Keine wahre Revolution ohne feministische Vision
Das Beispiel der algerischen Bewegung El-Hirak
von Lilly Roll-Naumann
Eine revolutionäre Bewegung strebt klassischerweise den Sturz der Regierung oder des Staates an – so ein häufiges Narrativ. Dieses staats- und strukturfokussierte Verständnis von Revolution unterwandern Frauen und feministische Aktivist*innen. Sie bringen ein subversives und transformatives Potential in die Bewegungen, die Gesellschaft umfassend und nachhaltig zu verändern. Das Beispiel feministischer Stimmen in der algerischen revolutionären Bewegung El-Hirak verdeutlicht, inwiefern der revolutionäre Anspruch der Bewegung ohne diese Stimmen unvollständig bliebe.
Der Beginn der 2010er Jahre war im Nahen Osten und in Nordafrika von einer beispiellosen Protestwelle revolutionärer Umwälzung geprägt. Für einen Moment schaute die ganze Welt mit Spannung auf die zivilen Proteste. Ähnlich schnell wurden die Bewegungen jedoch für gescheitert und die Demokratisierung in der Region für begraben erklärt, mit Schrecken wird besonders an die zum Teil noch andauernden Bürgerkriege gedacht. Eine Perspektive, die Erfolg und Scheitern von revolutionären Bewegungen binär, monokausal und linear misst, etwa an „schnellen, grundlegenden Veränderungen der Staats- und Klassenstrukturen einer Gesellschaft“ (Skocpol 1979, S. 4), versperrt jedoch den Blick auf subtilere Veränderungen wie beispielsweise das geschärfte Bewusstsein der Bürger*innen für die Macht kollektiven Handelns (Stephan und Charrad 2020, S. 6).
Acht Jahre nach den Bewegungen des sogenannten »Arabischen Frühlings«1 ereignete sich eine erneute starke Protestwelle in der Region – im Sudan, in Algerien, im Irak und im Libanon. Was bei näherer Betrachtung dieser Proteste auffällt und an die früheren Bewegungen erinnert, ist die Schlüsselrolle, die Frauen darin einnahmen – noch dazu unterschiedlichsten gesellschaftlichen Status und an der Spitze der Proteste. Doch ihre Rolle ging darüber hinaus, den friedlichen Charakter der Proteste aufrecht zu erhalten.2
Denn, wie die syrische revolutionäre Aktivistin Samer Yazbek weiß, „[d]er Sturz der Diktatoren quer durch die arabische Welt markiert den Beginn der wahren Revolution“ (2012, S. 6, Hervorhebung hinzugefügt). Diese liegt in der „Kontinuität des revolutionären Aktivismus, des revolutionären Bewusstseins und der revolutionären Kreativität von Frauen“, so miriam cooke (2016, S. 43). Frauen und Feminist*innen verleihen Revolution eine Dimension, die das populäre Verständnis von revolutionärem Wandel im Sinne einer umfassenden und nachhaltigen Transformation von Gesellschaft und Mentalitäten vertieft. Ohne ihre Beteiligung sind zivile Widerstandsbewegungen mit revolutionär-transformatorischem Anspruch unvollständig.
Dies wurde auch in der algerischen revolutionären Bewegung El-Hirak deutlich, die im Februar 2019 aus Protest gegen die fünfte Amtszeit des seit 20 Jahren regierenden Präsidenten Abdelaziz Bouteflika begann und sich bald zu einer Bewegung entwickelte, die einen vollständigen Regimewechsel forderte. Die wöchentlichen Proteste hielten über ein Jahr lang an, bis die Covid-19-Pandemie und deren Instrumentalisierung durch das Regime die Bewegung von der Straße ins Internet verdrängte, wo sich die Verfolgung und Kriminalisierung von Aktivist*innen fortsetzte. Letztlich überdauerte das autoritäre Regime und konsolidierte sich, während die Bewegung heute weitreichend als stark geschwächt bis „verschwunden“ (Martinez und Boserup 2024) betrachtet wird.
Frauen im ganzen Land beteiligten sich in großem Umfang an der Protestbewegung. Einerseits war das in einem stark patriarchal geprägten Land, in dem Frauen auf vielen Ebenen der Gesellschaft marginalisiert werden, für viele eine Überraschung. Andererseits hat das Engagement algerischer Frauen eine lange Tradition, die schon bis zum anti-kolonialen Kampf zurückreicht. Die feministische Bewegung innerhalb des Hirak zeigte sich als politischer Akteur der revolutionären Bewegung sehr aktiv und verband den Kampf für Geschlechtergerechtigkeit mit dem Kampf für einen Regimewechsel.
