W&F 2019/4

Kaschmir

von Jochen Hippler

Die Situation im indisch kontrollierten Teil Kaschmirs trägt alle Anzeichen einer Verhärtung der Krise und einer Verfestigung der dortigen Konflikte. In Indien wie in Pakistan weisen viele Beobachter*innen darauf hin, dass die weiter bestehende Einschränkung der Bürgerrechte und der Bewegungsfreiheit sowie die Blockade der Kommunikationsmittel nicht nur die wirtschaftliche Situation in Kaschmir schwer belasten. Sie führen auch dazu, dass große Teile der dortigen Bevölkerung die indische Regierung immer stärker als Feind wahrnehmen. Der schon lange schwelende Konflikt wird so massiv verschärft und immer schwerer lösbar.

Nach ihrem großen Wahlerfolg vom April/Mai diesen Jahres setzte die hindunationalistische BJP-Regierung ihre Kampagne fort, Indien von einer säkularen Demokratie zu einem autoritäreren Staat mit ethnoreligiöser Identität umzubauen. Eine radikale Maßnahme war die plötzliche Beseitigung des Sonder- und Autonomiestatus des überwiegend von Muslim*innen bewohnten Bundesstaates »Jammu und Kaschmir« und seine Degradierung zu einem von New Delhi verwalteten »Unionsterritorium«. Dies wurde zur Verhinderung von Protesten von einer Ausgangssperre, der Unterbrechung der Kommunikationsmittel, der Entsendung zusätzlicher Soldat*innen und anderen Zwangsmaßnahmen begleitet.

Die Beseitigung der kaschmirischen Autonomierechte durch Indien führte sofort zu einer neuen Krise zwischen Indien und Pakistan, die bereits seit ihren Staatsgründungen um Kaschmir streiten. In den letzten Jahren gab es häufig ernste Spannungen zwischen beiden Ländern, die teilweise sogar zum Einsatz militärischer Gewalt führten. Diese Konflikte wurden von der nuklearen Aufrüstung beider Länder begleitet: Indien verfügt seit 1974 über Atomwaffen, Pakistan seit 1998; es geht um jeweils rund 150 Atomsprengköpfe. In den beiden letzten Jahrzehnten beschwörten diese Waffenarsenale einerseits die Gefahr eines Atomkrieges in Südasien herauf, andererseits wurden beide Seiten dazu gezwungen, die immer wieder aufbrechenden Konflikte und Eskalationen in Grenzen zu halten. Es ist offensichtlich, dass weder Indien noch Pakistan ein Interesse an einem Krieg haben, noch weniger an einem Atomkrieg.

Ein zentrales Problem besteht allerdings darin, dass sich eine Konfliktdynamik verselbständigen und zu einer nicht mehr zu kontrollierenden Eskalation führen könnte. In beiden Ländern hat der Kaschmirkonflikt eine große ideologische und symbolische Bedeutung. Er ist emotional so aufgeladen, dass nicht nur nüchterne außenpolitische Erwägungen eine Rolle spielen, sondern auch Stimmungen, Gefühle, Rhetorik und Demagogie, bis hin zur Androhung von Krieg. Die Regierungen beider Länder treten dieser Emotionalisierung nicht entgegen – weil sie dies aus opportunistischen Gründen nicht für angebracht halten, weil sie selbst immer mal wieder ihr Süppchen auf nationalistischen Stimmungen kochen wollen oder weil es ihnen als zu riskant erscheint, den Hetzern in der Gesellschaft entschlossen entgegenzutreten, obgleich die Hetze den staatlichen Interessen zuwiderläuft. Manchmal scheint es, als würden Teile der politischen Eliten die Geister nicht mehr los, die sie selbst riefen.

Der Kaschmirkonflikt bedarf dringend einer Lösung, dies wird aber durch innenpolitisch motivierte, taktische Spielchen erschwert. Eine Verständigung der beiden Regierungen reicht schon lange nicht mehr aus, um den Konflikt zu lösen, und ist auch nicht in Sicht. Die religio-nationalistische Hetze hat den Diskurs in beiden Gesellschaften verschoben und ein solches Gewicht gewonnen, dass das jeweilige Gegenüber sogar als Feind definiert wird. An der daraus folgenden, zunehmend identitären Stimmung kann keine der beiden Seiten einfach vorbeiregieren. Eine Lösung des Kaschmirproblems setzt deshalb neben gesellschaftlichem Fortschritt die Versöhnung der beiden Gesellschaften miteinander voraus und zugleich die Versöhnung beider Gesellschaften mit sich selbst, also die Stärkung einer staatsbürgerlichen Identität gegenüber der ethnonationalistischen. Die Grundlagen dafür zu schaffen ist dringend notwendig, im Interesse beider Gesellschaften. Ein Verlust an politischer Zivilisiertheit ist schließlich nicht allein in den USA, in Russland, der Türkei und vielen europäischen Ländern zu beobachten, sondern auch in Südasien.

Indien und Pakistan stehen also vor einer Herkulesaufgabe, die nicht in wenigen Jahren zu bewältigen sein wird. Werden diesbezüglich keine Fortschritte erzielt, wird es eine Lösung des Kaschmirkonfliktes nicht geben.

Jochen Hippler, Dr. habil., ist Politikwissenschaftler und Friedensforscher. Nach vielen Jahren als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) der Universität Duisburg-Essen ist er seit Mai 2019 Länderdirektor der Friedrich-Ebert-Stiftung in Islamabad, Pakistan.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2019/4 Ästhetik im Konflikt, Seite 5