W&F 2000/1

Katastrophenkataster Osttimor

von Rainer Werning

Knapp 80 Prozent der Wahlberechtigten stimmten am 30. August in einem Referendum für die Unabhängigkeit Osttimors. Mit diesem Ergebnis hatte der seit Mai 1998 amtierende Suharto-Vertraute und -Nachfolger im Präsidentenpalast zu Jakarta, Dr. Bacharuddin Jusuf Habibie, wohl nicht gerechnet, als er Anfang dieses Jahres mit Verweis auf die erdrückenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten auf dem Archipel verkündete, Osttimor noch vor der Jahrtausendwende über sein künftiges Schicksal selbst entscheiden zu lassen.
Das Militär opponierte, proindonesische Milizen zerstörten, mordeten und vertrieben Hunderttausende auf Osttimor. Habibie musste abdanken. Doch ob die neue Regierung unter Abdurrahman Wahid die Unabhängigkeit Osttimors tatsächlich respektieren wird und ob dieser sein Versprechen „Indonesien nach einem förderalistischem System mit weitgehender Autonomie der einzelnen Provinzen zu organisieren“ einhalten wird, bleibt abzuwarten.

Ein Dokument der indonesischen Armee von Anfang Mai, da man gerade ein internationales Abkommen über das Referendum erzielt hatte, enthielt laut Sydney Morning Herald (8. u. 26.7.99) und der Australian Financial Review (13.9.99) die unmissverständliche Anordnung, „nach der Bekanntgabe des Wahlergebnisses in allen Dörfern Massaker anzurichten, falls die Verfechter der Unabhängigkeit siegen.“ Die Unabhängigkeitsbewegung sei „von der Führung bis zur Basis auszuschalten.“ (The Observer, 13.9.99) Das angekündigte Grauen, von proindonesischen Milizen inszeniert und von den Militärs gedeckt, nahm seinen Lauf und die »westliche Wertegemeinschaft« schaute zu. Erst am 20. September landete die Vorhut der aus 15 Staaten zusammengesetzten International Force in East Timor (INTERFET) in Osttimors Hauptstadt Dili. Am 14. Oktober schließlich bezogen 80 Bundeswehrsoldaten unter dem Kommando von Oberstleutnant Wolfgang Lange im nordaustralischen Darwin Quartier, um von dort aus Verwundete aus Osttimor auszufliegen und medizinisch zu versorgen.

Die Entfernung zwischen dem Kosovo und Osttimor markiert die Kluft zwischen »humanitären InterventionistInnen« und perfiden ZynikerInnen der Macht. Von „erzwungenem Massenexodus“, „systematischem Völkermord“ –gar „einem neuerlichen Auschwitz“ – war im Frühjahr die Rede, als im Namen von Menschenrechten ein rasches, kompromissloses und kostspieliges Handeln in Jugoslawien propagiert und exekutiert wurde. Im Falle des erneuten indonesischen Staatsterrors gegen Osttimor, der in unterschiedlicher Intensität seit 24 Jahren (!) andauert und sämtliche UN-Verurteilungen ungestraft ignorierte, ist auf einmal alles ganz anders. Hier konnte der Befehlshaber der indonesischen Truppen in Dili, Oberst Tono Suratman, zwei Wochen vor dem Referendum unbehelligt schwadronieren: „Sagen wir es ganz deutlich: Wenn die Pro-Unabhängigkeitskräfte siegen, wird alles zerstört werden. Das wird schlimmer als vor 23 Jahren (als indonesische Streitkräfte die erste Terrorwelle in Osttimor auslösten; R.W.).“ (Australian Financial Review, 14.8.99, unter Bezug auf ein Radiointerview) Die lautstärksten Apologeten des NATO-Krieges gegen Jugoslawien, von Tony Blair und Bill Clinton bis zu Scharping und Fischer, handelten jetzt gemäß der Devise des früheren US-Präsidenten Teddy Roosevelt: „Jemand mag ein Schurke sein, entscheidend ist, er ist unser Schurke.“ Noch am 7. September – der Terror der Milizen war in vollem Gange – hieß es in London, man erwäge keine Sanktionen gegen Jakarta, da diese »ineffektiv« seien. Statt dessen favorisierte man eine »quiet diplomacy« – hinhaltend und überdies mit mickrigem Budget. Dieses Dulden von Staatsterror ist Ausdruck dessen, was Anthony Lewis in der International Herald Tribune (8.9.99) zutreffend „Kissingerschen Realismus“ nannte.