Ich möchte am Beispiel des Hirak illustrieren, welche Rolle feministische Stimmen darin durch die Formulierung der Vision eines „Gesellschaftsprojekt[es]“ (B, 79) im Sinne einer umfassenden und nachhaltigen Transformation spielten. Der Kampf von Frauen und feministischen Aktivist*innen um die Akzeptanz ihrer Präsenz gegen Widerstände war gleichzeitig der Kampf für eine Vision, die der repräsentativen und inhaltlichen Selbstkonzeption der revolutionären Bewegung entsprach. Ihr Kampf garantierte, dass die Bewegung im Einklang mit ihrem ideellen Selbstbild blieb. Die Erkenntnisse basieren auf der Analyse von sieben Interviews mit vier algerischen feministischen Aktivistinnen innerhalb der Hirak-Bewegung zwischen Dezember 2019 und Januar 2020. Die Interviewdaten sind eingebettet in Beobachtungen aus einer sechsmonatigen Feldforschungsphase von Mai bis November 2019.
Doppelter Kampf um Akzeptanz in der Bewegung
Um den Kampf der revolutionären Bewegung an der Seite der männlichen Hälfte der Gesellschaft austragen zu können, mussten Frauen erst die Akzeptanz ihrer Präsenz im öffentlichen Raum und in der patriarchalen Gesellschaft erkämpfen. Meine Interviewpartnerin Manel B.3 bezeichnete das Verwandeln des Protestfreitags in einen „gemischte[n] Tag, an dem Frauen rausgehen und Männer auch rausgehen“, als eine „Niederlage des Konservatismus“ (B, 101). Dieser Akt des Widerstands gegen das Patriarchat erwies sich insbesondere in kleinen traditionellen Städten als außergewöhnlich, „wo die gemischte Gesellschaft zwar sichtbar, aber fast verboten ist“ (A III, 121). Die revolutionäre Präsenz von Frauen repräsentierte meinen Interviewpartnerinnen zufolge ihre „Entscheidung, vollwertige Bürgerinnen zu sein und zu werden“ (ebd., 14). Ihre Forderungen waren somit dieselben wie die der Gesamtbewegung, „mit einer einzigen Besonderheit […]: als Bürgerinnen anerkannt zu werden und Gleichstellung konkretisiert zu sehen“ (D, 33). Die Wiederaneignung der Staatsbürgerschaft war Ausdruck eines inneren Prozesses der Selbsterkenntnis, infolgedessen Frauen ihre Teilnahme an einer Demonstration nicht mehr zur Debatte stellten und ihren Familien gegenüber impulsiv mit den Worten erklärten: „Ich bin eine Bürgerin, ich bin betroffen“ (B, 102). Dasselbe galt in Beziehung auf die Gesellschaft:
„Jedes Mal, wenn es einen Aufruf in den sozialen Medien gibt, in dem es heißt: ‚Frauen haben auf der Straße, im Hirak nichts zu suchen!‘, ‚Lass deine Schwester nicht rausgehen!‘, ‚Lass deine Tochter nicht rausgehen!‘ – und die Reaktion kommt sogar von Frauen, die gegen die feministische Bewegung sind. Die Reaktionen sind außergewöhnlich: ‚Nein! Nein! Nein!‘“ (ebd., 107)
Die feministische Bewegung kämpfte im Hirak ebenfalls einen „doppelten Kampf: einen Kampf für den allgemeinen Kampf, wo sich alle einig sind – den Kampf, wo wir das System weghaben wollen. [Und] den individuellen Kampf – nun, nicht individuell – den spezifischen Kampf der feministischen Bewegung. Unseren Kampf als Frauen“ (ebd., 73). So wurde etwa das »carré féministe«, der feministische Block im Protestmarsch in Algier, bedroht und angegriffen (A III, 31-36). Doch „[d]ie Angriffe begannen nicht auf der Straße“ (B, 75) und „nicht nur in dem, natürlich, was man über die islamistische Bewegung weiß, von Seiten der Konservativen, von Seiten der repressiven Machthaber – aber Achtung – sogar auch viel innerhalb dessen, was man für die demokratische Bewegung oder die progressive Bewegung hält“ (A III, 94).
