaftliche Aufgaben qualifizierte Menschen verloren. Dass es sie in Länder zieht, die hinsichtlich der Kennziffern des durchschnittlichen Wohlstandsniveaus besser gestellt sind, ist ihnen nicht zu verdenken. Der politische Kampf und das Eintreten gegen autokratische Herrscher und konfessionsgebundene gewaltförmig ausgetragene Konflikte wird weitergehen – unter großer Teilnahme junger Menschen.
Fabian Virchow