Ein Blick zurück

Henry Kissinger, seinerzeit Außenminister, und US-Präsident Gerald Ford weilten in diesem Dezember 1975 in Jakarta auf Staatsvisite, wo Ex-General und Präsident Suharto sie über die unmittelbar bevorstehende (widerrechtlich mit US-Waffen gestützte) Invasion Osttimors unterrichtete. Zurück in Washington erklärte Kissinger vor seinem Stab im State Department: „Ich weiß, was das Gesetz ist. Doch kann es in unserem nationalen Interesse liegen (…), den Indonesiern die Zähne einzuschlagen?“ (ebd., S. 6) Er hatte Suharto zu einem »quick fix« gedrängt: Wenn schon eine Invasion, dann auf schnellst möglichem Wege.

Mit Jakarta ließen sich vorzüglich Geschäfte machen und mit von der Partie war von Anfang an die Bundesrepublik. „Der nach dem Ausscheiden Sukarnos begonnene Wandel in Staat und Gesellschaft“, hatte bereits das Düsseldorfer Handelsblatt (6.1.70) früh und in Erwartung lukrativer Geschäfte euphemistisch kommentiert, „ist in Indonesien noch nicht abgeschlossen. (…) Immerhin verfügt Suharto neben javanischer Geschmeidigkeit und Geduld auch über taktisches Gespür und notfalls Entschlossenheit, wie er das bei der Ausschaltung seines Vorgängers hinlänglich bewiesen hat.“ Eine nicht unwesentliche Rolle spielte dabei die Zusammenarbeit im Rüstungssektor. Aus der Bundesrepublik fand massenhaft militärisches Gerät den Weg nach Indonesien, von Fregatten aus Beständen der früheren Nationalen Volksarmee bis hin zu Maschinenpistolen der Firma Heckler & Koch. Hubschrauber vom Typ BO-105 der Firma Messerschmitt-Bölkow-Blohm (MBB) werden unter deutscher Lizenz im Lande selbst gefertigt. (Kampf-)Uniformen ließ die Bundeswehr in der javanischen Textilfirma Sritex zu Billigstkonditionen nähen. Der an der Technischen Hochschule Aachen ausgebildete germanophile MBB-Fan, langjährige Technologieminister und Suharto-Intimus Habibie ging mit KritikerInnen derartiger Deals nie zimperlich um. Als namhafte Wochenmagazine in Jakarta 1994 beispielsweise den Ankauf von 39 modernisierungsbedürftigen Kriegsschiffen aus Deutschland bemäkelten – Gesamtsumme: 650 Mio. US-Dollar –, ließ Habibie sie kurzerhand durch das Informationsministerium verbieten.

Langjährig und intensiv unterstützte auch der Bundesnachrichtendienst (BND) die indonesischen Militärs. Der frühere BND-Chef, Reinhard Gehlen, hatte bereits Suhartos Militärputsch und blutigen Machtantritt ganz im Jargon des Kalten Krieges kommentiert: „Der Erfolg der indonesischen Armee, die (…) die Ausschaltung der gesamten kommunistischen Partei mit Konsequenz und Härte verfolgte, kann nach meiner Überzeugung in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.“ (zit. nach: Sendemanuskript von Monitor, WDR/Köln, ausgestrahlt am 10.10.96) Laut Recherchen des selben Fernsehmagazins bildete der BND in der Folgezeit indonesische Agenten in Deutschland aus. Die Geheimdienstkontakte gestalteten sich dermaßen freundschaftlich, dass der BND in der Deutschen Botschaft in Jakarta sogar eine sogenannte »legale Residentur« einrichten konnte. Der Zweck dieser BND-intern FB 70 bezeichneten Residentur: Enge Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst der Suharto-Diktatur.