Wie in der Vergangenheit wurde der feministischen Bewegung die historisch bekannte Ablenkungsphrase präsentiert, es sei „nicht der richtige Zeitpunkt“ (B, 58-61), mit der Frauen schon während des Aufbauprozesses der Nation nach dem Unabhängigkeitskrieg „geopfert wurden“ (ebd.). Dies wurde besonders deutlich, als ihre Bemühungen, Frauenrechte im Fahrplan für einen demokratischen Übergang zu verankern, innerhalb des entsprechenden zivilgesellschaftlichen Kollektivs blockiert wurden. Als der Begriff »Gleichberechtigung« unter dem Vorwand, einen politischen Konsens schaffen zu wollen, vollständig aus dem endgültigen Konsenstext der nationalen Konferenz »Consenus Élargi« gestrichen wurde (A III, 53), „handelte“ (ebd., 78) die feministische Bewegung. Vertreten durch eine Reihe von Frauenorganisationen, boykottierte sie die Konferenz in letzter Minute, was „die Mediatisierung und Sichtbarkeit der Forderungen der Frauen erhöhte“ (ebd., 76-79).
Manel B. beschrieb die in der Bevölkerung wachsende Akzeptanz der Selbstkonzeption der feministischen Bewegung im Hirak als ein erstes zentrales Ergebnis ihres doppelten Kampfes:
„Es gab eine Entwicklung […] Das Wort ‚Feminist*innen‘, in den Anfängen des Hirak war es wirklich: ‚Was ist das?‘, ‚Das ist eine fremde Hand!‘, ‚Das ist etwas, das aus dem Ausland kommt, aus dem Westen!‘, dies und das. Jetzt [sagen] alle, auch die, die uns hassen: ‚Die algerischen Feminist*innen.‘ Das war‘s.“ (ebd., 82)
Forderung nach Unabhängigkeit bleibt doppelt unerfüllt
Die revolutionäre Bewegung rahmte ihren Protest als den Kampf für eine zweite Unabhängigkeit durch einschlägige Sprechchöre, Banner und eine symbolische Omnipräsenz der algerischen Nationalflagge. Worte wie die eines Graffitis in Algier-Centre illustrierten dies: „1962 indépendance du sol, 2019 indépendance du peuple“ (1962 Unabhängigkeit des Bodens, 2019 Unabhängigkeit des Volkes). Die Bewegung brachte damit ihre Forderung nach Freiheit und Würde zum Ausdruck – dem uneingelösten Versprechen, das die Staatsbürgerschaft für das algerische Volk nach der Unabhängigkeit enthielt. Für Frauen blieb es in doppeltem Sinne unerfüllt. So wurden sie nach der Revolution zweifach um ihre vollwertige Staatsbürgerschaft betrogen – als Algerierinnen im neuen Staat und als Frauen. Während Frantz Fanon argumentierte, dass der algerische Unabhängigkeitskrieg die patriarchale Familienstruktur erschüttert hätte und das Ende der patriarchalen Strukturen markiere (1967, Kap. 3), widerlegen die tatsächlichen Ereignisse nach der Unabhängigkeit diese These. „Im Krieg waren wir alle gleich – erst danach wurde uns die Staatsbürgerschaft entzogen“, berichtete eine ehemalige »moudjahida« (weibliche Unabhängigkeitskämpferin, zitiert in Turshen 2002, S. 893). Eine „klassische Tendenz in Revolutionen“ (Bouatta 1997, S. 2) ist der Glaube, dass die Befreiung, die das Ziel einer bestimmten Revolution ist, weitere Freiheiten mit sich bringen würde, auch für Frauen. Für Algerien gilt: Zwar erhielten Frauen einige Positionen im Parlament und in anderen gesellschaftlichen Bereichen, doch blieben diese symbolisch. „Ein langsamer Rückschritt des weiblichen Zustands […] gipfelte in der Verabschiedung des Familiengesetzes im Juli 1984“ (ebd. 1994, S. 23). Dieser auf der islamischen Scharia basierende Gesetzestext verlieh Frauen einen untergeordneten Status gegenüber Männern. Cherifa Bouatta beschreibt dies als einen rechtlichen Dualismus, der den Status der Frauen „einerseits als Bürgerinnen gemäß der Verfassung, dem Strafgesetzbuch und der Arbeitsgesetzgebung“ und andererseits als „Minderjährige unter männlicher Vormundschaft gemäß dem Familiengesetzbuch“ institutionalisierte (1997, S. 6).