Über die Bundeswehr und den Bundesgrenzschutz gab's für die fernen FreundInnen – unter dem Vorwand der »Drogenmissbrauchsbekämpfung« – Hilfestellung in Form von Ausbildungskursen für Offiziere an der Bundeswehrakademie Hamburg-Blankenese sowie Spezialtrainings bei der Elitetruppe GSG 9 in Hangelar bei Bonn. Unter anderen hatte dort auch der Schwiegersohn Suhartos, General Prabowo Subianto, 1981 eine Sonderausbildung erhalten. In seine Heimat zurückgekehrt, avancierte Subianto zum Chef der indonesischen militärischen Spezialeinheiten und übernahm zudem das Kommando über das wegen seiner Brutalität gefürchtete »Detachment 81«. Als einer der Drahtzieher von Liquidierungskampagnen gegen Oppositionelle inkriminiert, konnte sich Subianto nach dem Suharto-Rückzug im Sommer letzten Jahres unbehelligt ins Exil nach Jordanien absetzen.

1984 wurde gar ein Kooperationsabkommen über Polizeiausbildung und -technologie abgeschlossen, das auf bundesdeutscher Seite die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) in Eschborn unterschrieb. Damit fiel es unter Entwicklungshilfe, immerhin rangierte Indonesien (mit Indien, Ägypten und der VR China) ganz oben in der Rangliste der meistbegünstigten EmpfängerInnen bundesdeutscher Entwicklungshilfe.

Auch politisch-diplomatisch wurden die Bande zwischen Bonn und Jakarta, insbesondere während der Kohl-Ära, innigst gepflegt. Noch vor drei Jahren, als sich der Ex-Bundeskanzler auf seinen letzten Südost- und Ostasien-Swing begab, war Jakarta eine wichtige Zwischenstation. Galt es doch, die »Männerfreundschaft« (so Kohl über seinen Freund Suharto) beim gemeinsamen Segeln und Angeln publicityträchtig heraus zu streichen. Offensichtlich ist die enge indonesisch-deutsche Kooperation auch sehr schnell und tief ins rot-grüne Bewusstsein eingesickert. Wie sonst erklärt sich, dass ein »Alt-Linker« wie Ludger Vollmer, heute Staatssekretär im AA, ein deutsches Intervenieren in Jakarta wegen der Osttimor-Krise mit dem Hinweis abtat, die Politik solle sich aus reinen Wirtschaftsbeziehungen heraushalten? Anders die BMZ-Chefin Heidemarie Wieczorek-Zeul. Sie mahnte für Osttimor – mit Verweis auf Kosovo – die Unteilbarkeit der Menschenrechten an.

Terror nach
der Volksabstimmung

Als Habibie Anfang des Jahres erstmalig den Plan verkündete, Osttimor binnen weniger Monate in einem Referendum über Autonomie, Unabhängigkeit oder den Verbleib bei Indonesien abstimmen zu lassen, ging es ihm um wirtschaftliche und politische Gründe. Er sah in Osttimor eine zusätzliche ökonomische Belastung und war gleichzeitig gewillt, das wegen der Annexion – zumindest unterschwellige – Negativimage abzustreifen und sich mit Blick auf die bevorstehenden Parlaments- und Präsidenschaftswahlen als demokratischer Erneuerer zu gerieren. Ob das mit den Militärs abgesprochen war bleibt fraglich. Diese wie auch die Tochter des charismatischen Staatsgründers Sukarno, Megawati Sukarnoputri, fühlen sich der jahrelang gültigen »dwi fungsi«-Doktrin verpflichtet. Demnach kommt dem Militär eine Doppelfunktion zu: Im Inneren wirkt es sozialpolitisch im Sinne von Ruhe, Ordnung und Stabilität und garantiert gleichzeitig als Wahrer nationaler Integrität und Souveränität den unbedingten Zusammenhalt des Staatsverbandes. Zwar opponierten die Streitkräfte nicht offen gegen Habibie, unternahmen allerdings hinter den Kulissen alles, um ein eventuelles Unabhängigkeitsvotum durch gezielte Störung und Destabilisierung zu unterlaufen und eine tatsächliche Unabhängigkeit Osttimors auf Dauer zu verunmöglichen. Bereits Monate vor dem – mehrfach verschobenen – Referendum haben die FührerInnen des aus sämtlichen gesellschaftlichen Schichten Osttimors gebildeten Widerstandsrates auf eine angemessene UN-Repräsentanz gedrängt – ein Wunschtraum wie sich fatalerweise herausstellen sollte.