Die Forderung der feministischen Bewegung innerhalb des Hirak war somit eine historische. Entsprechend ordnete sich ihr Kampf in ein historisches „Kontinuum“ (A III, 109) für den Wandel kämpfender algerischer Frauen ein: „Wir sprechen von einem Erbe des Kampfes der Frauen in Algerien. Sie sind Heldinnen, die Schlachten gegen den Kolonialismus geschlagen haben. Selbst während der Revolution haben sie ihre Gleichberechtigung durch ihre Präsenz hergestellt, sie haben sie demonstriert“ (A II, 45, zitiert nach Gedächtnisprotokoll). Meine Interviewpartnerin Farida A. hob besonders zwei Etappen hervor: die Kämpfe gegen die koloniale Eroberung vor und während des Befreiungskriegs und den weiblichen und feministischen Widerstand gegen den islamistischen Terror der 1990er Jahre (ebd. III, 104-105; 119). Den Kampf von Frauen und Feminist*innen im Hirak konzipierte sie als dritte Etappe zur Illustration des historischen Kontinuums (ebd., 104). Indem die feministische Bewegung ihre revolutionäre Präsenz in einem historischen Kontinuum kämpfender algerischer Frauen konstruierte, unterstreicht sie die Legitimität der weiblichen Präsenz und der feministischen Forderung in der Hirak-Bewegung.
Keine wahre Revolution ohne Frauen und feministische Komponente
Die Präsenz von Frauen und die feministische Vision war für die Selbstkonzeption der revolutionären Bewegung in repräsentativer wie inhaltlicher Hinsicht essentiell. Für deren Selbstverständnis war es zentral, von „dem Volk“ auszugehen, da dieses im Mittelpunkt des identitätsstiftenden Narratives eines Kampfes für eine zweite Unabhängigkeit stand. Frauen und Feminist*innen waren es, die dafür sorgten, dass die Bewegung in Hinsicht auf Geschlecht tatsächlich „das Volk“ repräsentierte und nicht nur einen Teil davon. Hadjer D. beschrieb dies folgendermaßen:
„Es waren die Frauen, die etwas bewirkt haben […]. [Sie] haben dem Hirak durch ihre Präsenz eine andere Dimension verliehen. In einer konservativen Gesellschaft gibt es nicht nur Männer. […] Die Frauen sind da, sie sind auf der Straße, sie haben den öffentlichen Raum besetzt. Und es ist nicht der Hirak, der ihnen den öffentlichen Raum gegeben hat.“ (ebd., 28)
Die Hirak-Bewegung wurde auch als „la révolution citoyenne“ (die Bürgerrevolution, wortwörtlich: die bürgerliche Revolution) bezeichnet, was das Selbstverständnis der Bewegung als bürgerschaftliche Bewegung widerspiegelt. Dieses beinhaltet einerseits die Tatsache, dass sie von Bürger*innen geführt wurde – gegen den Widerstand eines Militärs, das sich „der Entstehung der Bürgerschaft widersetzt, indem es die Zivilgesellschaft erstickt“ (Addi 2012, S. 112) und inmitten der „sozialen Pathologie [eines] Staates“, dessen „politisches System gegenüber der verantwortungsvollen Beteiligung der Bürger*innen verschlossen [ist]“ (Kedidir 2020, Abs. 6). Darüber hinaus umfasst es den Bürgersinn, den die Bewegung in ihrer Haltung und Praxis verkörperte. Farida A. sprach im Interview von dem „Geist der Bürgerrevolution“, der auf der Verhaltensebene wirkte und Mitglieder dazu anregte, „im Einklang [mit ihm] zu sein“ (ebd. III, 47). Sara C. konzipierte dies als neu entwickeltes „staatsbürgerliches Bewusstsein“ (ebd., 63), in dessen Sinne Mitglieder einen Wandel „im Einklang mit [ihren] aktuellen Ambitionen“ (ebd.) forderten: nicht nur auf der Ebene von Strukturen, sondern auch von Gesellschaft und Mentalität (ebd.). Grundlegend für diesen Bürgersinn war praktizierte Toleranz, die Frauen und Feminist*innen im revolutionären Raum lebten und durch ihre Präsenz einforderten:
„Was passiert ist, ist, dass wir […] gezwungen waren, uns gegenseitig zu akzeptieren. Wir waren gezwungen, für die Sache toleranter zu werden. Zugegeben, es gibt frauenfeindliche Männer, es gab Konservative, es gibt Leute, die Islamisten sind, aber […] wir haben eine gemeinsame Sache zu erreichen. Das ist ein Wandel.“ (ebd., 40)
Zweites wesentliches Element des Bürgersinns und des zivilen Selbstverständnisses der Bewegung war die „berühmte silmiya [Friedlichkeit]“ (A III, 9): „Markenzeichen, Geburtsurkunde und Ausweis der algerischen Bewegung“ (ebd., 10). Die Vorstellung, dass Frauen eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung des friedlichen Charakters der Proteste spielten, ist weithin anerkannt (ebd., 11). So wurde die Präsenz von Frauen in der Bewegung einerseits als „wichtiges Mittel zur Aufrechterhaltung der (…) silmiya“ (ebd., 9) und andererseits als „massive Abschreckungswaffe gegen die Repression“ (ebd., 8) bezeichnet. In diesem Verständnis erwiesen Frauen sich als unerlässlich für das Überleben der revolutionären Bewegung durch ihre friedensstiftende Wirkung in die Bewegung hinein wie nach außen.
Die feministische Bewegung kämpfte dafür, dass die revolutionäre Bewegung „im Einklang mit dem Geist der Bürgerrevolution“ (ebd., 47) blieb. Mit dem Verweis auf die Forderung der Hirak-Bewegung nach Demokratie deckten die interviewten Aktivistinnen die Widersprüche zwischen den Forderungen der Demonstrant*innen und ihren Einstellungen und Verhaltensweisen auf:
„Viele sagen ‚El Djazaïr horra dimocratiya‘ – ‚Freies und demokratisches Algerien‘, aber ohne zu wissen, was diese Demokratie für einige bedeutet. Ist es möglich, eine Demokratie zu haben, während man Homosexuelle diskriminiert, während man Frauen diskriminiert, während man dieses oder jenes Mitglied der Gesellschaft diskriminiert?“ (B, 74)
Farida A. beschrieb im Interview einen vergleichbaren Erkenntnisprozess bei Männern, die „im Einklang mit dem Geist der Bürgerrevolution [sein wollten und] urteilten […], dass sie nicht Meinungs- und Informationsfreiheit fordern […] und Frauen [gleichzeitig] ihre Unterstützung oder Solidarität verweigern konnten, die zu Unrecht angegriffen wurden, weil sie Gleichberechtigung forderten“ (ebd. III, 47). Die feministische Bewegung unterstrich, dass ihre Forderungen sich komplett in den demokratischen Geist der revolutionären Bewegung einordneten: „Die Forderungen sind dieselben. […] Wir wollen einen demokratischen Staat, es ist in diesem demokratischen Staat, dass Freiheit und Gleichheit garantiert werden müssen“ (D, 33). Entsprechend konstruierte sie ihre physische Präsenz in Form des »carré féministe« „ganz in die Bewegung eingeschrieben“ (A I, 92), wo sie zu einem Ort wurde, „der vereinend sein könnte […] und eine Bedeutung haben könnte in dieser Konstruktion der Staatsbürgerschaft für Frauen, natürlich, aber warum nicht auch Staatsbürgerschaft für Frauen und Männer zusammen“ (ebd. III, 30) – „um zu demonstrieren, dass die Frauenfrage [lacht], [nicht] nur den Frauen gehört“ (ebd., 50).
Die feministische Bewegung im Hirak verdeutlichte die Verwobenheit des revolutionären und des feministischen Kampfes, indem sie rhetorisch wie praktisch demonstrierte, dass die Forderung nach Gleichberechtigung in den revolutionären Anspruch eingebettet sein muss. Weibliche Handlungsmacht und der feministische Kampf wurden so praktisch vorgelebt und gleichzeitig zur Bedingung für die Erfüllung des demokratischen Versprechens der Hirak-Bewegung im revolutionären Prozess selbst sowie in der postrevolutionären Zukunft. Dieses Beispiel illustriert eindrucksvoll: Ohne feministische Perspektive weist das Verständnis zivilen Widerstands blinde Flecken auf, ebenso wie große gesellschafts-transformatorische Bewegungen ohne feministische Komponente inkonsequent und in sich unvollständig bleiben.
Anmerkungen
1) Die Bezeichnung »Arabischer Frühling« ist problematisch, da sie eine homogene arabische Bevölkerung in einer großen, ethnisch heterogenen Region suggeriert. Darüber hinaus impliziert die Metapher, dass die Menschen in der Region aus einem Winter ohne Widerstand und Anfechtungsmobilisierung aufgewacht seien (Beinin und Vairel 2013, S. 8f.).