Die Crux: Zwar bezogen internationale BeobachterInnen der UN-Mission in East Timor (UNAMET) in Dili Quartier, doch bereits zehn Monate vor dem Referendum gingen »integrationistische« – sprich: proindonesische – Milizen gegen alle vor, die verdächtigt wurden, gegen die fortgesetzte Herrschaft Jakartas zu votieren. Makaber war überdies, dass ausgerechnet die indonesischen Streiträfte mit der ordnungsgemäßen Überwachung des Referendums betraut wurden! Als diese ihre gedungenen Schergen aufstachelten (von der BBC durch mitgeschnittene Funkgespräche zwischen beiden Parteien einwandfrei belegt), Dili zu entvölkern, Tausende abzuschlachten und über 300.000 Menschen gewaltsam in die Berge oder nach Westtimor zu treiben, stellte sich die »westliche Wertegemeinschaft« taub und sah keinen Handlungsbedarf. Obwohl die UNAMET in ihrem Lagebericht vom 11. September, also zwei Wochen nach dem Referendum, zu folgender Einschätzung gelangt war: „Die direkte Verbindung zwischen Milizen und (indonesischen; R.W.) Militärs steht außer Zweifel und wurde von Unamet während der letzten vier Monate in erdrückender Deutlichkeit dokumentiert. Doch Ausmaß und Intensität der Verheerungen, die Osttimor während der vergangenen Woche erlebt hat, demonstrierten ein neues Niveau der offenen Beteiligung des Militärs an Operationen, die vormals eher verdeckt durchgeführt wurden.“ „Da das Pogrom vorauszusehen war“, schrieb der indonesische Historiker John Roosa am 15. September in der New York Times, „hätte man es leicht verhindern können. Aber in den Wochen vor der Abstimmung weigerte sich die Clinton-Regierung, mit Australien und anderen Ländern über eine internationale Truppe zu diskutieren. Selbst nach dem Ausbruch der Gewalt zögerte die Regierung noch mehrere Tage lang“, während UN-Generalsekretär Kofi Annan Indonesien lediglich empfahl, seinen Pflichten nachzukommen. „Die US-Luftwaffe“, schrieb Noam Chomsky in seinem Essay »Unversöhnliche Erinnerung« für die deutschsprachige Oktober-Ausgabe von Le Monde diplomatique, „die in Jugoslawien zivile Ziele punktgenau vernichten konnte, sah sich außerstande, Nahrungsmittel für hungernde Menschen abzuwerfen, die vom Terror der indonesischen Streitkräfte in die Berge getrieben wurden – von Truppen also, die von den USA und ihren Verbündeten ausgerüstet und ausgebildet werden. (…) In den Monaten vor dem August-Referendum wurden nach glaubwürdigen Kirchenquellen 3.000 bis 5.000 Menschen umgebracht. Das wären doppelt so viele Tote wie im Kosovo in der Periode vor den NATO-Bombenangriffen und sogar viermal so viel, wenn man es in Relation zur Gesamtbevölkerung setzt. Der Terror war umfassend und sadistisch und sollte warnend darauf hinweisen, was jeden erwartete, der den Befehlen der Besatzungsarmee zu trotzen wagte“. (S. 7)

Nachdem die Milizen, aufgestachelt und gedeckt von der indonesischen Soldateska, ihr Unwesen getrieben und dafür Sorge getragen hatten, dass – wenn schon unabhängig – Osttimor auf Dauer politisch ein fragiles Gebilde und ökonomisch ein Schutthaufen bleiben würde, versuchten die Machthaber in Jakarta Zeit zu schinden. Erst nachdem das Militär die Gelegenheit zur Bereinigung seiner gröbsten Blut- und Plünderspuren hatte, stimmten sie der Entsendung von UN-Truppen zu. Als ab dem 20. September die ersten Kontingente der bis zu 7.500 Soldaten umfassenden multinationalen Friedenstruppe (INTERFET) unter dem Kommando des australischen Vietnam-Veteranen Generalmajor Peter Cosgrove anlandeten, mussten sie sich zuvörderst als Vermesser des Grauens betätigen. Das Gros der Schlächter hatte sich derweil ins benachbarte indonesische Westtimor abgesetzt, die dorthin verjagten OsttimoresInnen als Manövriermasse drangsalierend und von dort aus die nächsten Schritte einer gezielten Destabilisierung der Region planend.

Die australische »Schutzmacht«

„Sollten die Osttimoresen sich für die Unabhängigkeit entscheiden, wird die UNO Zug um Zug die Verantwortung für das Gebiet übernehmen und dazu gehört auch irgendein Sicherheitsarrangement“, hatte Australiens Außenminister Alexander Downer vor dem Referendum erklärt. Doch gleichzeitig weigerte sich Canberra, ein solches Sicherheitsarrangement zum Schutz der bereits von den Militärs und ihren Milizen in die Zange genommenen osttimoresischen Zivilbevölkerung zu treffen. Angeblich sollte der Eindruck vermieden werden, man bezöge Position für die FRETILIN – ein fadenscheiniger Vorwand angesichts der Tatsache, dass die FRETILIN nie umworben worden war. Die autralischen KritikerInnen der indonesischen Osttimor-Politik können davon ein Lied singen, ihre Berichte über die Geschehnisse in Osttimor wurden häufig zensiert oder gar nicht erst veröffentlicht. Im letzten Vierteljahrhundert gab es viele Situationen, in denen eine humanitäre Intervention für die Belange notwendig gewesen wäre, doch seit der Annexion Osttimors haben sämtliche australischen Regierungen alles getan, um sich mit Jakarta ins Benehmen zu setzen und aus Rücksicht auf florierende Wirtschaftsbeziehungen keine Verstimmung wegen Osttimor aufkommen zu lassen. Nicht zuletzt mit Blick auf die gemeinsame Erschließung entdeckter Erdölquellen gestaltete sich ein inniges bilaterales Verhältnis. Wenn Canberra heute seine Indonesien-Liebe zugunsten einer Osttimor-Fürsorge preisgibt, so erweckt das sehr den Eindruck von »Fassadenreinigung« mit Blick auf die Olympiade im nächsten Jahr.

Ausgebliebene Krisenprävention – düstere Friedensperspektiven

Kläglich versagt haben in diesem Konflikt sowohl die UN als auch die »westliche Wertegemeinschaft«. Deren jahrelanges Tolerieren der indonesischen Okkupation Osttimors hat Jakarta in seiner Einschätzung bestärkt, dass beide keine Politik durchsetzen die gegen seine Interessen gerichtet ist. Von einem diktatorischen Regime und seiner Soldateska schließlich das Plazet zur Stationierung einer Friedenstruppe zu erbitten – diese Geste hätte im Falle des Kosovo als abstrus gegolten. „Möglicherweise hätten bereits vor dem Referendum stationierte Ordnungskräfte einen Ausbruch der Gewalt in Osttimor verhindern können“, schreibt der Züricher Völker- und Staatsrechtler Daniel Thürer, „Jakarta hatte das zwar stets abgelehnt, völkerrechtlich hätten solche Kräfte wohl aber auch ohne die Zustimmung Indonesiens entsandt werden können. Mit dem dafür benötigten Personal in der Hinterhand hätte Kofi Annan druckvoller gegenüber der indonesischen Regierung argumentieren können, der präventiven Stationierung einer Polizeitruppe zuzustimmen.“ (zit. nach: Entwicklung & Zusammenarbeit 10/99, S. 285, Berlin (Okt.) 1999) Osttimor, so Thürers Fazit, „ist ein weiteres Lehrstück dafür, dass den Menschenrechten, der Demokratie und dem humanitären Völkerrecht nicht erst dann der nötige Respekt gezollt werden darf, wenn es bereits zu spät ist.“

Die demokratisch eindrucksvoll unterstützte FRETILIN bleibt mit einem Sieg konfrontiert, um den sie keiner beneidet. Das Ausmaß der Zerstörung ist riesig. Und selbst wenn ihr Weg nach etwa dreijähriger UN-Treuhandschaft in die Unabhängigkeit führt, bleibt sie in dem Dilemma gefangen, einen eigenen Verwaltungsapparat und ein eigenes (Aus-)Bildungs- und Wirtschaftssystem aufbauen zu müssen. Als langjähriges Objekt externer Kolonialisierung und interner Kolonisierung ist aber nahezu der gesamte Handels- und Wirtschaftssektor Osttimors von Geschäftsleuten aus Sulawesi, Java und anderen Inseln dominiert, die ihre Pfründe nicht kampflos preisgeben werden.

Dr. Rainer Werning ist Vizepräsident des International Forum for Child Welfare (Genf) und Geschäftsführer der schwerpunktmäßig in den Südphilippinen engagierten Stiftung für Kinder (Freiburg i.Br.)

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2000/1 Der schwierige Weg zum Frieden, Seite