2) In 99 % der mittels des »Women in Resistance«-Datensatzes untersuchten gewaltfreien Kampagnen waren Frauen an vorderster Front beteiligt. Je größer ihre zahlenmäßige Beteiligung, desto größer die Korrelation mit gewaltfreien Methoden, selbst in sehr repressiven Kontexten (Chenoweth 2019, S. 1f.).
3) Die Namen der Interviewpartnerinnen wurden geändert, um ihre Identität zu schützen.
Literatur
Addi, L. (2012): Algérie: Chroniques d’une expérience postcoloniale de modernisation. Algier: Barzakh.
Beinin, J.; Vairel, F. (2013): Introduction: The Middle East and North Africa beyond classical Social Movement Theory. In: Dies. (Hrsg.): Social movements, mobilization, and contestation in the Middle East and North Africa (2. Aufl.). Stanford: Stanford University Press, S. 1-29.
Bouatta, C. (1994): Feminine militancy: Moudjahidates during and after the Algerian War. In: Moghadam, V. M. (Hrsg.), Gender and national identity: Women and politics in Muslim societies. London: Zed Books, S. 18-39.
Bouatta, C. (1997): Evolution of the women’s movement in contemporary Algeria: Organization, objectives and prospects. The United Nations University, WIDER Working Papers 124.
Chenoweth, E. (2019): Women’s participation and the fate of nonviolent campaigns: A report on the Women in Resistance (WiRe) data set. Broomfield: One Earth Future Foundation.
cooke, m. (2016): Women and the Arab Spring: A transnational, feminist Revolution. In: Sadiqi, F. (Hrsg.): Women’s movements in post-“Arab Spring” North Africa. New York: Palgrave Macmillan US, S. 31-44.
Fanon, F. (1967 [1959]): A dying colonialism (Chevalier, H., Übers.). New York: Groove Press.
Kedidir, M. (2020): Le Hirak : Les marches pour la « reconnaissance ». Insaniyat 87, S. 93-110.
Martinez, L.; Boserup, R. A. (2024): Introduction – The disappearing of Algeria’s Hirak. In: Dies. (Hrsg.): The disappearing of Algeria’s Hirak. Paris: Les Dossiers du CERI, S. 8-19.
Skocpol, T. (1979): State and social revolutions. Cambridge: Cambridge University Press.
Stephan, R.; Charrad M. (2020): Introduction: Advancing women’s rights in the Arab world. In: Dies. (Hrsg.): Women rising: In and beyond the Arab Spring. New York: New York University Press, S. 1-12.
Turshen, M. (2002): Algerian women in the liberation struggle and the civil war: From active participants to passive victims. Social Research 69(3), S. 889-911.
Yazbek, S. (2012): A woman in the crossfire: Diaries of the Syrian Revolution. London: Haus Publishing.
Lilly Roll-Naumann, M.A. Peace and Conflict Studies, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Konfliktakademie »ConflictA« am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld. Sie forscht zu gewaltfreier Konflikttransformation, Dialog und Dialogformaten und lässt die Erkenntnisse in die eigene Trainings- und Formatentwicklung einfließen.
Kurzprofil: Konfliktakademie ConflictA
Die Konfliktakademie »ConflictA« ist ein vom BMBF finanziertes Projekt am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld (seit 2023). Unter dem Leitsatz „Konflikte beforschen, besprechen, bearbeiten und daraus lernen“ entsteht in stetig wachsendem Austausch mit zivilgesellschaftlichen Akteuren ein Ort der Verständigung über gesellschaftliche Konflikte in Deutschland – auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse.
Die ConflictA betrachtet, wie sich globale Krisen in lokale Konflikte übersetzen und wie gesellschaftliche Veränderungen in und durch Krisen und Konflikte verlaufen. Sie erforscht dabei u.a. Fragen nach den sozial-kulturellen und politisch-institutionellen Bedingungen gesellschaftlicher Konflikte und deren Aushandlung.
In einer transdisziplinären, partizipativen Arbeitsweise trägt die ConflictA dazu bei, Konfliktverständnis und -fähigkeit der Menschen in der Gesellschaft zu fördern. Sie entwickelt Ansätze der Konfliktbearbeitung und vermittelt Konfliktwissen und -kompetenz.
Dialogformate und Ansätze zur Jugendpartizipation sind dabei ebenso Teil der Konfliktakademie wie eine Befragung zu Konfliktverständnissen in der Bevölkerung oder die wissenschaftliche Begleitung kommunaler Konfliktbearbeitung.